Tichys Einblick
Kritik von allen Seiten

Migrationsgipfel: historischer Fehlschlag

Die Ergebnisse von nächtlichen Verhandlungen halten nur bis kurz nach Sonnenaufgang: Beim Bund-Länder-Treffen zur Flüchtlingskrise wurde sowieso nur wenig verabredet. Und selbst von dem Wenigen rücken die Teilnehmer jetzt schon wieder schrittweise ab.

Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Boris Rhein (CDU), Ministerpräsident von Hessen, Berlin, 06.11.2023

IMAGO / Political-Moments

Einfach nur historisch, das hat Olaf Scholz nicht gereicht. „Sehr historisch“ nannte der Kanzler Montagnacht nach seinem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer die Ergebnisse der Gespräche zur Flüchtlingsfrage.

Doch mit jeder Stunde, die der Dienstag dann älter wurde, zeigte sich immer mehr: Wenn der Gipfel historisch war – dann war er ein historischer Fehlschlag.

Es hagelt Kritik von wirklich allen Seiten. Dass diejenigen, die erst gar nicht mit am Tisch saßen, jetzt kein gutes Haar am Gipfel lassen, ist zwar eher normal. Doch das macht deren Einwände ja nicht verkehrt.

Der Landkreistag legt als erster den Finger in die Wunde. „Unsere Kernforderung in finanzieller Hinsicht bestand darin, dass der Bund die vollständigen Unterkunftskosten für anerkannte Geflüchtete übernimmt“, sagt Landkreistagpräsident Reinhard Sager (CDU). „Daher ist die Einigung zwischen Bund und Ländern ohne diese Komponente für uns inakzeptabel; die Kommunen dürfen nicht auf diesen Kosten sitzen bleiben.“

Immerhin geht es allein im laufenden Jahr schätzungsweise um drei Milliarden Euro. Die Bundespolitik lässt jetzt weiterhin Flüchtlinge ins Land und überlässt es weitgehend den Kommunen, wie die dann damit fertig werden.

Der Landkreistag sieht auch wenig bis gar keine Fortschritte bei dem Versuch, den Flüchtlingsstrom nach Deutschland ernsthaft abzubremsen. „Bund und Länder hätten sich auch auf die Einrichtung von Transitzonen und Rückkehrzentren sowie den Stopp freiwilliger Aufnahmeprogramme verständigen müssen“, kritisiert Sager. Beides ist bekanntlich nicht passiert.

Auch der Deutsche Städtetag zeigt sich massiv enttäuscht. Die beschlossene Kopf-Pauschale pro Flüchtling in Höhe von 7.500 Euro sei „deutlich zu wenig“, klagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD). Das passiere immer wieder, weil die Kommunen – die letztlich vor Ort die Flüchtlingspolitik des Bundes umsetzen und auch bezahlen müssen – zu den Flüchtlingsgipfeln nie mit eingeladen werden. „Wir gehören an den Tisch“, fordert Jung.

Auch in den Parteien hält sich der Jubel über die Gipfelergebnisse in sehr überschaubaren Grenzen.

Die AfD reagiert mit einem Anflug von Sarkasmus. Die Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla lassen ausrichten: „Die theatralische Nachtsitzung von Kanzler und Ministerpräsidenten hat das erwartbare Nicht-Ergebnis gebracht: Einig ist man sich nur, das Asyl-Chaos mit noch mehr Geld vom Steuerzahler zuzukleistern.“

Die „Linke“ wertet das Bund-Länder-Treffen als „Runde der Enttäuschungen“. Fraktionschef Dietmar Bartsch sagt: „Es ist insbesondere für die Kommunen, für Bürgermeister und Landräte ein rabenschwarzer Tag.“

Wer nun meint, dass zumindest die Gipfelteilnehmer ihr eigenes Verhandlungsergebnis verteidigen, erlebt eine Überraschung.

„Das reicht noch nicht“, twittert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Sein nordrhein-westfälischer Kollege Hendrik Wüst (CDU) lässt wissen: „Es ist ein erster Schritt, ja. Aber es ist noch nicht der große Wurf.“ Und aus der Parteizentrale der Bundes-CDU kritisiert Generalsekretär Carsten Linnemann: „Das ist alles zu weich.“

Sein Parteivorsitzender Friedrich Merz zweifelt öffentlich, ob die vorgestellten Beschlüsse auch wirklich umgesetzt werden: „Das Ganze ist gestern jetzt vereinbart worden. Aber beschlossen ist es erst, wenn es im Asylbewerberleistungsgesetz steht.“ Unterstützung bekommt Merz vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg (CDU) mahnt: „Wir warnen davor, den jetzt notwendigen Umsetzungsprozess zu verzögern und die richtigen Ziele wieder kleinzureden.“

Die Sorge ist vermutlich nicht aus der Luft gegriffen. Nicht nur die Grüne Jugend, einflussreiche Nachwuchsorganisation der Ampel-Regierungspartei, schießt schon aus allen Rohren gegen den Mini-Kompromiss vom Montag. „Die vorgesehenen Asylrechtsverschärfungen sind eine Katastrophe und reihen sich in den migrationspolitischen Rechtsruck ein“, verkündet die Co-Vorsitzende Katharina Stolle.

Bedenklicher – auch für Olaf Scholz – ist aber eine andere Wortmeldung. SPD-Co-Chefin Saskia Esken stellt sich gegen die Forderung nach Migrationszentren in außereuropäischen Drittstaaten. Ihr Tandempartner an der Spitze der Sozialdemokraten, Lars Klingbeil, hatte sich erst kürzlich offen für die Idee gezeigt. Auf dem Gipfel wurde vereinbart, den Vorschlag zumindest zu prüfen. Doch Esken hält da jetzt gleich das Stoppschild hoch.

In der Tat: Es ist alles irgendwie sehr historisch.

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