„Die anfängliche Gelassenheit schlägt unter dem Eindruck des unaufhörlichen Zustroms und der wachsenden Probleme in tiefe Besorgnis um“, schreibt Allensbach-Chefin Renate Köcher über die Antworten der Befragten zum alles beherrschenden Thema der Migration: „Im August waren 40 Prozent der Bürger außerordentlich besorgt, im September 44 Prozent, heute sind es 54 Prozent.“ Von der Aufnahme von Migranten in der eigenen Region sprechen 86 Prozent: So viele Befragte, die ihr Bild von einer bedeutenden Frage nicht nur aus den Massenmedien beziehen, spiegeln sich sonst in Umfragen selten.
Frau Köcher fragt im FAZ-Monatsbericht: „Wie vertragen sich die wachsenden Sorgen der Mehrheit mit der Hilfsbereitschaft und der schon fast sprichwörtlichen ‚Willkommenskultur‘, die über Wochen weite Teile der Medienberichterstattung dominierte? Anfangs, als die Flüchtlingszahlen noch wesentlich geringer waren als heute, waren durchaus viel Mitgefühl zu beobachten und eine große Bereitschaft, sich zu engagieren. 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben sich in den vergangenen Monaten engagiert; das entspricht knapp 9,5 Millionen Menschen.“
Die Mehrheit in der Schweigespirale
Die Allensbacher gewannen bei den Antworten den Eindruck: „Das Meinungsbild war in sich nicht stimmig. Dies wurde schlagartig deutlich, als der Tenor der persönlichen Gespräche untersucht wurde.“ Köcher nennt das Wort „Schweigespirale“ ihrer Lehrerin Nölle im FAZ-Monatsbericht nicht, aber genau die zeigt sie, wenn sie schreibt: „Schon vor einigen Wochen, als noch die Mehrheit die Position vertrat, ihre Region könne noch mehr Flüchtlinge verkraften, gaben die meisten zu Protokoll, dass in Gesprächen mit Verwandten, Freunden und Bekannten klar die Ablehnung überwiege. Mittlerweile ziehen 69 Prozent aus ihren persönlichen Gesprächen die Bilanz, dass die meisten die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ablehnen; nur noch 17 Prozent erleben in ihren Gesprächen überwiegend Befürworter. Die Bilanz der persönlichen Gespräche zeichnet ein anderes Bild als viele ambivalente Aussagen über die eigene Position und ein gänzlich anderes als die Bilder des begeisterten Empfangs noch vor wenigen Wochen.“
Immer wenn ein wichtiges Thema umstritten ist, sagen viele Befragte nicht, was sie meinen, sondern wovon sie denken, dass sie es meinen sollen. Was sie meinen sollen, geben ihnen Meinungsführer-Medien vor. Fragt man sie aber, was ihr Umfeld meint, findet man in Wahrheit heraus, was sie selbst tatsächlich denken. Köcher: „In jüngster Zeit wird oft davon gesprochen, dass die Stimmung in der Bevölkerung dabei ist zu kippen. Dies trifft nur teilweise zu. Vielmehr zeigen die Daten, dass zunächst viele nicht wagten, sich außerhalb des Kreises vertrauter Gesprächspartner mit ihren Bedenken zu exponieren. Auch jetzt haben noch 43 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung den Eindruck, dass man in Deutschland seine Meinung zu der Flüchtlingssituation nicht frei äußern darf und sehr vorsichtig sein muss, was man sagt. In Ostdeutschland ist dieser Eindruck noch weiter verbreitet, und in West wie Ost überdurchschnittlich unter denjenigen, die über die Entwicklung außerordentlich besorgt sind.“
Aber Frau Professor Köcher, wenn 43 Prozent sagen, dass sie sich außerhalb vertrauter Kreise lieber nicht frei äußern wollen, wie viele sind das denn dann in Wirklichkeit? Schade, dass Sie nicht auch ermittelten, wie viele im Umfeld der Befragten dieser Meinung sind. Wären wir dann bei zwei Drittel der Bevölkerung?
Weshalb so viele Leute lieber mit ihrer Meinung hinter dem Berg halten, beantwortet der FAZ-Monatsbericht:
- „Dieses ungewöhnliche Phänomen, dass weite Teile der Bevölkerung glauben, sich mit ihrer Meinung zu einem aktuellen und gravierenden Problem nicht frei äußern zu dürfen, geht zum einen auf die Sorge zurück, in eine Ecke gestellt zu werden, in die man nicht gehört und gehören will. Die große Mehrheit jener, die der anhaltende Flüchtlingsstrom besorgt stimmt, ist weder ausländerfeindlich noch dem rechten Rand zuzuordnen. Viele fürchten jedoch, dass sie in diesen Verdacht geraten, wenn sie öffentlich ihre Besorgnis äußern.“
- „Dies gilt umso mehr, als viele den Eindruck haben, dass die Risiken der derzeitigen Entwicklung weder in der öffentlichen politischen Diskussion noch in der Berichterstattung der Medien ausreichend berücksichtigt werden. Nur knapp ein Drittel der Bevölkerung empfindet die Berichterstattung der Medien über die Flüchtlingssituation als ausgewogen, 47 Prozent als einseitig.“
- „Im Allgemeinen attestiert die Mehrheit der Bürger den Medien weit überwiegend eine angemessene Berichterstattung. Diesmal überwiegt der Eindruck selektiver Berichterstattung, bei der die Risiken und kritischen Entwicklungen und Stimmungen zu kurz kommen.“
- „Gleichzeitig war die Bevölkerung über die vergangenen Monate hinweg mit einem parteiübergreifenden Konsens konfrontiert … Dem parteiübergreifenden Konsens auf politischer Ebene steht eine parteiübergreifende Besorgnis in der Bevölkerung gegenüber. Anhänger der SPD sind genauso beunruhigt wie die der Unionsparteien, der FDP oder der Linken. Etwas weniger beunruhigt sind lediglich die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen; auch unter ihnen sind indes mittlerweile 42 Prozent höchst alarmiert. Ebenso gibt es in der Bevölkerung parteiübergreifend Zweifel, ob Deutschland den Zustrom bewältigen kann. Nur jeder Fünfte ist noch zuversichtlich, 71 Prozent sind aufgrund der großen Zahl der Flüchtlinge und des nicht abreißenden Zustroms pessimistisch.“
- „Besonders kritisch ist, dass in der Bevölkerung Zweifel daran weit verbreitet sind, ob die Politik überhaupt eine Vorstellung hat, wie die Probleme eingegrenzt und bewältigt werden können. Die Mehrheit der Bürger diagnostiziert nicht nur einen Kontrollverlust, sondern nimmt die Politik als ratlos wahr. 57 Prozent der Bürger sind überzeugt, dass Deutschland jegliche Kontrolle darüber verloren hat, wie viele Flüchtlinge ins Land kommen. Ebenso viele haben den Eindruck, dass die Politik, gleich welcher Couleur, völlig ratlos ist, wie sie mit der Flüchtlingssituation umgehen soll. Jeder Zweite unterstellt der Politik auch Realitätsverlust. Knapp die Hälfte der Bevölkerung wirft der Politik vor, sie denke zu wenig an die Interessen der deutschen Bevölkerung.“
- „Gleichzeitig ist die große Mehrheit überzeugt, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, zumindest begrenzt Einfluss zu nehmen. So gehen 71 Prozent davon aus, dass die Probleme teilweise hausgemacht sind, etwa durch überzogene Anreize, mit denen Deutschland den Flüchtlingszustrom verstärkt. Auch hier stimmen die Anhänger sämtlicher im Bundestag vertretener Parteien mehrheitlich überein.“
Alle Zahlen des FAZ-Monatsberichts (siehe Grafiken zu Beginn) müssten in Wahrheit mit einer Schweigespiralen-Formel korrigiert werden. Ob das seriös geht, bezweifle ich. Aber die Frage nach den Meinungen im Umfeld der Befragten stellen sollte Allensbach in Zukunft wohl immer und uns damit ein realistischeres Meinungsbild zeigen.
Bei Köchers Schlussabsatz im FAZ-Monatsbericht handelt es sich wohl um eine Mischung der Erkenntnisse der Umfrage und der eigenen Meinung der Institutschefin, die in ihrem Umfeld geteilt werden dürfte:
„Den meisten Bürgern sind die Dimension der Probleme und die Herausforderungen, vor denen die Politik steht, durchaus bewusst. Die Bürger wissen, dass nur ein Teil der Maßnahmen kurzfristig wirken kann, und anderes einen langen Atem braucht. Aber sie erwarten Klarheit über die Ziele der Politik und die Maßnahmen, die das Problem sukzessiv eindämmen könnten. Vor allem hoffen sie auf Signale, dass sich die Politik zutraut, die Kontrolle über die Entwicklung zurückzugewinnen.“
Den Unterschied zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung beobachte ich schon sehr lange, wie zutreffend Umfragen das einfangen oder nicht und auch wie mit Umfragen Meinung gemacht wird. Selten war die Wirkung der Schweigespirale so überdeutlich zu sehen wie in diesen Tagen.