Einer der wichtigsten Wirtschaftsverbände, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), die Dachorganisation der 79 regionalen Industrie- und Handelskammern mit ihren rund 3,5 Millionen Einzelunternehmen, wird sich „bis auf weiteres“ nicht mehr öffentlich zu Wort melden. Der DIHK beugt sich damit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2020, mit dem das Gericht die IHK Nord Westfalen zum Austritt aus dem DIHK zwingt. Bereits 2016 hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass Äußerungen des DIHK zu allgemeinpolitischen Themen ohne wirtschaftsspezifischen Zusammenhang nicht von der Kompetenz der Industrie- und Handelskammern gedeckt seien. Aktueller Ausgangspunkt des Streits sind Äußerungen des DIHK gegen eine Erhöhung des Marktanteils von erneuerbaren Energien.
Der DIHK hatte unter anderem davor gewarnt, die internationale Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft durch eine verfehlte Klimapolitik zu gefährden. Der Verband hatte befürchtet, dass die Energiekosten der Wirtschaft durch eine Verschärfung der EU-Klimaziele oder die Einführung eines CO2-Preises für Benzin und Gas nach oben getrieben werden könnten. Dann würden Unternehmen Produktionen in Länder mit niedrigeren CO2-Kosten verlagern.
Dem Münsteraner Windkraft-Unternehmer Thomas Siepelmeyer behagen solche Äußerungen gar nicht. Seit 2006 führt er Klage gegen den DIHK – nach eigener Aussage als „Guerillakämpfer.“ Nun meinte er wörtlich: „Die Herren beim DIHK, finanziert durch meine Mitgliedsbeiträge, haben kein Recht, sich in gesellschaftspolitische Fragen einzumischen.“
Jetzt kann Siepelmeyer von seiner IHK Nord Westfalen sogar verlangen, dass sie aus dem DIHK austritt, weil letzterer mit allgemein-politischen Äußerungen angeblich seine Kompetenzen überschritten habe. Denn laut Gesetz ist die Tätigkeit der Kammern und des Dachverbands auf wirtschaftliche Angelegenheiten beschränkt. Problematisch ist das Urteil insofern, als offenbleibt, wo die Wirtschaft aufhört und die Politik beginnt. Jedenfalls werden dem DIHK nicht nur Äußerungen zur Energiepolitik untersagt, sondern auch Stellungnahmen etwa zur Sozialpolitik, zum Mindestlohn, zur Rente, zum Verbraucherschutz, zu konjunkturellen Entwicklungen, zum Brexit, zu Strafsanktionen gegen Russland oder den Iran, zu Coronafolgen im Zuge eines Beherbergungsverbots usw. Der öffentlichen Debatte fehlt damit eine manchmal unbequeme, aber kompetente Stimme. Es ist also ein Urteil mit Kollateralschaden.
Für den seit 2006 als „Kammerrebell“ bekannten Unternehmer Siepelmeyer besteht das Problem zudem darin, dass er gesetzlich zur IHK-Mitgliedschaft verpflichtet ist, er sich aber nicht für politische Äußerungen vereinnahmen lassen wolle. Diese Pflichtmitgliedschaft allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2017 bestätigt und auf den eindeutig „gesetzlichen Auftrag zur Vertretung des Gesamtinteresses der gewerblichen Wirtschaft“ verwiesen. Die Pflichtmitgliedschaft in einer IHK ist also mit dem Grundgesetz vereinbar. Einzelgesetzliche Grundlage ist das 1956 verabschiedete und seitdem mehrmals novellierte „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ (IHKG).
Thomas Siepelmeyer, Diplom-Geologe, steht unter anderem für die „Davertwind GmbH“ (mit Aktivitäten in Südafrika und auf den Seychellen), für „Fair Trade in Gems and Jewelry“ und für das „Büro für Umweltgeologie“. Laut “Davertwind”-Website gehören zu ihren Tätigkeitsbereichen: „Planung, die Errichtung, der Betrieb und der An- und Verkauf von netzgekoppelten einzelnen Windenergieanlagen oder Windparks und anderen Anlagen regenerativer Energieerzeugung zur umweltschonenden Erzeugung und Lieferung von Energie und Veräußerung an Energieversorgungsunternehmen oder sonstige Abnehmer …“
Siepelmeyer firmiert zudem als “Afrika”-Experte und als Redner auf „Friday-for-Future“-Demonstrationen. Am 18. Oktober 2020 trat er dort vor rund 30 Versprengten für das „Solidaritätskomitee Münster“ sechs Minuten lang auf und wetterte unter anderem „gegen blöde Arschlöcher.“ Anfang 2020 wollte er sich als deren Schatzmeister und Schriftführer mit einer „Aktiven Liste“ in die NRW-Kommunalwahl einmischen. Dieser Plan ist dann – so die eigenen Angaben der „Liste“ – Corona zum Opfer gefallen.
Zurück zum Grundsätzlichen: Weil einem Nutznießer „grüner“ Energie nun womöglich die Felle davonzuschwimmen drohen, soll nun eine ökonomisch gewichtige Stimme verstummen. Vermutlich sind dem Münsteraner Windkraftunternehmer die allein im Jahr 2020 für Ökostromförderung ausgegebenen ungefähr 2,8 Milliarden Euro noch zu wenig.
Gar nicht gut ist es jedenfalls, dass ein „grüner“ Robin Hood Wirtschaftsfachleute dazu zwingen kann, jede auch nur in Ansätzen politische Äußerung auf die Goldwaage zu legen. Schon nach dem Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 2016 hatte der renommierte Kammerrechtsprofessor Winfried Kluth von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit Blick auf Wirtschaftsverbände nicht zu Unrecht betont, es sei fraglich, ob künftig „noch eine wirksame Interessenvertretung vor allem in den flüchtigen Medien möglich ist“. Das jüngste Urteil also ein Pyrrhussieg?