Tichys Einblick
Unschuldsvermutung als lästiges Detail

Moralgerichtshöfe, Unschuldsbeweise und der sowieso schreckliche Rest

Die Beschuldigungsfälle Aiwanger, Schönbohm und Lindemann zeigen das gleiche Muster: Es gelten keine Grundsätze der Rechtsordnung mehr. Die Süddeutsche und andere demolieren die Gesellschaft gründlich.

IMAGO - Collage: TE

„Die Gerichtshöfe der Moral“, schrieb der Philosoph Hermann Lübbe, „kennen keine Prozessordnung.“ Der Satz stammt aus seiner Streitschrift „Politischer Moralismus“ von 1984. Lübbe konnte sich vor fast vierzig Jahren vieles vorstellen, aber wahrscheinlich keine Zukunft, in der Moralgerichtshöfe die reguläre Justiz einmal mehr oder weniger verdrängen würden. Die Rechtsfindungsinstitutionen des neuen Typs konzentrieren sich auf prominente Fälle – Hubert Aiwanger, Till Lindemann, Arne Schönbohm – aber nicht nur. Die Chancen von Nichtprominenten, sich gegen Beschuldigungen zur Wehr zu setzen, stehen noch einmal deutlich schlechter. Und für alle gilt der Grundsatz, dass überlebter Aufklärungsplunder wie Unschuldsvermutung, Beweisführung, Verteidigungsrechte und das Prinzip, das Zweifel zugunsten des Beschuldigten ausschlagen müssen, keine Rolle mehr spielen darf. Also eben das, was man gemeinhin bisher unter ‚Prozessordnung‘ verstand.

Die Möglichkeit des Freispruchs kennen die Moralkammern übrigens grundsätzlich nicht. Dieser stark vereinfachte Apparat stützt sich mittlerweile auf einen Unterbau von dutzenden Meldestellen und so genannten Registern, letztere steuerfinanziert, aber ähnlich privatpolitisch betrieben wie die Amadeu-Antonio-Stiftung der epochenübergreifend als Fachfrau anerkannten Anetta Kahane. Nur der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass die Betreiber der Moralgerichtshöfe ihr System als großen Fortschritt gegenüber der umständlichen konventionellen Wahrheitsfindung sehen.

Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger steht zurzeit als prominentester Angeklagter vor den vereinigten Moralgerichtshöfen der Republik. Was bis jetzt gegen ihn vorliegt, lässt sich schnell zusammenfassen. In seiner Schultasche fand sich 1987, als er das Burkhart Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg besuchte, ein abstoßendes Hetzflugblatt, für das er damals bestraft wurde. Nach eigener Aussage verfasste Huberts Bruder Helmut das Schreiben, anschließend nahm Hubert Aiwanger die Schuld auf sich, hielt ein Strafreferat und die Sache schien für die nächsten dreieinhalb Jahrzehnte erledigt.

Das Flugblatt existiert, dass er es in der Tasche mit sich trug, räumte er ein. Bisher meldeten sich keine Zeugen dafür, dass er es verteilte. Darin liegt zumindest nach jetzigem Stand der faktische Kern, um den sich weitere Anschuldigungen gruppieren, etwa, er habe vor der Klasse den Hitlergruß gezeigt, rassistische Witze gerissen und „Mein Kampf“ mit sich herumgetragen. Diese Aussagen trugen bisher überwiegend anonyme Beschuldiger vor. Belege dazu existieren nicht. Und da es sich beispielsweise bei der Frau, die erklärt, „Mein Kampf“ in Hubert Aiwangers Tasche gesehen zu haben, um eine in der Öffentlichkeit namenlose Person handelt, lässt sich noch nicht einmal überprüfen, ob sie tatsächlich zusammen mit Aiwanger auf die Schule ging. Ein anderer namentlich bekannter Belastungszeuge, der gegenüber „Report München“ von rassistischen Witzen erzählte, gehörte nur bis zur 9. Klasse zu den Schulkameraden des heutigen Politikers. Aiwanger konnte in dieser Zeit höchsten 15 Jahre alt gewesen sein.

Zum anderen existieren mittlerweile auch etliche Aussagen von Mitschülern (hier meist namentlich und deshalb gut nachprüfbar), die angeben, nichts von dem Flugblatt beziehungsweise etwas über dessen Urheber mitbekommen zu haben, auch keine Hitlergrußszenen und ähnliches. Darüber hinaus gibt es den Bericht eines früheren Mitschülers; der heute pensionierte Deutsch- und Lateinlehrer Franz Graf habe ihn aufgesucht und gebeten, „einen Dreizeiler“ über Hubert Aiwanger und das Pamphlet zu verfassen. Der Ex-Schüler folgte dieser Aufforderung nach seinen Angaben nicht, weil er – bis ihm der Ex-Lehrer Graf davon erzählte – nichts von einer Verbindung Aiwangers mit der Flugblattangelegenheit aus dem Jahr 1987 gewusst habe.

Der Versuch des Lehrers, einen früheren Klassenkameraden zu einer bestimmten Aussage zu drängen, bildet ein kleines Mosaiksteinchen im Gesamtpanorama. Und irgendjemand musste der Süddeutschen eine alte schreibmaschinengetippte Schularbeit Hubert Aiwangers zugespielt haben, damit die Redakteure die Schreibmaschinentypen vergleichen konnten. Mögliche Zeugen bearbeiten und – mutmaßlich, denn in diesem Medium gilt nicht die Schuldvermutung – mutmaßlich also Bruch des Datenschutzes und des Persönlichkeitsrechts – das reicht schon deutlich über das bloße Öffentlichmachen eines Flugblatts von 1987 hinaus. Um so merkwürdiger erscheint es deshalb, dass Graf 2018 kurz vor der damaligen Landtagswahl in Bayern schon einmal in einem Text von Focus Online auf seinen ehemaligen Schüler Hubert Aiwanger zu sprechen kam, allerdings in einem ganz anderen Duktus. Damals zitierte er ihn sogar lobend, weil der Wirtschaftsminister den Söderschen Raumfahrtehrgeiz nicht teilte.

„Franz Graf steht an diesem Donnerstagmittag in seinem Garten zwischen Avocadopflanzen und kleinen Feigenbäumen“ heißt es in dem Focus Online-Text: „Graf ist kein Freund der CSU. Früher war er Deutsch- und Lateinlehrer am Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg und eckte regelmäßig bei CSU-nahen Rektoren an. Er engagierte sich auch gewerkschaftlich und hielt Vorträge bei der SPD. Ein Parteibuch bei den Sozialdemokraten hat er allerdings nicht. ‚Das ist lächerlich‘, sagt Graf über das Raumfahrtprojekt und zitiert einen seiner ehemaligen Schüler, Hubert Aiwanger, heute Spitzenkandidat der Freien Wähler (FW). Aiwanger stammt aus Ergoldsbach, rund fünfzehn Kilometer von Mallersdorf-Pfaffenberg. Der FW-Chef hatte am Mittwoch gespottet: ‚Bayern soll erstmal die naheliegenden technischen Probleme unseres Wirtschaftsstandortes – wie Mobilfunklöcher und fehlendes flächendeckendes Internet – lösen, bevor wir die Staatskasse ruinieren und in den Weltraum abheben.‘ Dem schließt sich Graf an. Wie viel das Projekt gleich nochmal koste? 700 Millionen Euro. Das dient nur den Interessen der Rüstungs- und Raumfahrtindustrie‘, schimpft Graf. Er sieht es wie Aiwanger: ‚Für das Geld gäbe es bessere Verwendungsmöglichkeiten.‘“

Der Gymnasiallehrer a. D. spricht also mit einem Journalisten auch über Aiwanger, den Spitzenkandidaten der Freien Wähler 2018 – und er warnt mit keinem Wort vor dem Politiker, den er, Graf, ja schon damals für den Verfasser des Flugblatts hielt. Für ihn spielte also das, woran heute angeblich der gesamte Ruf Bayerns in der Welt hängt, nämlich der Inhalt der Aiwangerschen Schulmappe vor 35 Jahren, seinerzeit nicht die geringste Rolle. Was zu der Frage führt, ob er die Beschuldigungskaskade tatsächlich ganz allein auslöste oder ob ihn andere dazu drängten und ermutigten. Graf kandidierte auf kommunaler Ebene für die SPD, er unterhält auch gute Kontakte zur bayerischen SPD-Generalsekretärin Ruth Müller.

Die Süddeutsche wiederum machte in ihrem ersten Aiwanger-Text, der sich über drei Seiten zog und zusammengenommen nur einen Absatz an konkreten Belastungen enthielt, gar keinen Hehl aus ihrer Absicht, den Aufstieg Aiwangers und der Freien Wählern zu beenden. „Man sollte nicht mit dem Flugblatt anfangen, nicht mit dem ‚Vergnügungsviertel Auschwitz‘ und dem antisemitischen Wahnsinn“, heißt es gleich zum Beginn des Artikels. „Man sollte zweieinhalb Wochen zurückspulen, um zu begreifen, welche Welle dieser Mann gerade reitet. Und um die Wucht zu erfassen, mit der die Welle nun brechen könnte.“ An dieser Stelle muss kurz auf ein Detail hingewiesen werden, das bisher in den meisten Texten zu dem Fall unterging: Auch der frühere Lehrer kann weder bezeugen, dass Hubert Aiwanger das Flugblatt verfasste, noch, dass er es verteilte. Die gesamte – um den Ausdruck wiederzuverwenden – ‘Welle’ der Süddeutschen und ihrer verbündeten politischen Kräfte beruht darauf, dass der Pädagoge glaubt, Aiwanger sei Autor der Flugschrift gewesen.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung merkten die politisch-medialen Jäger offenbar, dass ihr Gebäude selbst nach Maßstäben des verdachtschöpferischen Gewerbes auf einer sehr, sehr schmalen und wackligen Grundlage stand, zumal Hubert Aiwangers Bruder Helmut dann öffentlich erklärte, das Pamphlet geschrieben zu haben. Das muss natürlich niemand glauben. Andererseits muss auch niemand seine Unschuld beweisen. Jedenfalls nach den altmodischen Maßstäben.

Eine ganze Reihe von öffentlichkeitswirksamen Personen sahen die Sache mit der Unschuldsvermutung eh nicht so eng. Etwa die frühere Berliner Staatssekretärin, die vor kurzem in einem Interview erzählt hatte, dass sie als Jugendliche Juden hasste (allerdings nicht, wie sie beispielsweise noch 2018 einen Judenhasser herzlich zu sich nach Berlin einlud.) Sawsan Chebli jedenfalls verbreitete auf Twitter, was selbst die Journalisten der Süddeutschen nicht behaupteten. Für Chebli stand die Täterschaft Hubert Aiwangers fest. Und auch, dass er immer noch, also bruchlos seit 1987 „menschenverachtendes und rassistisches Gedankengut“ verbreiten würde.

Um dann gleich zur Critical Race Theory überzugehen:

Vorstellen muss sich das niemand; es genügt, sich erstens an die Tweets der heutigen Vorsitzenden der Grünen Jugend Sarah-Lee Heinrich über Rothschild, Juden und andere Themen zu erinnern und zweitens an die empörten Kommentare, die nicht Heinrichs Äußerungen galten, sondern dem Umstand, dass sie überhaupt jemand thematisierte.

Lang her, aus dem Kontext gerissen, man sollte niemandem Meinungsäußerungen aus einer Zeit vorwerfen, in der die Person noch minderjährig war, hieß es damals. Und überhaupt: vollste Soli.

Auch die Bundesinnenministerin, die bekanntlich für das Magazin einer linksradikalen Organisation schrieb (nicht mit 17), und die Arne Schönbohm, damals Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, auf bloßen Verdacht hin abhören ließ (nicht vor 35 Jahren, sondern gerade erst), diese Ministerin jedenfalls hielt die Aiwangerschuld nicht nur mutmaßlich, sondern auch schon praktisch für bewiesen. Wobei sie, Profi mit juristischem Examen, eine weniger zu Klagen einladende Formulierung wählte als Chebli.

Aber nicht alle Beteiligten betreiben die Projektion so perfekt. Deshalb – also wegen der schmalen Faktenbasis – machten sich viele an eine Ausweitung der politischen Kampfzone. Im Bayerischen Rundfunk stellten sich Journalisten untereinander die Frage, warum Hubert seinen Bruder Helmut Aiwanger nicht am Schreiben des Flugblattes gehindert habe. Kurzum, der Vizeregierungschef hatte schon damals seinen Bruder nicht im Griff.

Andere machten mit Hilfe von alten, unverpixelten Schulfotos auf die Dimensionen des Oberlippenbarts im Gesicht des 17-jährigen Aiwanger aufmerksam. Wobei sich das Ganze bei genauerem Hinsehen als kleine Haaransammlung einerseits und dunkler Nasenschatten andererseits herausstellte.

Aber was heißt in diesem Fall ‚genauer hinsehen?‘ Sind Sie Präfaschist, oder was?
Der Merkur wirft außerdem die Frage auf, ob Aiwanger das Strafreferat tatsächlich hielt, das ihm das Lehrerkollegium damals aufbrummte. „Hat er geliefert?“ Falls nein, ist der Rücktritt jetzt wirklich unumgänglich.

Nach Auskunft des Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg existieren zum ‚Fall Aiwanger‘ keinerlei schulische Unterlagen aus den Jahren 1987/88. Nach der geltenden Anklagelogik wäre damit bewiesen, dass er sich (das auch noch, zu allem Überfluss) vor der Sühneleistung drückte. In dieser Gemengelage setzte sich die Süddeutsche nun wieder an die Spitze, indem Chefredakteur Wolfgang Krach erklärte, es gehe nicht nur um die Breite des Aiwangerschen Oberlippenbarts von 1987, sondern noch nicht einmal darum, ob er das Flugblatt tatsächlich tippte. Also um genau das, was ihm die Zeitung vorgeworfen hatte.

„Aiwanger hat die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit selbst gestiftet und Vertrauen zerstört – ob er das Flugblatt nun verfasst hat oder nicht“, so das Urteil von Krach: „Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an, der Rest ist schon schrecklich genug.“

Das stimmt soweit. Allerdings vor allem bezogen auf die Süddeutsche. Bekanntlich hoben ihre Verantwortlichen nicht nur einmal antisemitische Karikaturen ins Blatt. Auch nicht nur zweimal. Weder war der zuständige Redakteur damals 16, noch der Grafiker, der Mark Zuckerberg als Mensch-Kraken-Mischung mit riesiger Hakennase zeichnete. Wenn es um Israel und antisemitische Demonstrationen in Deutschland geht, pflegt die „Qualitätszeitung Nummer eins“ (Eigenwerbung) sowieso seit Jahren ihren ganz eigenen Stil. Für die Zuckerberg-Karikatur Stürmerstil entschuldigte sich die Chefredaktion, im Fall anderer einschlägiger Zeichnungen äußerte sie ihr Erstaunen, dass sie jemand als antisemitisch auffassen könnte. Ihre unbeholfenen Distanzierungen erinnern verblüffend an die etwas mäandernden Stellungnahmen Hubert Aiwangers. Schon seine eigene jüngere, also nicht drei Jahrzehnte zurückliegende Geschichte hätte das Münchner Medium dazu bringen müssen, etwas vorsichtiger mit der bloßen Vermutung über die Jugendjahre eines Politikers umzugehen.

Das gilt in ähnlicher Weise auch für den größten Teil des Anklägerchors, der sich hinter und neben der Süddeutschen aufbaute.

Beispielsweise für den WDR-Redakteur Jürgen Döschner, der findet: „Nach 35 Jahren zählt antisemitische Haltung für Söder nicht mehr. Armselig!“. Vor nicht 35 Jahren, nämlich 2017, erwarb sich Döschner bundesweite Aufmerksamkeit, als er die Shoa mit dem Satz bagatellisierte: „Deutsche Automafia vergast jedes Jahr 10 000 Unschuldige.“

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert stellte zur Causa Aiwanger fest: „Wir sind in Deutschland. Und wenn wir über Antisemitismus sprechen, dann ist hier allerhöchste Aufmerksamkeit geboten und niemand sollte ein taktisches Verhältnis dazu haben.“
Es sei denn, es handelt sich um die Jusos, die er bis 2020 führte: der Verein bezeichnet die Jugendorganisation der Fatah als „Partnerorganisation“; das Programm dieses Partners zeigt sich schon in seinem Logo, das nicht nur Westbank und Gaza, sondern ganz Israel in palästinensischen Farben zeigt.

Es muss nicht immer eine Israel- und Vergasen-Obsession sein. Sven Hüber, stellvertretender Chef der Polizeigewerkschaft GdP und Vorsitzender des Hauptpersonalrats der Bundespolizei, erklärte den Wissenschaftler Michael Wolffsohn, der die Kampagne gegen Aiwanger als heuchlerisch kritisierte, zur „jüdischen Randnotiz“.

Hüber wirkte vor 1989 als Politoffizier, Jugendinstrukteur und stellvertretender Kommandant im Treptower Grenzregiment 33, also unmittelbar an dem Bauwerk, das in der Sprache seiner Partei ‚antifaschistischer Schutzwall‘ hieß.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach behauptete wahrheitswidrig, Aiwanger sei ein „radikaler Impfgegner“, um den argumentativen Bogen rückwärts zu schlagen: Wer sich nicht sofort impfen und boostern ließe, so seine Beweisführung, müsse wohl auch als Schüler ein bösartiges Flugblatt verfasst haben.

Bekanntlich manipulierte Lauterbach bei der Erlangung seiner Professur, er verbreitete die Lüge von der „nebenwirkungsfreien Impfung“ und verschleuderte Milliarden, indem er aus Geltungsdrang weitgehend wirkungslose und risikobehaftete Impfdosen bestellte, von denen schon zehntausende wegen Ablauf der Haltbarkeit auf dem Müll landeten.

Und was die Grünen betrifft, für deren Gesamtheit die bayerische Fraktionschefin Katharina Schulze verkündete, Aiwanger müsse entlassen werden, weil „schon der Anschein von Antisemitismus“ Bayern Schaden zufüge: Es lässt sich leicht nachlesen, dass 2022 weder Schulze noch ein anderer Spitzenvertreter Konsequenzen für ihre Parteifreundin Claudia Roth forderte, die das indonesische Wandbild auf der documenta 15 – das unter anderem einen Juden mit gelben Reißzähnen zeigte – erst einmal als legitimen Ausdruck des globalen Südens verteidigte und die Vorwürfe gegen die Kuratoren flott in die Rassismusecke zu schieben versuchte, ehe sie unter dem Druck der Verhältnisse die Kehre nahm und documenta-Chefin Sabine Schormann opferte, um sich selbst zu retten. Eine Konferenz im „Haus der Kulturen der Welt“, in der es auch darum ging, die Shoa zugunsten der Kolonialschuld wegzukontextualisieren, finanzierte das Amt der Kulturstaatsministerin anstandslos und auch keiner ihrer prominenten Mitgrünen fand etwas dabei.

Im wohlmeinenden Milieu Deutschlands herrscht erstens geradezu eine Besessenheit, wenn es um die Aufdeckung von lange zurückliegendem oder tief im Strukturellen verborgenen Antisemitismus an der richtigen Stelle geht, während das gleiche Milieu vor einem stürmermäßigen Wandbild in Kassel grübelt, ob es sich nicht um den Antikolonialismus edler Wilder handelt, so wie sie auch Demonstrationen mit „Scheiß Juden“-Rufen in Deutschland zur Israelkritik erklären. Und zweitens – auch dieses Muster weist über die Aiwanger-Kampagne hinaus – dient die moralische Beschuldigung Leuten als Angriffswaffe, die um jeden Preis vermeiden wollen, dass jemand sie an ihren eigenen Maßstäben misst.

Der Hinweis auf Immanuel Kant mag unter den akuten Verhältnissen verschroben klingen – aber ursprünglich sollte Moral einmal als Instrument zur Selbstprüfung dienen, als Maßstab für sich selbst im Verhältnis zu den Regeln, die jemand allgemein für gut heißt. Der entkernte und neu aufgefüllte Moralbegriff, der nie für den Moralrichter selbst gilt, wird zur Ressource zur Aburteilung von anderen. Auf dieser schräg gestellten und rhetorisch eingeseiften Ebene lassen sich nebenbei die Leichen aus dem eigenen Keller bequem ganz in die Tiefe versenken. Sehr viele Wähler in Bayern beschäftigen sich vermutlich nie mit Moralphilosophie. Aber sie erkennen das Manipulative und Heuchlerische dieser Übung besser als ganze Geschwader von Hauptstadtjournalisten. Beziehungsweise: Von denen erkennen es wahrscheinlich auch die einen oder anderen, halten es aber mit ihrem unbestechlichen Kennerblick für hohe politische Kunst.

Ein immer wiederkehrendes Versatzstück in der Aiwanger-Debatte lautet, das Flugblatt übersteige aber alles, was jemand den Anklägern heute vorwerfen könnte, es übersteige beispielsweise auch die Vorwürfe gegen Olaf Scholz in der Cum-Ex-Affäre und den Impfstoffkauf-Skandal von Ursula von der Leyen. Holocaust, Auschwitz – das sei schließlich eine ganz andere Dimension. Die Shoa und Auschwitz zweifellos. Aber doch nicht ein A 4-Blatt von 1987, auf dem etwas vom „Vergnügungsviertel Auschwitz“ steht. Bei der Gelegenheit: Manche bringen in der Debatte auch vor, die Flugschrift sei überhaupt nicht antisemitisch, schließlich erwähne sie ja keine Juden. Das ist unsinnig; ein Text, der von dem „Vergnügungsviertel Auschwitz“ und von einem „Freiflug durch den Schornstein“ spricht, muss das Wort ‚Juden‘ nicht erwähnen, um die Opfer der Shoa zu verhöhnen, ihr Leid lächerlich zu machen und damit eins der gängigsten antisemitischen Muster zu bedienen. Das Pamphlet ist abstoßend, das Zeugnis eines völlig unreifen und auch ziemlich beschränkten Geistes, es macht den Massenmord an Juden zum trivialen Stoff. Aber nur, weil es den Riesenbegriff „Auschwitz“ in diesem Sinn enthält, gewinnt es noch keine Riesengröße. Eine jedenfalls herkömmliche moralische Beurteilung misst etwas an Absicht und Wirkung. Das Flugblatt aus Mallersdorf bekamen 1987 offenkundig nur sehr wenige überhaupt zu Gesicht. So wenige jedenfalls, dass selbst ehemalige Schulkameraden Aiwangers erst jetzt davon etwas mitbekamen. Es entfaltete damals so gut wie keine Öffentlichkeitswirkung (sondern erst 2023). Es enthielt keinen Plan für irgendeine Tat. Kurz: Es bewirkte keinen konkreten Schaden.

Damit unterscheidet es sich grundlegend etwa von dem Wirken einer Anetta Kahane aka IM Victoria, die zu DDR-Zeiten andere bespitzelte, von einem Sven Hüber, der an einem Mauerregime mitwirkte, unter dem Hunderte erschossen wurden. Es unterscheidet sich auf eine andere Art von der falschen Unbedenklichkeitserklärung eines Lauterbach zur Corona-Impfung, von der Milliardenversenkung zu Gunsten von Pharmafirmen, von der höchstwahrscheinlich durch Olaf Scholz bewirkten steuerlichen Spezialbehandlung für die Warburg-Bank.

Das Klein- und Herunterreden antisemitischer Hassdemonstrationen in Deutschland bedroht ganz konkret Gesundheit und Leben von Juden in Deutschland und auch von Leuten, die für Juden gehalten werden.

Wer die akademisch beförderte Kontextualisierung der Shoa, also das strategische Kurzundkleinreden eines überzeitlichen Verbrechens, das aber nicht in die Theorie von der kollektiven Schuld des weißen Westens passt, ernsthaft für weniger gewichtig hält als das vergilbte Flugblatt eines niederbayerischen Schülers aus den Achtzigern, der besitzt keine ernstzunehmenden Maßstäbe oder wirft sie gerade über Bord. Denn bei dieser Übung, die hier in Rede steht, geht es um die wirkungsvolle Umschreibung von Geschichte. Hier betätigen sich keine 16-Jährigen. Es geschieht jetzt, 2013 ff. Und hier fließt Steuergeld.

Der Trick speziell der Aiwanger-Ankläger besteht in einer Vor- und gleichzeitig Rückprojektion. Zum einen imaginieren die Ankläger, er hätte 1987 ernsthaft kurz davorgestanden, das KZ Dachau wieder in Betrieb zu nehmen. Sie tun so, als wäre er mit 17 in eine klandestine Waffen-SS eingetreten und hätte ein paar Jahre später ein Gedicht darüber geschrieben, dass Israel den ohnehin brüchigen Weltfrieden gefährdet. Gleichzeitig bestehen sie darauf, alles, was er in seinem politischen Leben sagte, jetzt durch das Prisma der Flugblattgeschichte zu sehen. Wenn Aiwanger in seinem Erwachsenenleben nichts Rechtsextremistisches und Antisemitisches mehr äußerte, dann, so die logische Schlussfolgerung, verstell er sich eben nur. Bei Twitter (und so ähnlich auch in etlichen Medien) steckt in dem ziemlich biederen Wirtschaftsminister ein nazistischer Schläfer, der nur auf seinen Aktivierungscode wartet.

Würde die funktionierende Presse nicht nur aus einigen wenigen Medien bestehen, sondern auch Sendeanstalten und Magazine umfassen, dann wäre der Gedächtniskünstler Olaf Scholz längst nicht mehr im Amt. Und Innenministerin Nancy Faeser stände gerade kurz vor Rücktritt oder Entlassung. Nicht, weil sie einen früheren Politoffizier der DDR-Grenztruppen auf einer wichtigen Position der Bundespolizei duldet. Auch nicht, weil sie als so genannte Verfassungsministerin demonstrativ auf die Unschuldsvermutung pfeift. Und schon gar nicht wegen bestimmter Phrasenabsonderungen, etwa, wenn sie die Entscheidung Söders, dem Wunsch des Berliner Kommentariats und aller anderen progressiven Kräfte nicht zu willfahren, sondern Aiwanger im Amt zu behalten, so kommentiert: „Herr Söder hat nicht aus Haltung und Verantwortung entschieden, sondern aus schlichtem Machtkalkül.“ Sondern, weil sie aus schlichtem, allerdings schlecht berechnetem Machtkalkül den Präsidenten des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik Arne Schönbohm auf ein bloßes Gerücht hin absetzte. In seiner Sendung vom 7. Oktober 2022 behauptete Böhmermann, Schönbohm unterhalte über einen Verein Kontakt zu russischen Geheimdienstlern und bezeichnete den Sicherheitsfachmann als „Cyberclown“. Das Belastungsmaterial über Schönbohm wanderte, wie man hört, durch mehrere Redaktionen. Niemand griff es auf, es schien allen zu fadenscheinig – niemand bis auf den Grimme-Preisträger vom ZDF. Die bloße Behauptung Böhmermanns wiederum genügte Faeser schon, um den Mann von seinem Posten zu entfernen. Die Böhmermann-Vorlage kam ihr sehr gelegen. Es heißt, Schönbohm habe ihr in bestimmten Fachfragen widersprochen. Gegenüber einer inkompetenten Ministerin unterlässt man das lieber.

In den disziplinarischen Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Beschuldigungen gegen Schönbohm keinerlei Substanz besaßen (weshalb er das ZDF und Böhmermann auf 100 000 Euro Schadenersatz verklagt).
Das Grundmuster bei Schönbohm ähnelt bemerkenswert dem im Aiwanger-Süddeutsche-Fall. Selbst Faeser merkte, welchem dünnen Geraune sie aufgesessen war. Also ließ sie das Umfeld von Schönbohm abhören, um wenigstens im Nachhinein irgendetwas Belastendes in die Hände zu bekommen. Aber auch das ohne Erfolg. Das Vorgehen der Innenministerin erinnert sehr stark an die Abhöraktion gegen den Nuklearmanager Klaus Traube 1975/76 („Operation Müll“), den das Bundesamt für Verfassungsschutz damals ebenfalls aufgrund eines völlig haltlosen Verdachts belauschte. Der Skandal führte 1977 zum Rücktritt von Innenminister Werner Maihofer. Wie erwähnt: In einem Land mit funktionierender Presse müsste Faeser jetzt den gleichen Weg antreten.

In der vergangenen Woche endete noch ein anderer Moralgerichtshofs-Prozess, vorerst jedenfalls: der gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, das sie übrigens ausschließlich aufgrund von Anzeigen unbeteiligter Dritter betrieben hatte. Was die angeblich beteiligten Zweiten betrifft, heißt es in der Mittteilung der Staatsanwaltschaft: “Mutmaßliche Geschädigte haben sich bislang nicht an die Strafverfolgungsbehörden gewandt, sondern ausschließlich – auch nach Bekanntwerden des Ermittlungsverfahrens – an Journalistinnen und Journalisten, die sich ihrerseits auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben.” Soweit die Untersuchung der traditionellen Justiz. Im Moralgerichtsverfahren sahen die Zuständigen den Fall von Anfang an anders, und sie lassen sich auch von der Einstellung nicht im Mindesten beirren. Das ZDF widmete dem Skandal um angeblich erzwungenen Sex und angeblich heimliche Drogenverabreichung nach Rammstein-Konzerten eine angebliche Dokumentation („Rammstein – hinter der Mauer des Schweigens“), die keine Belege oder wenigstens Indizien für irgendetwas Strafbares zeigt, dafür aber wichtigtuerische Redakteurinnen, die auf ihren Laptops oder iPhones herumtippen und Interviews führen, die wie eine Journalistenparodie klingen. Beispielsweise schaffen sie es, zwei Rammstein-Fans aufzutreiben, die ihnen in die Kamera sprechen: Wenn die Vorwürfe gegen Lindemann zuträfen, dann wäre das wirklich schlimm. Irgendetwas Substanzielles weiß keiner beizutragen, den sie ansprechen oder anrufen. Eine düstere Stimme kommentiert diese missliche Situation aus dem Off: „Angst führt zu Schweigen.“ Die Möglichkeit, dass sich backstage nach Rammstein-Konzerten einfach nichts Kriminelles abspielte, scheint den ZDF-Spurenlesern offenbar so exotisch, dass sie den Gedanken noch nicht einmal pro forma erörtern.

Wie bei Aiwanger und Schönbohm teilt sich auch der Moralprozess gegen den Rammstein-Sänger in drei Akte. Im ersten Akt gibt es die Anschuldigung gegen eine Person, die schon vorher eine Markierung trug – bei Lindemann als irgendwie rechts und sexistisch (Peniskanone). Dann merken die Ankläger, wie wässrig ihre Suppe selbst für die Gutgläubigen wirkt. Also müssen sie wenigstens im Nachhinein noch ein bisschen Material organisieren. Gegen Aiwanger in Form der durchweg anonymen Berichte über Hitlergruß, „Mein Kampf“ und rassistische Witze. Bei Schönbohm per Lauschangriff. Und gegen den Rammstein-Sänger durch eine Art Fahndungsaufruf nach Belastungszeugen durch die Moralgerichtsermittlungsbehörde Amadeu-Antonio-Stiftung. Die nämlich sammelte Geld zur Unterstützung von Rammstein-Opfern, die es einfach geben musste, wenn auch nur im Verborgenen.

Immerhin kamen mehr als 800 000 Euro zusammen. Auf der Webseite der steuerfinanzierten Stiftung heißt es (noch immer):

„Wir unterstützen Personen, die…
…sexualisierte Übergriffe durch oder ähnliche missbräuchliche Situationen mit Till Lindemann oder anderen Bandmitgliedern von Rammstein erlebt haben
…Zeug*innen geworden sind von den genannten Vorfällen und sich dazu öffentlich oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens geäußert haben oder äußern wollen

Was hast du erlebt? Wann und wo?
In welcher Form war Till Lindemann oder Rammstein involviert?
In welcher Situation befindest du dich jetzt, was brauchst du?
Wie können wir dich in dieser Situation finanziell unterstützen? Wofür genau benötigst du finanzielle Unterstützung? Mit welcher Summe?
Hast du bereits Unterstützung durch eine*n Anwält*in? Kannst du uns eine Darstellung des Falles sowie eine Kostenschätzung oder einen Kostenvoranschlag der Anwaltskanzlei zukommen lassen?
Hast du bereits psychologische Unterstützung? Kannst du uns eine Darstellung des Falles sowie eine Kostenschätzung oder einen Kostenvoranschlag der*des Therapeutin*en zukommen lassen?
Wenn du diese Fragen bereits beantworten kannst, kannst du dich auch direkt an sheroes.fund@amadeu-antonio-stiftung.de wenden.“

Obwohl die von Kahane im merkelschen Geist geschweißte Fachorganisation also regelrecht mit Geldbündeln winkte, meldete sich bisher niemand. Zumindest nicht bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Dass die alten Justizbehörden überhaupt immer wieder bei der Schuldfindung dazwischenfunken, gilt den wohlgesinnten Verfolgern als großes Übel, das noch seiner endgültigen Beseitigung harrt. Aber immerhin gibt es entschiedene Schritte, endlich mit dem ganzen Rechtsstaatsgetue aufzuräumen.
Beispielsweise von Daniel Drepper, der im NDR im Namen des Rechercheverbundes von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ausführt, die Einstellung der Ermittlungen gegen Lindemann sei nicht als „Unschuldsbeweis“ zu werten.

Die taz fragt, warum die wovon auch immer Betroffenen sich nur an die Medien und nicht an die Ermittler gewandt hätten.

Vielleicht, weil diese Medien gar kein Interesse haben, den Wahrheitsgehalt von Anschuldigungen zu ergründen, solange sie in ihr Narrativ passen? Und weil an Moralgerichtshöfen auch nie Anklagen wegen Falschbeschuldigungen drohen, wenn die Behauptungen den Richtigen treffen?

Bei t-online heißt es in einem Kommentar: „Den Betroffenen bleibt nur ein schwacher Trost: Lindemann, der auf der Bühne gern mit einem Riesenpenis posiert und in seinen Texten nicht mit frauenfeindlichen Gewaltfantasien spart, konnte mangels Anklage zumindest nicht ausdrücklich für unschuldig erklärt werden“. Diesen Begriff muss sich jeder merken, der in der neuen Ära zurechtkommen will: „Unschuldsbeweis“. Den kann bekanntlich auch ein Aiwanger nicht liefern, genauso wenig wie früher die Angeklagten in den Hexenprozessen. Also damals, als noch kein Rechtsstaat mit seinen ewigen Formalien störte.

Wenn die Aktion wider Erwarten der Moralrichter doch nicht zum gewünschten Ergebnis führt, nämlich zur Aburteilung des Betreffenden mangels Unschuldsbeweis, dann ist, um mit dem Chef der Süddeutschen zu sprechen, wenigstens „der Rest schon schrecklich genug“. Und es geht mit der nächsten Zielperson nach exakt dem gleichen Schema weiter. Um das Luhmann-Wort abzuwandeln: Es findet eine Delegitimation von Personen durch Verfahren statt. Als besonders schimpflich gilt es den Moralwarten, wenn auch noch die Bevölkerung versagt, indem sie nicht erwartungsgemäß den Daumen senkt.

Dass Aiwanger bleiben kann, weil in Bayern gerade Wahlen anstehen und der gemeine Wähler nicht über das gesunde Moralempfinden der Süddeutschen verfügt, zeigt ihnen wieder einmal, dass die Demokratie noch sehr gründlich durchtransformiert werden muss.

Damit, dass sie das bürgerliche Rechtsverständnis und selbst noch das Rechtsdenken eines aufgeklärten Monarchen wie Friedrich II. lustvoll in die Tonne treten, Journalisten Seite an Seite mit der Innenministerin und dutzenden anderen Politikern, demolieren sie die Gesellschaft unendlich stärker, als es das Flugblatt von Mallersdorf je gekonnt hätte. Das Seltsamste daran ist, dass sie offenbar keine Sekunde lang fürchten, die Praxis der Moralgerichtshöfe könnten sich jemals gegen sie selbst richten.

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