Erinnert sich noch jemand an Peter Altmaier (CDU)? Er war Merkels Wirtschaftsminister. Wenn es heute an Gas fehlt, an Speichern für Gas oder an Alternativen zu Gas, dann ist das zu einem guten Teil die Folge seiner Amtszeit. Jener Peter Altmaier behauptete im März 2020 vollmundig: „Kein einziger Arbeitsplatz geht wegen Corona verloren.“ Das war schlicht Größenwahn. Doch das war noch nicht mal das schlimmste daran – der Christdemokrat etablierte ein Verständnis vom Staat, der alles besser kann als seine Bürger, auch als die Wirtschaft. Und es folgte eine Entwicklung, in der scheinbar Selbstverständliches aufhörte zu funktionieren – vor allem die Wirtschaft.
Der Staat will eingreifen. Jetzt. Dass die Ferienzeit beginnt, hat der Staat offenbar so wenig kommen sehen wie ein Ehemann Weihnachten oder den Hochzeitstag. Nun will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) tausende Leiharbeiter aus der Türkei holen, um die Lücken an den Gepäckbändern zu schließen. Schnell muss das gehen, weil die Ferienzeit ja nicht kommt, sondern schon da ist. Hastig und massenweise eingestellte Leiharbeiter aus einem islamischen Land sollen also dafür zuständig sein, wie und welches Gepäck in große Passagiermaschinen kommt? Den islamistischen Terror wähnt Heil offensichtlich ebenfalls im Sommerurlaub.
Warum stellen die Betreiber nicht wieder das alte Personal ein? Die Frage steht im Raum. Darauf gibt es mehrere Antworten. Die einfachste: Wer 2021 von seinem Arbeitgeber in schweren Zeiten den Schuh in den Hintern bekommt, wird 2022 nicht den neuen Arbeitgeber verlassen, um zum alten zurückzukehren. Möglichst noch befristet für den Sommer.
Doch es gibt auch eine kompliziertere Antwort: Arbeiten lohnt sich in Deutschland nicht mehr. Zumindest nicht für Geringverdiener. Laut Stepstone.de verdient ein Gepäckabfertiger im Schnitt 34.100 Euro im Jahr. Als Single blieben ihm damit in Berlin etwa 1960 Euro netto im Monat, als alleinverdienender Ehemann rund 2200 Euro. Als Hartz-IV-Empfänger bekäme der Gepäckabfertiger 449 Euro, eine Ehefrau 404 Euro. Dem verheirateten Alleinverdiener blieben also rund 1.350 Euro im Monat mehr. Davon muss er allerdings die Miete zahlen. Laut Wohnungsboerse.net beträgt der durchschnittliche Preis dafür 17,42 Euro den Quadratmeter in Berlin. Der Mann müsste also rund 900 Euro für eine kleine Wohnung aufbringen – blieben also noch 450 Euro im Monat mehr als bei einem Hartz-IV-Empfänger. Und das obwohl Gepäckabfertiger fast den deutschen Durchschnittslohn erreichen.
Nur: Die 450 Euro muss sich der Gepäckabfertiger einteilen. Wird seine Frau schwanger, muss er davon die Erstausstattung bezahlen, die der Hartz-IV-Empfänger vom Staat gestellt bekommt. In eine größere Wohnung umziehen, wird er nicht wollen. Nicht nur wegen der höheren Miete. Die Erstausstattung für die Wohnung müsste er ja auch bezahlen. Die bekommt der Hartz-IV-Empfänger bezahlt – inklusive Elektrogeräten. Braucht der Gepäckabfertiger dann eine Brille oder ein Hörgerät, muss er nochmal die 450 Euro Mehrverdienst anzapfen – während der Hartz-IV-Empfänger sie bezahlt bekommt. Der kann sich auch von den Rundfunkgebühren befreien lassen. Und bekommt einen regelmäßigen Heizkostenzuschuss.
Ob es sich noch lohnt zu arbeiten, überlegt sich daher schon der Gepäckabfertiger mit seinen vergleichsweise guten 3.000 Euro im Monat. Wer aber nur 2.500 oder 2000 Euro in Vollzeit verdient, muss erst recht nachrechnen. Oder die Frau des Gepäckabfertigers. Fängt sie an zu arbeiten, um die steigenden Strompreise zu finanzieren oder die steigenden Lebensmittelpreis oder die steigenden Preise für Kleidung, dann kommt sie in Steuerklasse 5. Das bedeutet, dass sie nahezu komplett fürs Finanzamt arbeiten geht. Die Folge dieser Rahmenbedingungen: Manche wandern in die Schwarzarbeit ab, andere gehen gar nicht mehr arbeiten. Und das in einem Land, das dringend nach Kräften sucht – Fach- wie Hilfskräften.
Kein Arbeitsplatz geht verloren, lautete das Versprechen Altmaiers zu Beginn der Pandemie. Und irgendwie scheint es ja zu stimmen. Es gibt offensichtlich mehr Arbeitsplätze als Arbeitssuchende und aus Nürnberg kommen auch jeden Monat nur Jubelmeldungen bezüglich des Arbeitsmarktes. Also alles in Ordnung? Nein. Von April 2021 auf April 2022 ist die Zahl der Beschäftigten laut Statistischem Bundesamt kontinuiierlich zurückgegangen: Um rund 800.000 Beschäftigte, von rund 45,4 Millionen auf 44,6 Millionen Menschen. Massen-Arbeitslosigkeit ist trotzdem nicht das Phänomen, das der deutsche Staat fürchten muss. Denn durch die Rentenwelle in der Generation der geburtenstarken Jahrgänge werden sogar mehr Plätze frei, als wir besetzen können.
Nur: Was bedeutet das für die Leistungsfähigkeit in Deutschland? Eigentlich bräuchten wir angesichts der anstehenden Aufgaben eine Kraftanstrengung: Rentenwelle, zusätzliche Pflege- und Gesundheitskosten, marode Infrastruktur, versäumte Digitalisierung… Doch statt der Kraftanstrengung bereitet sich Deutschland als einziges westliches Industrieland darauf vor, im Winter wieder in den Lockdown zu gehen. Immer mit Altmaiers Versprechen im Hinterkopf: Es kostet ja nichts, der Staat kommt ja für alles auf. Doch dieser Staat hat sich in nahezu allem überhoben:
Wenn sich Konzerne wie Ford für einen Standort entscheiden müssen, wählen sie das spanische Valencia statt des deutschen Saarlouis, auch weil im Süden die Versorgungsstrukturen besser sind. Denn zwei und ein Viertel Jahre nach Beginn der Pandemie stehen die richtig harten Konsequenzen ja überhaupt erst noch bevor: Wenn in der einstigen Energie-Exportnation Deutschland der Staat den Strom rationieren muss, weil nicht mehr genug davon da sein wird. Wenn Häuser verfallen, weil sie nicht mehr ordentlich geheizt werden können.
„Ich suche keine Arbeit, ich suche ein Einkommen.“ So lautet ein alter Scherz, der das deutsche Dilemma gut zusammenfasst: Arbeit ist mehr als genug da, nur das Einkommen schwindet. Auch weil der Staat das Geld raushaut, als gäbe es kein Morgen mehr. Das macht Arbeit individuell für Geringverdiener weniger interessant. Das gilt wie beschrieben für Lohnarbeiter. Aber das gilt noch viel mehr für Selbstständige mit keinen oder wenigen Mitarbeitern. Sie hasst der deutsche Staat regelrecht. Vom ersten Tag an erstickt er jedes unternehmerische Engagement mit Auflagen, Gebühren, Dokumentationspflichten und Steuer-Vorauszahlungen.
Gründerkredite gibt es so gut wie keine, dafür umso mehr Gründer-Stammtische: Ein schnelles Rein und Raus für ein Foto, mit dem der Politiker in der Lokalzeitung Aktivität vortäuscht. Am Ende bleiben Alte ungepflegt, Kranke unversorgt, Straßen gesperrt, Züge überfüllt, Flugzeuge verspätet, rentable Arbeitsplätze abgebaut – weil sich jeder überlegen muss, ob er für das Land den Helden spielt und arbeiten geht, obwohl er wegen der Arbeit weniger im Geldbeutel hat als ohne. Wer sich anders entscheidet, kann zuhause bleiben und sich so besser der Lebensaufgabe widmen, einem Virus aus dem Weg zu gehen. Das sind auch Helden, die wegen Corona auf der Couch bleiben. So hat der deutsche Staat tatsächlich geworben – mit dem Geld derer, die arbeiten gehen.