In Lutzmannsburg an der österreichisch-ungarischen Grenze sind Bürgermeister und Bürgerschaft alarmiert. Roman Kainrath (SPÖ) berichtet laut der Website exxpress.at von einer stark frequentierten Route über das Waldgebiet im Umfeld der Marktgemeinde mit gut 800 Einwohnern: „Die Jägerschaft ist schon verzweifelt, das Gebiet ist wertlos. Sie machte schon eine Müllsammlung, das waren Tonnen an Kleidung.“ Mundraub aus den Obstgärten der Anwohner scheint an der Tagesordnung zu sein. Frauen trauen sich nicht mehr in den Wald, weil ihnen Gruppen von bis zu zwanzig Männern entgegenkommen.
Die Zustände seien Tag für Tag „unvorstellbar“, so Bürgermeister Kainrath. Polizei und Bundesheer seien an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Nur scheint das in der Wiener Politik keinen zu kümmern. Diese Grenzen können auch weiterhin ausgetestet werden. Nicht anders verhält es sich ja derzeit mit der deutschen Bundespolizei und den hiesigen Erstaufnahmen.
Die „Zeltaktion“ sei „perfide und menschenunwürdig“, sagte der Landesvorsitzende Roland Fürst. Die ÖVP versuche so, „parteipolitisches Kapital“ aus der Situation zu schlagen. Das ist ein interessanter Vorwurf, er könnte aber dennoch richtig sein – und zwar für beide Koalitionspartner. Denn auf ihre Weise könnte vielleicht jede der Wiener Regierungsparteien von solchen Zeltstädten profitieren. Die ÖVP könnte sagen: Seht her, es gibt eine Migrationskrise, wir müssen scharf dagegen vorgehen. Die Grünen wiederum: Seht her, es sind so viele hilfsbedürftige Flüchtlinge gekommen, nun müssen wir für sie sorgen.
Fürst beklagt, dass die Situation seit Monaten angespannt sei. Pro Woche kommen demnach 3.000 bis 4.000 Menschen illegal im Burgenland über die Grenze. Das erinnere an die Rekordjahre 2015 und 2016. Die burgenländische Grenze sei zum „Hotspot der internationalen Schlepperkriminalität“ geworden. Zahlreiche Schlepper wandern denn auch angeblich ins Gefängnis (laut dem Kurier 472 in ganz Österreich, 254 im Burgenland), allerdings bei weitem noch nicht so viele wie 2015. Damals wurden im ganzen Jahr 1.108 Schlepper aufgegriffen. Die Justizanstalt Eisenstadt ist aber heute überlaufen. Auch hier kommt ein System an seine Grenzen.
Am zuständigen Landesgericht werden neun bis zehn Schlepperprozesse pro Woche verhandelt. Daneben war bei der Zahl der illegalen Einreisen nach Österreich schon Mitte Oktober beinahe der Stand von 2015 erreicht (damals: 94.262 im ganzen Jahr; dieses Jahr bis 14. Oktober: 86.959). Im Burgenland allein wurden 55.000 illegale Migranten aufgegriffen. Die Asylanträge in ganz Österreich haben sich im Vergleich zum Vorjahr bereits mehr als verdreifacht. Das Jahr 2022 ist ein auf Dauer gestellter Sommer 2015. Die ukrainischen Kriegsflüchtlinge muss man freilich noch dazu rechnen. Sie machen beispielsweise im Burgenland zwei Drittel der Bezieher der asylspezifischen Sozialleistung (Grundversorgung) aus.
Die Parteien begnügen sich mit Rhetorik
Die Grundfrage ist: Warum unternimmt die ÖVP-geführte Regierung in Wien nichts gegen die auch für die Nachbarländer wohlstandsbedrohenden Zustände im Burgenland? Das schwarz-grüne Koalitionsmodell war – freilich noch unter Kanzler Kurz – als das von „leben und leben lassen“, also der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Ansätze bekannt geworden. Die Grünen sollten ihre Projekte bekommen, ebenso die türkis verschönerten Schwarzen die ihrigen. Dass eine solche Konzeption Schwächen hat, liegt auf der Hand.
Dennoch könnte Innenminister Gerhard Karner heute damit anfangen, die österreichische Gesetzgebung und die Dublin-Verordnung der EU umzusetzen: Das hieße dann Zurückweisungen illegaler Migranten in den benachbarten EU-Staat oder Rückführungen ins Land der Erstankunft in der EU. Wie der Koalitionspartner reagiert, könnte Karner eigentlich egal sein, wenn er die öffentliche Meinung auf seiner Seite weiß. Nur wenn er Gesetzesänderungen bräuchte, käme er an sichere Grenzen dieses Koalitionsmodells.
Man muss also annehmen, dass trotz aller ÖVP-Rhetorik von sicheren Grenzen und der endlich definitiven Schließung der Balkanroute kein gesondertes Interesse der Regierenden an der Wiederherstellung von Recht und Ordnung besteht. Vielmehr werden chaotische Zustände als gewohntes Hintergrundrauschen hingenommen und „erledigt“.
Abseits von Lutzmannsburg sieht man die Lage beispielsweise in der Gemeinde Eberau (921 Einwohner) weit weniger dramatisch. Der dortige ÖVP-Bürgermeister Johann Weber berichtet von der segensreichen Präsenz des Bundesheers und vom zügigen „Weitertransport“ der Migranten. So kann man ein Problem auch zum Verschwinden bringen. Die starke Präsenz von Polizei und Heer gebe den Bürgern Sicherheit. Weber sieht eine Lösung auf EU-Ebene als erforderlich an.
Aber auch dieses Rufen nach einer Lösung im Schoß der EU ist letztlich reine Illusion, solange es keine deutlich veränderten Mehrheiten im Rat gibt. Vielleicht ändert aber der Wahlsieg von Giorgia Meloni und des rechten Lagers in Schweden hier bald etwas.