Die Nervosität der Ermittlungsbehörden kann man sich vorstellen, wenn im Mordfall Lübcke der dringende Verdacht Gewissheit werden sollte, dass es sich hier möglicherweise um die Tat eines Mannes aus einer terroristischen Szene analog des NSU handelt, der den Behörden bekannt war. Noch einmal will und darf man hier nicht so furchtbar daneben liegen, wie die Verdächtigungen bei den Morden des NSU bis dahin gingen, dass es sich möglicherweise um Mafia-Morde gehandelt haben sollte. Damals eine fatale Fehleinschätzung. Wäre man schneller auf der richtigen Spur gewesen hätten möglicherweise Menschenleben gerettet werden können.
Am 11. Juni gibt das Polizeipräsidium Nordhessen-Kassel eine Pressemitteilung heraus mit folgender Überschrift: „POL-KS: Tötungsdelikt zum Nachteil von Herrn Regierungspräsidenten Dr. Lübcke: Polizeiliche Maßnahmen in Harlesiel“. Hier wird zunächst von einer Festnahme berichtet, die sich später als falsche Spur erweisen sollte, der Mann wurde wieder freigelassen.
Am Montag nun berichtet die Tagesschau unter der Überschrift: „Militant, rechtsextrem und vorbestraft“ von der Festnahme eines Stephan E.:
»Bei dem dringend Tatverdächtigen im Fall des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke handelt es sich nach Informationen von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ um einen 45-jährigen Mann aus Kassel, der ursprünglich aus Bayern stammt. Stephan E. war bereits mehrfach polizeilich aufgefallen und saß in den 1990er-Jahren wegen eines Angriffs auf Geflüchtete in Hessen in Haft – offenbar wollte er eine Sprengstoffexplosion herbeiführen.«
Eine Person also, die, sollte sich der Tatverdacht bestätigen, eine jahrzehntelange terroristische Karriere hingelegt hat, der nicht nur aktenkundig wurde, sondern bereits straffällig, verurteilt und der für seine rechtsextremen Verbrechen im Gefängnis saß. Ein Gefährder also. Aber war er nach seiner Entlassung auch als solcher eingestuft? Und wenn ja, warum funktionierte die Überwachung hier nicht bzw. warum gab es keine? Das sind entscheidende Frage und es drängt sich der Verdacht auf, dass es die wachsende Überforderung des Sicherheitsapparates sind könnte.
Der Verfassungsschutz des Landes Hessen hatte den Mann zuvor den NPD-Strukturen zugerechnet. Und Stephan E. soll laut Tagesschau mutmaßlich auch an einem Überfall von Neonazis am 1. Mai 2009 auf eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund beteiligt gewesen sein. „Diese Attacke war maßgeblich von „Autonomen Nationalisten“ ausgeführt worden, die von einigen Experten damals bereits als potenzielle Rechtsterroristen eingeschätzt wurden.“
Die FAZ und DIE ZEIT berichten über Vorstrafen nach einer Gewalttat, Verbindungen mit Netzwerken wie „Blöd & Honor“, einem Messerattentat, der Nähe zu der Neo-Nazi-Organisation „Combat 18“, deren Zahlenchiffre auf die Buchstaben A und H verweist. Mittlerweile hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen.
Also nochmal: Warum wurde Stephan E. nicht als Gefährder eingestuft und entsprechend rund um die Uhr überwacht oder beispielsweise mit einer Fußfessel belegt, wie das für einige islamistische Gefährder immer wieder gefordert wird?
Für die Bundesanwaltschaft ist aufgrund des Vorlebens des festgenommenen Verdächtigen und „seine öffentlich wiedergegebenen Meinungen und Ansichten“ der Verdacht hinreichend gegeben, dass der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke einen rechtsextremistischen Tathintergrund hat, so ein Sprecher der untersuchenden Behörde.
Woher der dringende Tatverdacht bei Stephan E. rührt? Nach Presse-Informationen soll dem Verdächtigen eine DNA-Probe entnommen worden sein, die mit dem im Fall Lübcke gesicherten Material am Tatort nun eine Übereinstimmung ergeben hat. Besonders bedrohlich: Stephan E. tauchte bereits im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses in Hessen auf. Also ein drittes Mal: Warum wurde Stephan E. nicht als Gefährder eingestuft und entsprechend rund um die Uhr überwacht? Offensichtlich brauchen wir eine Verstärkung der Sicherheit in der Tat und nicht nur auf dem Papier.
Der Regierungspräsident war in der Nacht zum 2. Juni erschossen aufgefunden worden. Die Obduktion ergab später, dass der 65-Jährige aus nächster Nähe erschossen wurde. Lübcke hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Kinder.