Tichys Einblick
Zensur und Selbstzensur

Meinungsfreiheit am Abgrund

Werden Meinungen, die der Staatsdoktrin oder vorherrschenden Ansichten widersprechen, als Hassrede verfolgt, ist niemand mehr davor gefeit, vor Gericht zu landen, weil er in einer Kontroverse gewagt hat, anderer Meinung zu sein.

IMAGO / Lehtikuva

Weitgehend unbeachtet von der deutschen Presse wird die Meinungsfreiheit in Europa derzeit von einer unscheinbaren, freundlichen älteren Dame verteidigt: Von Päivi Räsänen, der ehemaligen Innenministerin Finnlands. Die Medizinerin, Mutter von fünf Kindern und vielfache Großmutter, musste sich am 30. und 31. August 2023 vor dem finnischen Berufungsgericht verantworten. Stein des Anstoßes ist ein Tweet aus dem Jahr 2019. Räsänen hinterfragte darin, dass sich die Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands zur offiziellen Partnerin des Pride erklärt hatte: Aus Räsänens Sicht unvereinbar mit der Bibel.

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Diese Ansicht untermauerte die Christdemokratin mit einem Foto von Bibelversen aus dem Römerbrief, die Homosexualität thematisieren. Zudem hatte die praktizierende Christin bereits vor fast 20 Jahren eine kirchliche Broschüre unter dem Titel „Als Mann und Frau schuf er sie“ veröffentlicht, und darin eine in der christlichen Anthropologie verwurzelte Sicht auf Ehe und Familie dargelegt. Für die Veröffentlichung dieser Schrift steht auch der Lutherische Bischof Juhana Pohjola vor Gericht.

Dem Straftatbestand der „ethnischen Agitation“, der im finnischen Strafgesetzbuch unter dem Abschnitt „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ behandelt wird, würde in Deutschland wohl am ehesten jener der Volksverhetzung entsprechen; im Grunde handelt es sich um den Vorwurf der „Hassrede“. Massive Anschuldigungen also, die sich an einem Tweet entzünden, der lediglich die Ablehnung von Pride zum Ausdruck bringt – eine legitime Meinung, sollte man denken, schließlich gibt es auch innerhalb der LGBTQ-Community genügend Menschen, die nicht alle Ausdrucksformen eines queeren Lebensstils befürworten.

Weder Räsänen noch Pohjola rufen an irgendeiner Stelle zu Hass auf; sie hetzen auch nicht gegen Menschen, die ihre Sicht auf Ehe, Familie oder Sexualität nicht teilen. Sie legen lediglich die Haltung dar, die aus ihrem Glauben entspringt, und bekennen sich explizit zur Gleichheit und Würde aller Menschen. Laut Staatsanwaltschaft reicht das nicht: Sie legte gegen den einstimmig erfolgten Freispruch Berufung ein.

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Dass es hier überhaupt zu einer Anklage kommen konnte, ist bereits beunruhigend genug: ADF International, eine Menschenrechtsorganisation, die die Verteidigung Räsänens koordiniert, weist darauf hin, dass durch die willkürliche Natur von „Hassrede“-Paragrafen der „ungehinderte Austausch auch kontroverser Meinungen“, der für eine Demokratie “grundlegend“ sei, ad absurdum geführt und letztlich verunmöglicht werde. Tatsächlich fällt es schwer, sich unter solchen Umständen überhaupt Diskurs vorzustellen: Wer bestimmt künftig, wer sich wovon beleidigt fühlen darf? Hängt die Definition dessen, was „Hass“ ist, demnächst von der menschlichen Reife und vom Differenzierungsvermögen Einzelner ab? Zensur und Selbstzensur scheinen unvermeidlich, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung durch Delegitimierung und Kriminalisierung von Meinungen unterlaufen wird.

Nun mag mit dem Fall Räsänen/Pohjola für Christen und Angehörige anderer Religionen vordergründig das Recht auf dem Spiel stehen, ihren Glauben verbalisieren zu dürfen – an sich bereits ein dramatischer Eingriff in die Religionsfreiheit. Doch die beiden stehen nicht nur für Gläubige ein, sondern für alle europäischen Bürger: „Der Punkt ist nicht, ob es wahr ist oder nicht, sondern, dass es beleidigend ist“, so zitiert ADF die Staatsanwältin. Ein entlarvender Satz. Hinter dem Angriff auf Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit steht ein Angriff auf die Wahrheit selbst. Die Aussage impliziert, dass selbst das Aussprechen der Wahrheit strafbar sein könnte, sobald sie jemandem beleidigend vorkommt. Eine Haltung, die in Deutschland mit dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz bereits in Ansätzen Eingang in die Rechtsprechung finden soll: Hier wird etwa verboten, einen biologischen Mann als solchen zu benennen, wenn dieser das nicht will.

Werden Meinungen, die der Staatsdoktrin oder vorherrschenden Ansichten widersprechen, als Hassrede verfolgt, ist niemand mehr davor gefeit, vor Gericht zu landen, weil er in einer Kontroverse gewagt hat, anderer Meinung zu sein. Zensur und Selbstzensur werden zur Normalität. Wird gar die Wahrheit solchen Parametern unterworfen, rücken wir dem Totalitarismus ein entscheidendes Stück näher.

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Dass solche Gedanken einer Juristin im Dienste des Staates überhaupt in den Sinn kommen, ist symptomatisch für die nicht mehr nur schleichende Erosion des europäischen Wertefundaments. Umso erstaunlicher, dass in Deutschland kaum mediales Interesse daran besteht, diesen und andere Fälle zu thematisieren: Geradezu schlafwandlerisch balanciert man seit Jahren an einem Abgrund entlang, der unsere Grundrechte zu verschlingen droht. Von „Wehret den Anfängen“ kann hier keine Rede mehr sein, vielmehr treten die Gerichte regelmäßig Glutherde totalitärer Ansinnen aus – noch. Unbekümmert vertraut man den Konzepten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es scheint noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen zu sein, dass diese kein Selbstläufer ist, sondern nur funktioniert, solange Menschen mit dem entsprechenden Wertegerüst diese Ordnung leben und realisieren.

Selbst wenn Räsänen und Pohjola exotische Sonderlinge mit randständigen Außenseitermeinungen wären, wäre unabdingbar, dass der Staat ihr Recht auf freie Meinungsäußerung schützt, nicht angreift. Mit dem Freispruch von 2022 für Räsänen war Europas freiheitliches Selbstverständnis mit einem blauen Auge davongekommen – nun holt die finnische Staatsanwaltschaft erneut zum Schlag aus: „Freiheit stirbt immer zentimeterweise“, sagte Guido Westerwelle einst. Eine Warnung, der man allerspätestens dann Gehör schenken muss, wenn das öffentliche Kommentieren von Bibelversen kriminalisiert wird.

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