Die Empörung der Refugees-Welcome-Fraktion der Twitter-Gemeinde ist groß: Es geht um einen Film, den oder Bilder daraus einige Twitternutzer und auch eine prominente Politikerin ins Netz gestellt haben. Die Handyaufnahme zeigt einen Säbel- oder Machetenmord, so, wie ihn ein geschockter direkter Anwohner des Tatorts von seinem Balkon herunter gefilmt hatte. Der Mord an sich wird in dieser Aufnahme von einem Kleinwagen verdeckt. Sichtbar ist der kahl rasierte Kopf und die Schultern des Täters und wie er immer wieder die Tatwaffe hebt und senkt. Nur durch die Zusatzinformation weiß man, dass dort gerade ein Mann bestialisch ermordet wird. Darf man so etwas trotzdem zeigen? Das wird vielfach verneint. Opferschutz, Täterschutz, häufig auch Jugendschutz werden genannt.
Richtig oder falsch, so etwas online zu stellen? Sicher haben hier Opferschutz und Jugendschutzgründe gewichtige Worte mitzureden. Aber das Internet ist generell nicht jugendfrei, die Schutzfunktionen versagen hier regelmäßig nicht nur im Gewalt- sondern auch im pornografischen Bereich, wenn es nur die „richtigen“ Suchworte braucht, bis beispielsweise eine vollendete Sodomie oder Folterszenen für Kinder und Jugendliche frei zugänglich zu sehen sind. Allerdings darf das keine Rechtfertigung sein. Es geht hier nicht um Gewalt an sich.
Respekt vor dem Opfer ist erheblich und wichtig. Auf der anderen Seite steht hier aber eine unersetzliche Erkenntnis für die Betrachter: Es passiert mitten im Wohnviertel, dort, wo Kindergärten betrieben werden, Menschen einkaufen, miteinander ins Gespräch kommen und ihre Hunde ausführen. Das ist nicht mehr Syrien. Das Grauen aus Aleppo hat Mitteleuropa erreicht. Es geschieht in Deutschland, mitten in Deutschland. In Stuttgart. Es hätte auch wieder in Frankfurt sein können, oder in Ansbach, wo ein ähnlich brutales Verbrechen mit der Axt chinesische Touristen traf. Oder Mainz. In Kandel.
Mal abgesehen von der glatten Unerträglichkeit, einem Mord per Video beizuwohnen, darf hier nicht vergessen werden, dass die Polizei seit Jahren schon darum bittet, den Notruf zu wählen und wenn möglich mit dem Smartphone Videoaufnahmen zu machen, anstatt sich selbst in Gefahr zu begeben. Diese Aufnahmen sind aber nicht nur als gerichtsverwertbares Material von großer Tragweite, sie sind auch ein grausiges Dokument, wie sich ein friedlicher Ort in Sekunden zu einem Ort des Grauens verwandeln kann. Diese Aufnahmen sind wichtig, weil sie die abstrakte Vorstellung zu einem realen Gefühl der Bedrohung umwandeln. Ist das gefährlich? Oder gar unverantwortlich?
Um 10:47 Uhr veröffentlicht das Polizeipräsidium Stuttgart eine gemeinsame Presseerklärung:
„Nach einem Tötungsdelikt in der Fasanenhofstraße (siehe Pressemitteilung vom 31.07.2019) hat die Polizei weitere Erkenntnisse erlangt. Demnach ist der 28-jährige Mann, der nach einer Fahndung als dringend tatverdächtig festgenommen worden ist, in Deutschland als syrischer Staatsbürger registriert. Der Mann hatte offenbar mit dem späteren 36-jährigen Opfer zuvor in einer Wohngemeinschaft an der Fasanenhofstraße zusammengelebt. Die näheren Hintergründe zu einem möglichen Motiv sind aber weiterhin offen. Der Tatverdächtige wird im Laufe des Donnerstags (01.08.2019) mit Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Haftbefehls dem zuständigen Haftrichter vorgeführt.“
Wohngemeinschaft klingt sehr nach studentischem Leben. Nach Lockerheit und viel Alkohol. Aber diese Wohngemeinschaft war ein integrativer Versuch, Flüchtlinge aus den Lagern und Turnhallen in die Gesellschaft zu bringen.
Was wissen wir über das Opfer?
Über das Opfer erfährt man in beiden Pressemeldungen zunächst nichts, also fragen wir nach. Die Pressestelle der Polizei meldet sich binnen Minuten zurück und berichtet, dass das Opfer, das mit seinem Mörder in einer Wohngemeinschaft zusammen wohnte, ein deutscher Staatsangehöriger gewesen sei. War es ein Helfer?
Viele entsetzte Teilnehmer der sozialen Medien aber auch Journalisten wie Alexander Kissler erinnern in dem Zusammenhang auch an den erst gestern gemeldeten grausigen Mord an einer Afghanin mutmaßlich durch ihren afghanischen Ehemann in Dortmund im Stadtteil Lütgen, als der Mann die Frau mit dutzenden Messerstichen regelrecht hingemetzelt, die Leiche in einen Koffer gepackt und im Kofferraum eines Autos verstaut haben soll. Wo diese dann von der Polizei entdeckt wurde, weil der Mord in der Wohnung einer Freundin der Frau passierte, die dort auf die Kinder aufpasste, die den Mord allerdings nicht beobachten mussten. Diese Information trifft auf eine aufgebrachte Stimmungslage, auf die Empörung nach einem Mord an einem Kind im Frankfurter Hauptbahnhof.
Es gibt eine weitere, grausame Wahrheit: Verbrechen, die sich vielfach in abgeschotteten Lagern abgespielt haben und deshalb nicht weniger grausam sind, dringen in den Alltag ein. Die Verteilung auf Wohnungen, dezentrale Unterbringung genannt, macht Probleme sichtbar und erfahrbar. Sie zu verbergen ist nicht mehr möglich; und die Wirklichkeit in ihrer Grausamkeit ist nicht mehr zu verleugnen. Wir werden damit leben müssen. Nicht hinzuschauen ist keine Lösung.