Tichys Einblick
Wendepunkt

Merkels Iden des Februar

Eine kurze verfassungsrechtliche Betrachtung zu den Berliner und Thüringer Vorgängen.

imago Images/IPON

Am Samstag kam im Kanzleramt der Koalitionsausschuss zusammen. Das Gremium stellt eine Besonderheit dar: Es findet sich nirgends im Grundgesetz, gehört weder richtig zur Exekutive noch zur Legislative, bestimmt aber die Richtlinien der Politik ganz wesentlich mit. Normalerweise klärt der Koalitionsausschuss – ein Gremium, das aus den Vorsitzenden der Parteien besteht, die das Bundeskabinett tragen – strittige Fragen innerhalb dieser Koalition, die Regierungsprojekte beziehungsweise das Abstimmungsverhalten im Bundestag betreffen.

Die Koalitionsausschuss-Sitzung am 8. Februar wich gleich doppelt von dieser Praxis ab. Erstens nahm daran – und zwar federführend – Bundeskanzlerin Angela Merkel teil, die formal der CDU nicht vorsitzt, sondern faktisch der Bundesregierung, also einem Organ der Exekutive. Und zweitens beschäftigte sich diese Sitzung ausschließlich mit Angelegenheiten, die das Parlament eines Bundeslandes betreffen. Beziehungsweise die Parlamente wie auch die Parteiverbände anderer Bundesländer. Nicht über jede Koalitionsausschuss-Sitzung der Vergangenheit gibt es exakte Protokolle. Aber diese Tagung dürfte ein Novum gewesen sein: Es nehmen Teil eine Kanzlerin, die beiden Vorsitzenden der SPD (von denen einer, nämlich Norbert Walter-Borjans, über kein parlamentarisches Mandat verfügt), die nominelle Vorsitzende der CDU Kramp-Karrenbauer, auf die es schon nicht mehr ankam, und die auch über kein parlamentarisches Mandat verfügt, und der Vorsitzende der CSU. Telefonisch zugeschaltet war nach Medienberichten zeitweise noch der Thüringer Linkspartei-Politiker Bodo Ramelow. Gemeinsam legte die Gremiumsmitglieder im Kanzleramt detailliert fest, dass

Um mit dem letzten Punkt zu beginnen: Damit definiert die Kanzlerin zusammen mit zwei SPD-Parteivorsitzenden, die selbst in keinem Parlament sitzen, der CDU-Vorsitzenden, die in keinem Parlament sitzt, und dem CSU-Chef auf unbegrenzte Zeit das Stimmverhalten von Abgeordneten ihrer Parteien von der Bundes- bis hinunter zur Gemeindeebene. Das freie Mandat, für Bundestagsabgeordnete im Grundgesetz in Artikel 38 und in den Länderverfassungen in ähnlichen Artikeln garantiert, stand in dem Parteienstaat Deutschland realiter schon immer etwas schwach da. Die Koalitionsausschuss-Entschließung schafft es praktisch ab. Denn „keine politischen Mehrheiten“ bedeutet ja, dass selbst dann, wenn die Koalitionsdisziplin aufgehoben wird, etwa bei der Entscheidung über die Organspende, trotzdem von Unions- und SPD-Abgeordneten peinlich darauf geachtet werden müsste, dass sich keine Mehrheit mit AfD-Stimmen bildet.

Der Punkt, in Thüringer müssten „baldige Neuwahlen“ herbeigeführt werden, geht darüber noch hinaus. Denn zu Neuwahlen bestimmt Artikel 50 der Thüringer Landesverfassung:
„Die Neuwahl wird vorzeitig durchgeführt,1. wenn der Landtag seine Auflösung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder auf Antrag von einem Drittel seiner Mitglieder beschließt.“

Der Koalitionsausschuss aus Kanzlerin, Parteifunktionären der SPD und der CDU und dem CSU-Vorsitzenden trifft also eine Verfügung über das Stimmverhalten von zwei Dritteln der Thüringer Landtagsmitglieder.
Der gleich doppelte Verfassungsbruch liegt auf der Hand: erstens gegen Artikel 45 der Thüringischen Landesverfassung, der Staatsfundamentalnorm des Landes:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Es verwirklicht seinen Willen durch Wahlen, Volksbegehren und Volksentscheid. Es handelt mittelbar durch die verfassungsgemäß bestellten Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung.“

Und zweitens gegen den sehr ähnlich gefassten Artikel 20 (3) des Grundgesetzes:
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“

Ein nicht verfassungsmäßig bestelltes Gremium hebt also erstens das freie Mandat von Abgeordneten weitgehend auf – nicht nur in Thüringen. Und ein Gremium auf Bundesebene unter Einschluss der Kanzlerin greift tief in die Belange eines Bundeslandes ein, es schiebt also die föderale Ordnung in einem wichtigen Punkt – Herbeiführung von Neuwahlen – kurzerhand beiseite.

Am interessantesten erscheint der Punkt zur „Erwartung“ der Koalitionsausschuss-Mitglieder, der Thüringer Ministerpräsident Thomas Kemmerich solle „die einzig richtige Konsequenz ziehen“ und zurücktreten. Denn gerade aus Sicht der Thüringer Landtagsverwaltung und vor allem der Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linkspartei) war das nicht nur nicht die „einzig richtige Konsequenz“, sondern ein riskanter und falscher Schritt. Noch einen Tag vor der Koalitionsausschuss-Sitzung hatte Kemmerich eine Pressemitteilung über ein Gespräch mit Landtagspräsidentin Keller herausgegeben, in dem es um einen geordneten Rückzug ging, also ein Verbleib im Amt bis zur Neuwahl eines Ministerpräsidenten:
„Ich hatte die Landtagspräsidentin um das Gespräch gebeten, um mit ihr von Verfassungsorgan zu Verfassungsorgan zu klären, wie eine schnelle und geordnete Amtsübergabe erfolgen kann, ohne zum Beispiel durch einen sofortigen Rücktritt den Stillstand der Regierungsgeschäfte im Freistaat zu verursachen. Im Ergebnis wird Frau Landtagspräsidentin den Ältestenrat schnellstmöglich zu einer Sondersitzung einberufen. Dort wird im Lichte der etwas komplizierten verfassungsmäßigen Situation hoffentlich einvernehmlich ein Weg aufgezeigt werden, wie es schnell zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten kommen kann. Die Juristen der Landtagsverwaltung wie auch der Staatskanzlei sind sich darüber einig, dass ein sofortiger Rücktritt Risiken bergen könnte, da es immer die Notwendigkeit wichtiger Entscheidungen der Landesregierung geben kann, für die es ein nicht nur geschäftsführendes Regierungsmitglied braucht.“

Die Bedenken von Landtagsjuristen und der Landtagspräsidentin waren nicht grundlos oder formal. Kemmerich hatte – dem politischen Druck folgend – keine Minister berufen. Sollte ihm etwas zustoßen, so die Argumentation von Keller, dann stünde das Land bis zur Neuwahl eines Regierungschefs ganz ohne Regierung da.
Bekanntlich trat er einen Tag später trotz dieser Bedenken zurück.

Nun kann jemand zugunsten des Koalitionsausschusses einwenden, er habe ja nur gesagt, was er „erwartet“. Allerdings sprach der kleine mächtige und in der Verfassung nicht vorgesehene Zirkel seine „Erwartung“ nicht in den windstillen Raum. Sondern seine Beteiligten wussten, dass es gleichzeitig schon massive Gewaltdrohungen gegen Kemmerich und seine Familie und FDP-Politiker bundesweit gegeben hatte, und dass sie andauerten. Am Freitag waren Polizeiwagen vor dem Haus von Kemmerich vorgefahren, um es abzuriegeln. Sein Wohnhaus war schon am 5. Februar mit einer Parole beschmiert worden. Kemmerich ist Vater von sechs Kindern.

Am 8. Februar bewarfen „Unbekannte“ (Zeit Online“) das Wohnhaus der FDP-Politikerin Karoline Preissler in Barth, Mecklenburg-Vorpommern, mit Feuerwerkskörpern. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle setzte darauf eine Art Gnadengesuch auf Twitter an den stellvertretenden SPD-Parteichef und Juso-Führer Kevin Kühnert auf. Darin sprach sich Kuhle nicht grundsätzlich gegen Gewalt aus, sondern bat nur darum – unter ausdrücklichem Hinweis auf Preisslers Verdienst („engagiert sich gegen Nazis“), die Parteifreundin in Ruhe zu lassen.

In Schwerin beschmierten Linksradikale zeitgleich die Landesgeschäftsstelle der FDP. Die „Antifa Nord-Ost“ meldete einen „Besuch“ des FDP-Büros in Lüneburg.

Die Vorsitzende der Jungliberalen Ria Schröder berichtet in einem Interview mit ZEIT Online, sie sei beim Wahlkampf in Hamburg als „Nazi“ beschimpft worden. In dem ZEIT-Interview wird ihr die Frage gestellt:
„Was glauben Sie, wie junge Politikerinnen der FDP wie Sie diesen „Stempel“ jetzt wieder loswerden?“
Worauf sie die Feststellung, sie und andere FDP-Politiker trügen jetzt einen „Stempel“, gar nicht zurückweist, sondern Selbstkritik übt:
„Wir haben die Ereignisse in Thüringen nicht kommen sehen. Da waren wir nicht wachsam genug.“
Selbstkritik, verbunden mit dem Eingeständnis mangelnder Wachsamkeit – das gab es in Deutschland einige Jahrzehnte nicht. Jetzt schon, und zwar unter Mitwirkung eines Qualitätspresseorgans.

Eingebettet sind diese Übergriffe auf Privathäuser, FDP-Geschäftsstellen und Politiker in das Klima aggressiver linksradikaler Aufmärsche in Hamburg, Berlin und anderswo.

Der SPD-Vize Kevin Kühnert twitterte nach der Entlassung Christian Hirtes aus dem Amt des Ost-Beauftragten durch Merkel:
„Der erste Trittbrettfahrer der blau-schwarz-gelben Schande muss gehen. Ihm werden viele folgen.“
Mit dem Begriff „blau-gelb-schwarze Schande“ setzt er einen Rahmen für die Ereignisse, den auch andere dankbar benutzen. Das Bundesvorstandsmitglied der Grünen Jugend Timon Dzienus twitterte:
„Als nächstes sind Kemmerich, Mohring, Lindner fällig. Vorher geben wir keine Ruhe.“

Paragraph 105 des Strafgesetzbuchs definiert „Nötigung eines Verfassungsorgans“:

„Wer

1. ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder einen seiner Ausschüsse,
2. die Bundesversammlung oder einen ihrer Ausschüsse oder
3. die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes
rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt nötigt, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“

Ein Ministerpräsident ist ein Verfassungsorgan, ebenso jeder Bundestags- und Landtagsabgeordnete. Auf diejenigen, die Kemmerich und seiner Familie mit Gewalt drohten, trifft der Paragraf zu. Allerdings nicht auf die Mitglieder des Koalitionsausschusses. Denn sie drohen ja nicht mit Gewalt. Sie sprechen nur in verfassungswidriger Weise Erwartungen aus in einer Atmosphäre, in der andere drohen und „Druck der Straße“ (Sahra Wagenknecht) ausüben. Und sie sprechen ihre Erwartung aus im Bewusstsein, dass es diesen linksextremen Straßenterror gibt.
Zwischen den Mitgliedern des Koalitionsausschusses und denjenigen, die „Hausbesuche“ durchführen, kommt es also zu dem, was Juristen „kollusives Zusammenwirken“ nennen. Vor allem für die SPD ist der Weg dieses kollusiven Zusammenwirkens sehr kurz: Ihre Vorsitzenden formulieren im Koalitionsausschuss Forderungen an frei gewählte Abgeordnete, ihr Stellvertreter hält organisatorische Verbindung zu denjenigen, die ein robustes Verhältnis zur Gewalt pflegen, und liefert die Parolen dazu. Die juristische Literatur spricht bei der Kollusion, also dem Zusammenwirken mehrerer Kräfte auf ein Ziel hin von einem „Unrechtspakt“.

Wie die Welt am Sonntag auf Seite 3 berichtete, hatte Merkel den sofortigen Rückzug von Kemmerich dadurch erzwungen, dass sie gedroht habe, ansonsten die beiden Landesregierungen mit CDU- und FDP-Beteiligung zu beenden. Sie verfügte also über Sachverhalte, über die unter demokratischen Verhältnissen Landesverbände der Partei beziehungsweise Abgeordnete entscheiden. Und sie verfügte es, siehe oben, als Kanzlerin ohne Parteimandat.

In einem Interview mit der WELT sagte der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) – ganz kurz vor dem auch formalen Rücktritt Kramp-Karrenbauers als Parteichefin:
„Nur durch den Druck, den sie mit Markus Söder und Angela Merkel aufgebaut hat, kam der Rücktritt des frisch gewählten Ministerpräsidenten überhaupt ins Rollen. Sonst hätte sich da so schnell nichts bewegt.“

Jeder Abgeordnete kann sich natürlich weigern, der Auflösung des Landtags zuzustimmen (so, wie auch Kemmerich natürlich hätte im Amt bleiben können). Er kann auch nach politischen Mehrheiten zusammen mit der AfD suchen. Dann muss er allerdings die Konsequenzen bis zur Gefährdung seiner Sicherheit und der seiner Familie tragen. Bemerkenswerterweise gibt es bis jetzt von Merkel kein Wort, mit dem sie die Übergriffe gegen FDP-Politiker verurteilen würde.

Ihr kollusive Zusammenwirken mit Gewalttätern entkernt das Recht von Abgeordneten, hebt die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative auf und begründet die Merkel-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität der Bundesländer in politischen Kernfragen. Nach ihrer Definition und angesichts der realen Gewaltkulisse sind in Deutschland auf absehbare Zeit nur noch entweder ganz linke oder halblinke Regierungen möglich. Schon die FDP gilt in diesem Klima als Partei, die sich erst noch antifaschistisch bewähren muss, um in den Kreis der legitimen Mitspieler wieder aufgenommen zu werden.

An einem Wochenende hat Angela Merkel damit unter Mithilfe anderer Kräfte die Republik verändert.

Konsequenterweise sollte sie jetzt das Amt der von ihr gestürzten Kramp-Karrenbauer wieder übernehmen und 2021 noch einmal antreten.

Die Partei- und Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Susanne Henning-Wellsow nahm schon feinfühlig die Witterung einer neuen politischen Ordnung auf. In einem Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland forderte sie, die CDU-Abgeordneten im Erfurter Landtag müssten jetzt den Linkspartei-Kandidaten Bodo Ramelow im ersten Wahlgang zum Ministerpräsidenten wählen:

„Die Zeit für Spielereien ist vorbei. Bodo Ramelow noch einmal in einen dritten Wahlgang zu schicken, kommt für uns nicht infrage. Das muss im ersten Wahlgang sitzen. Wir werden also auch mit Teilen der CDU und einzelnen Abgeordneten der FDP reden.“ Hennig-Wellsow fügte hinzu, „die demokratische Mehrheit zumindest von Teilen der Abgeordneten von CDU und FDP“ müsse „im Vorfeld dokumentiert sein“.
Die Politikerin fordert also ganz offen die Abschaffung der freien und geheimen Wahl des Ministerpräsidenten.

Ihr Diktum unterscheidet sich praktisch nicht von dem berühmten Satz Walter Ulbrichts: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
So könnte auch das handlungsleitende Motto Angela Merkels lauten.

Die Vorgänge seit dem 5. Februar führen zu der Frage: Was ist mit dem Grundgesetzartikel 20 (4)? Dort heißt es über die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Dieser Punkt ist nicht erreicht. Oder, wie der Jurist sagt, er aktualisiert sich nicht. Denn so lange es noch freie Wahlen gibt, freie Medien, Versammlungsfreiheit, so lange ist auch andere Abhilfe möglich. Selbst dann, wenn die Anführerin der Bundesregierung zusammen mit anderen Hand an das Grundgesetz legt.

Was sollen Bürger im Rahmen ihrer demokratischen Möglichkeiten tun, um die Verfassung zu schützen? Das kann ihnen keine übergeordnete Instanz sagen. Hier gilt der berühmte Satz des Rechtsphilosophen und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Bockenförde, wonach der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Etwas einfacher gesagt: die Bürger müssen selbst wissen, was sie bereit sind hinzunehmen – und was nicht.

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