Angela Merkel mutet ihren Zuhörern gerne Widersprüche zu. Bei der CDU ist man in dieser Hinsicht längst schmerzfrei. Und so beginnt Angela Merkel auch ihren Auftritt beim heutigen Wahlkampfauftakt im Berliner Tempodrom: „Ihr wisst ja, dass ich mich seit der Abgabe des Parteivorsitzes vor fast drei Jahren grundsätzlich aus Wahlkampfveranstaltungen heraushalte. Amtsvorgänger, die ihre politische Arbeit beenden, sollten sich zurücknehmen. Das ist meine Haltung, meine feste Überzeugung.“
Eine Haltung und feste Überzeugung zu behaupten, während man gerade dabei ist, das Gegenteil zu praktizieren – Merkel beweist manchmal wirklich einen ganz eigenen Humor.
Die kurze, etwa 10-minütige Rede, die sie dann hielt, war nicht wegen des Gesagten bemerkenswert, sondern wegen des Ungesagten. Sie ließ das wichtigste Thema einfach weg.
Sie werde oft nach ihrer Bilanz gefragt. Eigentlich wolle sie keine ziehen. Da sei sie befangen. Aber auch mit dieser Haltung nimmt sie es dann nicht so genau und spart schließlich nicht mit Eigenlob für ihre Leistungen seit 2005.
Dass sie dabei wenig Rücksicht auf die Wirklichkeit nahm, mag wenig überraschen: Die Halbierung der Arbeitslosenzahlen reklamierte sie für sich (ohne die Agenda-Reformen der Vorgängerregierung zu erwähnen) ebenso wie die wenigen neuverschuldungsfreien Jahre seit 2014. („Das alles, was wir in der Pandemie leisten konnten und jetzt auch in der Flutkatastrophe zum Beispiel, das ist nur möglich, weil wir viele Jahre dafür gesorgt haben, dass solide gewirtschaftet wurde“). Sie lobt sich für die Eurorettung und für die Energiewende.
Merkel behauptet auch glatte Unwahrheiten: „Wir haben die Familien gestärkt, weil Familien das Rückgrat unserer Gesellschaft sind.“ Oder: „Wir haben unsere Sicherheitsinstitutionen massiv gestärkt und unsere Bundeswehr.“ Sie zählt Probleme auf: Alterung, Digitalisierung, Gefährdung der multilateralen Weltordnung, Kriege, Terror, europäische Außenpolitik … all das erwähnt sie. Und natürlich den Klimawandel.
Sie spricht auch über Afghanistan. Die Ereignisse dort zeigten, wie schnell sich die politische Lage ändern könne. Sie spricht vom Retten von Menschen dort.
Aber sie spricht nicht von den zu erwartenden Zuwanderern. Und sie verliert überhaupt kein einziges Wort über Migration, über die „Flüchtlingskrise“ von 2015. Eine migrationspolitische Botschaft oder auch Erfolgsbehauptung lässt sie komplett weg.
Bei früheren Reden nach 2015 hatte sie sich meist mit einer absurden Botschaft beholfen. So beispielhaft beim Parteitag von Essen im Dezember 2016, als sie das „Bewältigen“ der Lage als eine „herausragende Leistung unseres so starken Landes“ bezeichnete, das sei „Deutschland von seiner allerbesten Seite“ gewesen. Doch in derselben Rede sagte sie auch: „Eine Situation wie die des Spätsommer 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen. Das war und ist unser und mein erklärtes politisches Ziel.“ Deutschland sollte sich also nie wieder von seiner angeblich „allerbesten Seite“ zeigen.
Daran wollte sie heute aber offenbar angesichts ihres Abgangs und der drohenden neuen Migrationsbewegungen aus Afghanistan nicht erinnern.