Auf ihrer Pressekonferenz zum Integrationgipfel am 2. März befragten Journalisten Angela Merkel auch zu dem Migrantenandrang an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Gibt es nicht ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom März 2016, das Erdogan – gegen umfangreiche Zahlungen der EU – dazu verpflichtet, Migranten zurückzuhalten?
Angela Merkel antwortete darauf mit einem so merkwürdig gewundenen Satz, dass es Mühe kostet, ihn zu zergliedern: „Für mich ist es eine Option, mit der Türkei zu sprechen, damit wir zu dem Zustand zurückkehren, den wir hatten, nämlich dass die Türkei durch die zusätzlichen Belastungen die Möglichkeit bekommt, ihre Verpflichtungen auch zu erfüllen mit unserer Unterstützung.“
Sie sprach also nicht von einem „Abkommen“, sondern von einem „Zustand“, zu dem es zurückzukehren gelte. Die Formulierung, die Türkei bekäme durch die „zusätzlichen Belastungen die Möglichkeit, ihre Verpflichtungen zu erfüllen“, ergibt wenig Sinn. Möglicherweise meinte sie ‚trotz der Belastungen’. Interessant sind aber vor allem die Begriffe ‚Zustand’, ‚Verpflichtungen’ und ‚unsere Unterstützung’. In der Tagesschau vom Montag, in der Merkels Stellungnahme zu hören war, benutzte die Redaktion in ihren Beiträgen den Begriff „Abkommen“, an einer Stelle auch „gemeinsames Flüchtlingsabkommen“ – so, als gäbe es auch einseitige. Die Sprachregelung gilt in den meisten Medien als etabliert: meist ist von dem „EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen“ von 2016 die Rede, das Merkel zusammen mit dem niederländischen Premierminister und EU-Ratspräsidenten Mark Rutte seinerzeit ausgehandelt hatte – und gegen das Erdogan jetzt zu verstoßen scheint. Dieses Abkommen gilt bis heute vor allem als Merkels Deal, als Meisterprobe ihres Verhandlungsgeschicks. Um es vorwegzunehmen: ein Abkommen im Sinn eines unterschriebenen und von Parlamenten ratifizierten Vertrags existierte nie. Was stattdessen existiert, steht rechtlich auf wackligem Grund. Welche Nebenabsprachen die beiden Regierungschefs damals mit der Türkei trafen, liegt bis heute im Halbdunkel.
Am Abend des 7. März 2016 fuhren Kanzlerin Angela Merkel und der niederländische Premierminister Mark Rutte in die EU-Vertretung von Ankara, um sich mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu zu treffen. Als Ergebnis der Unterredung, entstand also das ‚EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen’ – so stellte es lange Zeit die Bundesregierung dar, und so übernahmen es die meisten deutschen Medien. Das besteht nach Interpretation der Bundesregierung im Wesentlichen aus vier Punkten: Griechenland kann illegal aus der Türkei eingereiste Migranten zurück überstellen. Dafür dürfen syrische Flüchtlinge in gleicher Zahl direkt aus der Türkei in die EU einreisen. Die Türkei sichert ihre Land- und Seegrenze gegen illegale Grenzübertritte in die EU. Dafür und für die Betreuung und Ausbildung von syrischen Migranten, die in der Türkei aufgenommen wurden, leistet die EU bis Ende 2018 insgesamt eine Zahlung von sechs Milliarden Euro an die Türkei. Im Wesentlichen entspricht das dem Inhalt der deutsch-türkischen Regierungskonsultationen vom 22. Januar 2016.
Am 7. März 2016 verhandelten Merkel, Rutte und Davutoğlu kein Abkommen. Auf einem Gipfeltreffen der EU-Staatschefs und der Türkei am 18. März 2016 bestätigten die Teilnehmer die vorher besprochenen Vereinbarungen, unterzeichneten aber kein gemeinsames Dokument. Beiden Seiten, Türkei und EU, gaben lediglich Pressemitteilungen heraus.
Bei dem Punkt, dass nie ein förmliches Abkommen zustande kam, handelt es sich nicht nur um eine Formalie. Denn ein Abkommen hätte dem EU-Parlament und möglicherweise auch denen der Mitgliedsstaaten vorgelegt werden müssen, zumal es um weitreichende finanzielle Verpflichtungen der EU-Seite ging. Abgeordnete hätten dann auch die Möglichkeit gehabt, sich Dokumente über die Vorgeschichte eines Abkommens vorlegen zu lassen, einschließlich eventueller Nebenverabredungen.
Auch eine mündliche Vereinbarung kann Vertragscharakter annehmen, wenn beide Seiten den Willen zeigen, sich daran zu halten. Allerdings ist seine Bindungswirkung geringer als die eines von offiziellen Vertretern unterschriebener und von Parlamenten ratifizierter Vertrag.
Dass ein EU-Türkei-Vertrag formal nicht existiert, bestätigte gewissermaßen offiziell der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil vom Februar 2017 (Rechtssachen T-192/16, T-193/16, T-257/16). Damals hatten zwei Pakistaner und ein Afghane gegen das, wie sie es interpretierten, EU-Türkei-Abkommen geklagt. Das Gericht urteilte, es gebe einen solchen Vertrag nicht, höchstens einen „EU-Turkey-Statement“ beziehungsweise einen gemeinsamer Aktionsplan („joint action plan“). Gegen ein Abkommen, das so nicht existiere, könne eine Klage keinen Erfolg haben.
Von EU-Seite, bekräftigte der Gerichtshof, gebe es nicht mehr als eine Pressemitteilung („On 18 March 2016, a statement was published on the Council’s website in the form of Press Release No 144/16, designed to give an account of the results of ‘the third meeting since November 2015 dedicated to deepening Turkey-EU relations as well as addressing the migration crisis’ (‘the meeting of 18 March 2016’) between ‘the Members of the European Council’ and ‘their Turkish counterpart’ (‘the EU-Turkey statement’).“
Auch wenn im Kopf der Pressemittelung „EU Council“ gestanden habe, so die Richter, seien die Staatschefs nur in ihrer Funktion als Staatschefs und nicht als Mitglieder des Europäischen Rats in Ankara gewesen:
„In those circumstances, the Court finds that the expression ‘Members of the European Council’ and the term ‘EU’, contained in the EU-Turkey statement as published by means of Press Release No 144/16, must be understood as references to the Heads of State or Government of the European Union who, as during the first and second meetings of the Heads of State or Government on 29 November 2015 and 7 March 2016, met with their Turkish counterpart (…)“
Das Bundespresseamt bat Journalisten trotzdem, von einem „EU-Türkei-Abkommen“ zu sprechen und zu schreiben, da „Deal“ – was etliche Medien benutzten – negativ klinge.
Später benutzte dann die Bundesregierung selbst die Bezeichnung „gemeinsame Erklärung mit der Türkei“.
Wie gesagt: auch eine informelle Verabredung kann im internationalen Recht Bindungswirkung entfalten, wenn alle Seiten sich daran halten. Das war von Anfang an nicht der Fall, hauptsächlich, weil Griechenland seine Aufgabe nicht erfüllte, abgewiesene Migranten umgehend an die Türkei zu überstellen. Stattdessen brachten die Behörden etliche Migranten von den Inseln auf das Festland, im Wissen, dass sie dann weiter nach Mitteleuropa ziehen würden. Viele andere überließen sie in überfüllten Lagern auf Lesbos und anderswo sich selbst. Trotzdem nahm die EU sehr viel mehr syrische Migranten aus der Türkei auf. Von der Praxis ‚für jeden zurückgeschickter illegal Eingereisten nehmen wir einen Migranten auf’ konnte nie die Rede sein. Auf eine Anfrage räumte die Bundesregierung 2019 ein, dass 2018 aus Griechenland gerade 322 Migranten in die Türkei rücküberstellt wurden. Im gleichen Jahr nahm die EU 6.929 regulär einreisende Migranten aus der Türkei auf – die meisten davon Deutschland.
Die Türkei ihrerseits hielt sich ganz offensichtlich nicht an Punkt 9 der Vereinbarung vom 18. März 2016, der sie dazu verpflichtete, die humanitäre Situation in Syrien zu verbessern, besonders im Grenzgebiet. Im Gegenteil: durch ihre Militäroperation in Nordsyrien sorgte die Türkei für große Fluchtwellen.
Ihre finanziellen Zusagen erfüllte die EU bis Ende 2018. Dafür riegelte die Türkei ihre Grenzen für illegale Migranten nicht ganz dicht, aber doch zumindest lange Zeit weitgehend ab.
Der EU-Türkei-Handel, der nie ein Abkommen war, sondern eine informelle Verabredung zwischen Staatschefs, funktionierte also in etlichen zentralen Punkten nie richtig. Im Grunde hatte Merkel, die sich für diesen Deal loben ließ, nur für viel Geld den Schutz der EU-Außengrenze durch türkisches Militär erkauft, allerdings weder mit einem richtigen internationalen Vertrag noch dauerhaft. Erdogan war immer frei, sich von der formlosen Verabredung auch wieder zu verabschieden – wie er es gerade tut. In der gekauften Zeit tat die EU kaum etwas, um den Grenzschutz auf ihrer Seite zu verstärken. Zurzeit sind in Griechenland nur 400 Beamte der EU-Grenzschutzorganisation Frontex stationiert. Vor allem verhinderte Merkel jede wirksame Kontrolle an der deutschen Grenze – obwohl Deutschland nach wie vor die meisten Migranten anzieht.
Gab es möglicherweise noch Nebenabreden im Zuge des Nicht-abkommens von 2016? Der WELT-Redakteur und Autor Robin Alexander schreibt in seinem Buch „Die Getriebenen“ genau das:
„Deshalb wird nirgendwo schriftlich fixiert, was nun vereinbart wird: Zwischen 150 000 und 250 000 Flüchtlinge sollen pro Jahr aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden. Merkel, Davutoğlu und Rutte haben sich an diesem Abend (7. März 2016 – d. A.) in der türkischen EU-Vertretung in Brüssel per Gentleman‘s Agreement darauf geeinigt“.
Sollte Merkel der Türkei also etwas im Namen der EU versprochen haben, was sie unmöglich halten konnte – schon wegen der mangelnden Bereitschaft der anderen Staaten, derart viele Migranten aufzunehmen?
Am 6. Juni 2018 las die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch in einer Befragung der Bundesregierung im Bundestag diese Passage aus Alexanders Buch vor, und fragte: trifft das zu, ja oder nein?
Merkels Antwort lautete nicht: nein. Sondern sie gab wieder eine ihrer vielfach gewundenen Stellungnahmen ab. Im Protokoll der Bundesregierung heißt es:
„Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
„Es gab Gespräche zum Abschluss einer Vereinbarung mit der Türkei, die wir gemeinhin ‚Türkei-Abkommen’ nennen, die beinhaltet, dass jeder auf dem illegalen Weg über die Ägäis ankommende syrische Bürger in die Türkei zurückgeschickt werden kann und wir im Gegenzug bereit sind, ein gewisses Kontingent an Menschen aufzunehmen, die aus Syrien kommen, aber auf legalem Wege.
Es gab also keinerlei andere Absprachen. Sie kennen den Wortlaut der Vereinbarung mit der Türkei, und das war das, was wir an diesem Abend – am 06. März 2016 – auch vorbesprochen haben.“
Hier sprach sie also nicht davon, dass für jeden in die Türkei zurückgeschickten Migranten genau ein Migrant in die EU kommen sollte, sondern nur von einem nicht bezifferten „gewissen Kontingent“.
Zu dem Versprechen, 150.000 bis 250.000 Migranten aus der Türkei in die EU aufzunehmen, teilt sie nur mit, es habe „keinerlei andere Absprachen“ gegeben. Keine anderen Absprachen als welche? Die, die Robin Alexander in seinem Buch schildert? So kann man Merkels Antwort verstehen. Träfe die Behauptung über einen Deal vor dem Deal nicht zu, dann hätte sie das ausdrücklich dementieren können.
Wenn die Aufnahme von bis zu 250 000 Migranten in die EU versprochen, aber nie gehalten wurde, dann hätte Erdogan erst recht keinen Grund, seine Zusagen zu erfüllen.
Er könnte für seine Grenzwächterdienste neue Milliarden verlangen, EU-Unterstützung für seinen Feldzug in Syrien oder beides. So lange die EU nicht bereit ist, ihre Grenzen selbst gegen illegale Migration zu sichern, bleibt er im Geschäft. Die vier Millionen Migranten aus Syrien, Pakistan, Irak und anderen Ländern, die aus der Türkei weiter wollen, bleiben sein Drohpotential.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) forderte inzwischen, mit Erdogan neue Verhandlungen aufzunehmen: „Was sollen wir sonst tun?“