Niemand konnte erwarten, dass Angela Merkel ihr „Wir schaffen das“ bei Anne Will zurücknimmt oder auch nur relativiert. Diese Sätze werden noch oft zitiert werden:
- „Stellen Sie sich doch mal vor, wir würden alle sagen, wir schaffen es nicht – das geht doch nicht.“
- „Ich mag mein Land. Aber nicht nur ich mag mein Land, sondern Millionen andere. Da kann man nur so rangehen, dass wir das schaffen.“
- „Wir können die Grenzen nicht schließen. Wenn man einen Zaun baut, werden sich die Menschen andere Wege suchen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht.“
- „Es ist im Augenblick nicht möglich, Zahlen zu benutzen. Aber das ist auch egal. Es sind sehr, sehr viele.“
- „Glauben Sie, dass Flüchtlinge ihr Land verlassen wegen eines Selfies mit der Kanzlerin?“
- „Aber jetzt ist die Situation da.“
- „Ich sehe, dass manche am Ende ihrer Kräfte sind. Ich weiß, was vor Ort los ist, ich bin dankbar dafür, was geleistet wird.“
- „Jetzt habe ich eine schwere Aufgabe, und jetzt muss ich mich damit auseinandersetzen.“
- „Ja, ich habe einen Plan.“
- „Es hat keinen Sinn, etwas zu versprechen, was ich nicht halten kann.“
- „Das dauert länger, als sich das manche wünschen.“
- „Multikulti halte ich für eine Lebenslüge. Das heißt für mich, jeder kann tun und lassen, was er will.“
Auf Anne Wills entscheidende Frage, welches Deutschland das sein wird, wenn alles geschafft ist, sprach Angela Merkel von Grundgesetz, sozialer Marktwirtschaft, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, dem, „was uns stark und gut und auch liebenswert macht“. Eine Antwort war das nicht. Sie gab keine, weil sie keine hat, weil Politik in der Massenmedien-Demokratie so weit nicht blickt.
Bei der Einordnung von Angela Merkels Auftritt bei Anne Will ist es wie bei den sogenannten Duellen der Kanzlerkandidaten. Wer gewonnen hat, wird nicht im Duell entschieden, sondern in den Meinungsführer-Medien danach – im Fernsehen sofort, gedruckt am nächsten Tag. Im Fernsehen hat die Kanzlerin gestern Abend gewonnen, bei den meisten anderen Medien heute früh auch: mit einem deutlichen Gefälle von den überregionalen zu den regionalen Zeitungen – je regionaler, desto kritischer. Die Nähe und Ferne zur Wirklichkeit prägt: Das Dasein bestimmt das Sein – nicht umgekehrt.
Zeitungen vor Ort sind mit den Problemen konfrontiert. Fern in den klimatisierten Berlin-Büros in Sichtweite Kanzleramt wird das Binnenklima im Raumschiff umgewälzt. Geschickt hat die Kanzlerin die eigentlichen Probleme umschifft, und die Moderatorin fragte auch nicht danach: Es geht nicht um Stacheldraht und undurchlässige Grenzen, sondern um die Höhe des Versorgungsversprechens (derzeit lebenslang für die ganze Familie), um Familiennachzug, Taschengeld und Wohnungsgröße – alles Dinge, die in Deutschland großzügiger geregelt sind als in Frankreich oder Polen und die ohne jede Änderung des heiligen Grundrechts auf Asyl änderbar sind. Dieses aktuelle Versagen ist eine Einladung an immer neue Zuwanderer – nicht an Flüchtlinge.
Gewonnen an Erkenntnis habe ich gestern nicht. Es sei denn, es ist ein Gewinn, dass sich mein Bild von der Kanzlerin bestätigt und verfestigt hat. Angela Merkel will so weiter machen wie bisher. Wieviele Zuwanderer bereits da sind und noch kommen werden, kann der Staat weder überblicken noch beeinflussen. Er kann nur mit der Lage improvisierend umgehen, so gut das eben geht. Dabei muss er nicht nur auf die Geduld der Bürger setzen, sondern auf das anhaltende aktive Engagement vieler Ehrenamtler und den überdurchschnittlichen Einsatz der Hauptamtler. Man kann es auch als Kapitulation lesen. Bürger retten, was die Kanzlerin versemmelt oder übersehen hat.
Merkels demonstrierter Optimismus hängt ganz und gar daran, wie schnell sie mit Hollande und den anderen den türkischen Ministerpräsidenten dazu bringt, neue – gute – Lager zu errichten und die Grenze zu Griechenland dicht zu machen. Vorher rechnet sie mit keiner merklichen Abnahme der Zuwandererzahlen. Merkel kleidete die große Krise wie in ihrer gestrigen Rede vor dem Europaparlament in die Formel von der „historischen Bewährungsprobe“. Sie ist die Kanzlerin von Erdogans Gnaden.
Politikversagen amtlich festgestellt
Denn was Merkel gestern bei Will sagte und was sie nicht sagte, ist der Offenbarungseid des Politikversagens. Die Politik in Berlin und Brüssel ist in diese Lage geraten, weil sie nur nach Sicht gesteuert hat. Die am Horizont deutliche Weltwanderungsbewegung haben die Kapitäne ignoriert. Sie haben nicht gegengesteuert, als das UNHCR die Gelder in den Flüchtlingslagern an den syrischen Grenzen kürzte. Sie haben Milliarden in die Griechenlandrettung gesteckt, ohne das mit entschiedenen Maßnahmen an der türkisch-griechischen Grenze zu verbinden. Sie haben die Sicherungsmaßnahmen im Mittelmeer zurückgefahren, bis die Bilder von Ertrunkenen zuviel wurden. Die Liste der versäumten und falschen Politiken ist noch viel länger. „Aber jetzt ist die Situation da“, sagt Merkel. Ja, sie ist da, weil sie nur auf Sicht gesteuert hat. Und nun sagt sie uns, dass sie Deutschland aus der Krise holt, indem sie auf Sicht steuert.
Ich schließe gar nicht aus, dass „wir das schaffen“. Aber das wird erstens sehr lange dauern – länger als jede denkbare Kanzlerschaft Merkels – und zweitens mit schweren Verwerfungen in den Gesellschaften Europas einher gehen, nicht nur, aber vor allem in Deutschland. Bis die 100.000 neuen öffentlichen Bediensteten als Lehrer, Polizisten und andere Beamte ihre Arbeit aufnehmen können, bis hunderttausende neuer Wohnungen bereitstehen, können ja die Probleme und Konflikte nur zunehmen. Die Zuwanderer in den Erstaufnahme-Einrichtungen zu kasernieren – bis zu sechs Monaten und länger – potenziert die Probleme. Ob die davon erhoffte schnellere Abschiebung stattfindet, kann auch Merkel nicht wissen.
Merkel hat denen aus ihren eigenen Reihen, die von ihr eine Abwehr-Politik wollen, wie sie die meisten anderen EU-Länder der Einwanderung gegenüber betreiben, keine Antwort gegeben. Der Brief der 34 wird Merkel zu keiner Kursänderung bringen, die Rufe aus den Länderregierungen und Kommunen auch nicht. Die Spekulationen um ein Ende der Merkel’schen Kanzlerschaft nehmen nach der gestrigen TV-Stunde ab, Rufe nach ihrer Ablösung laufen ins Leere.
Heute ist Angela Merkel in ihrem Amt unangefochtener als gestern. Je mehr die große Krise zunimmt und je mehr Leute ihre Auswirkungen selbst zu spüren kriegen, desto mehr wird sich die Mehrheit an Merkel klammern. Es ist wie bei dem militärischen Bild: Hat der Truppenführer die Richtung verloren, erhöht er die Marschgeschwindigkeit. Das hält die Leute vom Denken ab und sichert die Moral der Truppe. Kritiker werden sagen: So geht es schneller in die Niederlage.
Merkel sagte gestern: „Es hat keinen Sinn, etwas zu versprechen, was ich nicht halten kann.“ Leider hat Anne Will, die sich sonst gut schlug, hier nicht gefragt: gilt das auch für den Satz „Wir schaffen das“? Merkel sagte auch: „Ja, ich habe einen Plan.“ Der besteht aus nicht mehr als: „Jetzt habe ich eine schwere Aufgabe, und jetzt muss ich mich damit auseinandersetzen.“ Auch wenn das Studio-Publikum nicht repräsentativ für das ganze Volk ist, seine verhaltene Reaktion sagte mir zweierlei: Sie gingen ohne Antworten auf ihre eigenen Fragen aus der Sendung, aber sie werden auch weiter verhalten Beifall spenden. Wie die Mehrheit der Kanzlerin weiter folgen wird.
Angela Merkel hat gestern keine Regierungserklärung abgegeben, wie manche Medien schreiben, sondern eine Nichtregierungs-Erklärung. Sie wird die große Krise verwalten. Von der Vorstellung, dass deutsche Politik im Bundestag gemacht wird, müssen wir uns verabschieden: Die Fragen der Opposition stellt Anne Will, und nur dort stellt sich ihnen die Kanzlerin. Die große Krise wird Deutschlands New Normal.