Tichys Einblick
Michael Kretschmer zu Grenzsicherung:

„Wir brauchen Zäune, und wir brauchen vermutlich auch Mauern“

Der sächsische Ministerpräsident erkennt die Brisanz der Migrationslage und will die Grenzen zu Weißrussland "physisch" sichern. Er geht damit auf Distanz zur alten und zur neuen Bundesregierung.

IMAGO / SNA

Nun können die Positionen zu purzeln beginnen. Nach knapp drei Monaten einer unordentlichen Lage an der deutsch-polnischen Grenze mit Tausenden illegalen Einreisen befürwortet der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) nun plötzlich auch feste Grenzanlagen an den EU-Außengrenzen: „Wir brauchen Zäune, und wir brauchen vermutlich auch Mauern“, sind Kretschmers Worte, mit denen er weiter geht, als er müsste, um das Thema voranzutreiben. Denn schon allein Grenzzäune finden kaum das Wohlwollen der lenkenden Kräfte in Bundesrepublik und Europäischer Union.

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Kretschmer scheint damit noch einen Schritt weiter zu gehen als der neue österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), der einen „Mauerbau“ an den Ostgrenzen der Union auf dem jüngsten EU-Gipfel ausschloss und sich allerdings für einen „robusten Außenschutz“ in Form von Drohnen und Zäunen aussprach. Der Unterschied ist aber vor allem rhetorischer Natur. Denn ob Drohne, Zaun oder Mauer – es handelt sich stets um Mittel, die die massenhafte illegale Einreise von Migranten verhindern sollen. Zäune und Mauern, die beispielsweise im spanischen Melilla und Ceuta und neuerdings am griechischen Evros stehen, sind die materialgewordene Aufforderung an Migranten, sich – wenn schon – ordentliche, reguläre Wege der Einreise zu suchen.

Übrigens will Kretschmer die „physischen Grenzen“ wieder abbauen, wenn sich die Demokratie auch nach Weißrussland verbreitet. Solange will er zurückweisen und abschieben, auch während der Wintermonate. Nur so, glaubt Kretschmer, kann man die Botschaft in der Welt verbreiten, dass auf Flüge nach Minsk und Schlepperdienste nicht zu bauen ist.

„Wir dürfen uns nicht von einem Diktator erpressen lassen“

Nun wird kolportiert, dass der Äußerung Kretschmers ein Gespräch mit Ursula von der Leyen vorausgegangen sei. Also mit jener EU-Kommissionspräsidentin, die sich zwar von den nationalen Regierungsparteien in Mittelosteuropa wählen ließ, auch von Griechenland als dem „Schild Europas“ sprach, die aber die Finanzierung dieses Schildes tunlichst den Grenzländern überlassen will. Derzeit sind Zäune und Mauern (noch) keine offizielle Option für die Kommission.

Hat also eine Art Abstoßungsreaktion zwischen Kretschmer und von der Leyen stattgefunden? Oder unterstützt die Kommissionspräsidentin doch insgeheim seine Äußerungen? Kretschmer stimmte die Deutschen auf „keine schönen Bilder“ an den EU-Außengrenzen ein. Das scheint deshalb notwendig, weil die weißrussische Grenze den Deutschen etwas näher liegt als beispielsweise die Grenzmauern der spanischen Enklaven Nordafrikas, wo es seit vielen Jahren unweigerlich zu unschönen Szenen kommt. Das ergibt sich nun einmal, wenn die Einfriedung eines Territoriums missachtet wird. Man möchte einmal Robert Habeck an seinem Gartenzaun sehen, wenn die Apfeldiebe darüberspringen. Aber vielleicht hat er gar keinen.

Kretschmer findet seine Entscheidung selbst „bitter“. Niemand habe ein „Interesse an Mauern“. Allerdings gehe es jetzt darum, „dass die Europäische Union ihre Wehrhaftigkeit beweist“, also den Worten, die Ursula von der Leyen einst am Evros äußerte, auch in Polen, Lettland und Litauen Taten folgen zu lassen. Nichts scheint plausibler als das. Kretschmer sagt: „Ich möchte gern, dass diese Europäische Union jetzt stark ist und den Rücken gerade macht. Wir dürfen uns doch von so einem Diktator nicht erpressen lassen.“

Merkel verlässt die europäische Bühne mit Sorge

Die Alternative wäre übrigens, dass man weiter auf Teufel komm raus sanktioniert: die Weißrussen, ihre Industrie, europäische Betriebe, die Kalisalze von dort einkaufen, und die Fluglinien, die noch immer den weißrussischen Luftraum anfliegen. Ein kalter Krieg im Miniformat scheint da heraufzuziehen – was allerdings noch abzuwarten bleibt. Denn diejenigen, die nun am lautesten Sanktionen fordern, werden uns nicht mehr lange regieren.

Angela Merkel verlässt die europäische Bühne angeblich „mit Sorge“. Ihren Nachfolgern hat sie die eine oder andere „Baustelle“ hinterlassen. So viel rückblickende Selbstkritik war selten von der Kanzlerin zu hören. Doch auch Forderungen wie die aktuelle von Michael Kretschmer haben in den letzten sechs Jahren fast ganz gefehlt.

Der Ministerpräsident sprach sich zudem für Hilfen an Litauen, Lettland und Polen aus, wie sie auch von den EU-Staats- und Regierungschefs an die EU-Kommission herangetragen wurden. Kretschmer formuliert: „Erst wenn die Grenze dort dicht ist und die Menschen nicht mehr eingeschmuggelt werden können, erst dann wird dieses Phänomen ein Ende haben.“ Zumindest damit dürfte der Sachse Recht behalten.

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