Der Berliner Reichstag ist nicht das britische Unterhaus. Dort findet seit 1997 jeweils mittwochs um 12.00 Uhr in jeder Sitzungswoche des Parlaments eine Befragung des Premierministers statt („Prime Minister’s Question Time“), die es in sich hat. Vor vollem Haus und mit extrem hoher medialer Resonanz – in Print-Medien, Online und im TV.
Der Berliner Politikbetrieb dagegen erlebte heute erstmals eine offene Befragung der Kanzlerin durch die Abgeordneten. Um das Fazit vorwegzunehmen: Es war ein müder Abklatsch der britischen Praxis. Das lag sogar weniger an Angela Merkel, die rhetorisch nie brillieren konnte, sich aber heute als sattelfest im freien Frage- und Antwort-Duell erwies, sondern vor allem an den braven Fragen der Abgeordneten. Immerhin war der Bundestag für eine Fragestunde an einem Mittwochmittag erstaunlich gut besetzt.
Die Choreografie war regierungsfreundlich zwischen den Parlamentsfraktionen abgesprochen. Die Kanzlerin eröffnete mit einem knappen, weniger als fünfminütigen Statement zum bevorstehenden G7-Gipfel am Wochenende in Kanada.
Internationale Politik ist ihr Ding. Da konnte kaum etwas anbrennen. Auch der Versuch der AfD wie der Linksfraktion, die Kanzlerin als US-hörig und Russland-feindlich einzustufen, schlug in der anschließenden 20-minütigen Fragerunde zu diesem Thema fehl. Merkels diplomatisches Mantra, dass man mit allen im Gespräch sei – trotz aller Meinungsverschiedenheiten – ist ja auch schlecht zu widerlegen. Interessant ihre Festlegung zum Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA): Die Bundesregierung wird dem Bundestag das Abkommen demnächst zur Ratifizierung vorlegen.
Wer aber geglaubt hatte, dass die Opposition die Kanzlerin mit Fragen zu den Skandalen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Konzept bringen könnte, der musste schnell enttäuscht sein. Selbst der ansonsten scharfzüngige AfD-Abgeordnete Gottfried Curio prallte mit seiner Rücktrittsforderung, die er für die illegale Grenzöffnung seit dem Jahr 2015 und dem fast völligen Verzicht auf Kontrollen der Masseneinwanderung stellte („Wann übernehmen Sie dafür die Verantwortung? Wann treten Sie zurück?“), an Merkels routinierter Gelassenheit ab. Ungerührt wies sie auf die Rechtsprechung des Europäischer Gerichtshofs hin, der im Juli 2017 das deutsche Handeln in der Flüchtlingsfrage als rechtmäßig beurteilt habe. Sie bedankte sich unter dem Applaus der Parlamentsmehrheit bei der übergroßen Mehrheit der Mitarbeiter des BAMF für deren gute Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Auch beim damaligen Chef Frank-Jürgen Weise, der im Amt für Ordnung gesorgt habe. Ein Hohn eigentlich angesichts der Fakten. Und sie wiederholte ihre bekannte Position von der „außergewöhnlichen humanitären Situation im Sommer 2015“.
Die FDP-Opposition konzentrierte sich mit den meisten Fragen auf die EU und die drohende Verwässerung der Stabilitätsregelungen. Fraktionschef Christian Lindner etwa hätte sich Merkels Antwort an den französischen Präsidenten Francois Macron eher im Bundestag als in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gewünscht. Doch mit seiner Schlussfolgerung, die er aus dem Interview der Kanzlerin mit dieser Zeitung zog, traf er ins Schwarze. Italiens neue Regierung solle wohl vom Europäischen Währungsfonds einen Dispo-Kredit erhalten, um seine Verschuldungspolitik fortsetzen zu können. Merkel konterte diesen Vorwurf wie immer: „Ich sehe keine Verwässerung.“ Die deutsche Regierung werde auf die Einhaltung der Regeln achten. Geld gebe es nur gegen Bedingungen. Der Berliner Politikersprech dafür lautet: „Konditionalität.“ Im übrigen bleibe das Budgetrecht des Bundestags unangetastet. Kurzlaufende Kredite müssten in kurzer Zeit vollständig zurückgezahlt werden. Wer den permanenten Rechtsbruch in der Euro-Währungsunion Revue passieren lässt – von der Griechenland-Rettung bis zu den laufenden und folgenlosen Verletzungen des Stabilitätspakts durch Italien oder über Jahre hinweg auch durch Frankreich -, der kann sich über die Chuzpe der Kanzlerin nur wundern. Doch da eine überparteiliche Allianz aus Union, SPD und Grünen nach wie vor dem Merkel-Mantra anhängt: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“, kann sich die Kanzlerin breiter parlamentarischer Unterstützung sicher sein.
Wie gelassen Angela Merkel die Fragerunden-Premiere überstanden hat, belegt einer kleine Episode zur Agenda 10-Politik unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder, den sie dafür ausdrücklich gelobt hat. Als ein SPD-Abgeordneter darauf Bezug nahm und seine Partei (die sich ja ansonsten seit Jahren damit beschäftigt, diese Agenda-Politik rückabzuwickeln) für diese gute Politik lobte, replizierte die Kanzlerin lächelnd: „Ohne die herausragende Arbeit der damaligen CDU-Opposition im Bundestag und unsere damalige Mehrheit im Bundesrat“ wären die sinnvollen Reformen nicht Gesetz geworden. Und noch deutlicher: „Wir haben als Union die SPD-Bundesregierung manchmal in dieser Frage retten müssen.“ Sprach’s und erntete begeisterten Applaus in ihrer Unionsfraktion.
So ist der Kanzlerin nicht beizukommen. Das ist mein Fazit von heute. Ob dieser misslungene Angriff der Opposition am morgigen Donnerstag zu heilen ist, wenn sowohl AfD wie FDP mit getrennten Anträgen die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur BAMF-Affäre fordern, bleibt abzuwarten. Tichys Einblick ist auf jeden Fall dabei.