An diesem Donnerstag und Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten in Brüssel, um die anschwellende Migration vor allem an der Mittelmeerküste und auf dem Balkan zu diskutieren. Der außerplanmäßige Gipfel geht auf Klagen mehrerer Mitgliedsstaaten – an ihrer Spitze Österreich und die Niederlande – über hohe Aufgriffe von illegal einreisenden Migranten an den EU-Außengrenzen zurück. Letztes Jahr waren es laut Frontex insgesamt 330.000 gewesen, der höchste Wert seit 2016. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die ukrainischen Flüchtlinge, von denen sich laut UNHCR 4,8 Millionen in Europa als Flüchtlinge registrieren ließen, die meisten in Deutschland und Polen.
Einige der Unterzeichner berichten schon jetzt von Ankunftszahlen, die denen von 2015 und 2016 entsprechen, teils noch höher liegen sollen. Die Acht fordern auch zusätzliche Finanzmittel für die notwendigen „operativen und technischen Maßnahmen für einen wirksamen Grenzschutz“. Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer machte diese Forderung konkret, indem er zwei Milliarden Euro aus dem EU-Budget für einen Grenzzaun zwischen Bulgarien und der Türkei verlangte. Bulgarien braucht demnach EU-Unterstützung, es könne auf sich allein gestellt keine bessere Kontrolle bewerkstelligen. Aber der entstehende Topf stünde wohl für alle Mitglieder offen.
Orbán und die Acht: Das EU-Asylsystem ist kaputt
Für EU-Zäune machte sich auch der ungarische Premier Viktor Orbán in einem Telefonat mit seinen belgischen, bulgarischen, finnischen, maltesischen und polnischen Amtskollegen stark. Orbán sagte unter anderem, dass „Zäune ganz Europa schützen“. Dagegen gibt sich Innenkommissarin Ylva Johansson auch wegen der Mehrausgaben besorgt. Es ist schließlich ihr Budget, das für die Finanzierung von Mauern und Zäunen infrage käme. Dann wäre aber kein Geld mehr für andere Aufgaben da, wobei Johansson in den vergangenen Jahren durchaus gutes Geld in die Hand nahm, etwa um das „Migrationsmanagement“ in der Ägäis (gegen den Willen der Bürger) durch große Lagerneubauten anzuschieben.
Auch der CSU-Abgeordnete Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im EU-Parlament, beklagt in einem Gastbeitrag für die Welt, dass seit September 2020 nicht viel passiert sei an der EU-Asylfront. Das Asylrecht will er zwar nicht antasten, aber auf dessen verbreiteten Missbrauch weist er deutlicher hin als viele andere Politiker der traditionellen EU-Parteien. Weber fordert eine „voll einsatzfähige Grenz- und Küstenwache“, am besten in der Hand eines „richtigen EU-Grenzschutzes“, den er wohl aus der Frontex-Agentur bauen will. Von der Bundesregierung wünscht er sich eine stärkere Entsendung von Grenzbeamten nach Griechenland, Italien und Spanien. Das wäre laut Weber „ein starkes Signal“.
Weber: Australien, Kanada und die USA als Modell
Der demokratisch legitimierte Rechtsstaat müsse „entscheiden, wer nach Europa kommen kann, und nicht die organisierte Kriminalität, nicht der hybride Krieg“, so Weber. Die Milliardengewinne der professionellen Schlepper sieht er als inakzeptabel an. Auch „um den freien Personenverkehr innerhalb der EU zu erhalten“, sei „ein funktionierender Schutz der EU-Außengrenzen unabdingbar“. Hier trifft sich Weber mit Rutte, sicher auch anderen, die das Schengensystem unter den derzeitigen Bedingungen nahe dem Kollaps sehen.
Australien, Kanada und die USA schaffen laut Weber „eine angemessene Politik in Sachen irregulärer Migration“, ohne doch auf die Anwerbung von Fachkräften im Ausland verzichten zu müssen. Nun fällt die Politik der drei Staaten unterschiedlich aus. Als Vorbild taugen sie also nicht, jedenfalls nicht im Dreierpack. Für die EU legt Webers Vergleich trotzdem etwas mehr Härte nahe, denn darin kann es der Staatenbund wohl mit keinem der drei Länder aufnehmen. Von Weber heißt es, er wolle eine neue starke EVP-Fraktion schmieden, zu der auch Giorgia Melonis Fratelli d’Italia gehören sollen. Angeblich will Weber daneben die Maltesin Roberta Metsola als EVP-Spitzenkandidatin aufstellen, um Ursula von der Leyen auszustechen.
Schweden will Rückführungen durch Druck ermöglichen
So gerät auch die Kommissionspräsidentin in die Defensive. Sie hat im Januar einige Vorschläge in die Diskussion geworfen. So müsse man die Grenzen im Mittelmeer und auf dem Balkan besser „überwachen“. Sie sagt freilich nicht: bewachen, schützen. Auch solle „die EU“ eine Liste sicherer Herkunftsstaaten beschließen. Rückführungen müssten „unmittelbar“ erfolgen bei denen, die kein Bleiberecht verdienten. Darin stimmt ihr wohl sogar die linke Sozialdemokratin Ylva Johansson zu. Doch das bleiben Gemeinplätze, solange die Instrumente nicht konkret benannt werden.
Mehr und schnellere Rückführungen sind eine Priorität der acht briefschreibenden EU-Partner, ebenso der schwedischen Regierung, die dem Gipfeltreffen als Inhaberin der EU-Ratspräsidentschaft vorsitzen wird. Im Jahr 2021 gelang es nur bei einem Fünftel der 340.500 abgelehnten Asylbewerber, sie abzuschieben. Auch im ersten Halbjahr 2022 blieb es hier bei enttäuschenden 19 Prozent. Zugleich nahmen die EU-weiten Asylanträge im vergangenen Jahr um 46,5 Prozent zu (wieder ohne Ukrainer).
Paris und Berlin halten still, trotz drehender Stimmung
In seiner Regierungserklärung vom Mittwoch vor dem Bundestag gab auch Kanzler Scholz diesem Ansatz seinen Segen. Solch ein Migrationsabkommen existiere schon mit Indien, Ähnliches könnte sich Scholz sogar für die EU als Ganzes vorstellen – wahrscheinlich mit Tunesien oder Marokko, von wo ja auch einige PR-Gelder an S&D-nahe Organisationen flossen. Scholz sieht „nach Jahren des Stillstands“ die Möglichkeit von Fortschritten in Sachen Migration, will durch besser Screenings Klarheit darüber haben, wer nach Europa kommt. Für den Außengrenzschutz soll natürlich Frontex zuständig sein.
In Brüssel hält die Pariser Regierung ähnlich still wie Berlin, will nichts Grundsätzliches verändern an den Migrationsflüssen in der EU, obwohl die öffentliche Stimmung in beiden Ländern sich immer mehr gegen diese Zustände wendet. Stärker wird der Gegenwind für Olaf Scholz aus den Ländern, die eine Art Kranz um Deutschland bilden. Österreich und die Niederlande sind mit ihrem Status als Transit- und Zielländer nicht zufrieden, weil das viel Unordnung schafft und dazu Aufgriffszahlen wie 2015 und 2016, mit denen man irgendwie umgehen muss.
Im Gespräch mit Nehammer sagte Mark Rutte auch: „Wir müssen uns wieder an die Dublin-Regeln halten, sonst wird Schengen nicht überleben.“ Die festen Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn zeigen nach Rutte bereits, dass Schengen nicht funktioniert. Das bedeutet sicher auch Einbußen für die Bürger, wenn nicht in ökonomischer Hinsicht, dann sicher an Freiheit beim Überfahren der betroffenen Grenzen. Rutte und Nehammer waren schon im letzten Jahr bei der Nicht-Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengenraum einig, weil sie eine weitere Aushöhlung der Zone und ihrer Regeln befürchteten.