Tichys Einblick
Klimawandel auf dem Schulhof

Rundschau nach dem Fall Luise: Zunehmende oder sich transformierende Jugendgewalt?

In Frankreich ist man schon weiter: Die Faszination durch alltägliche Gewalttaten wird als psychologisches Thema analysiert. In Deutschland (und Österreich) sind derzeit immer öfter Fälle zu vermelden, die der offiziellen Statistik nicht entsprechen.

Symbolbild

IMAGO / imagebroker

Auch in Frankreich fragt man sich – nicht ohne aktuellen Anlass –, was die Menschen so sehr an den „faits divers“ interessiert und fasziniert. „Verschiedenes“ oder „Vermischtes“ würde man den Ausdruck ins Deutsche übersetzen, doch in dem kleinen Video des Figaro sind vor allem jene blutigen Nachrichten aus der Welt der alltäglichen Gewaltkriminalität gemeint, die derzeit auch in Deutschland diskutiert werden. Die überraschende Erkenntnis im Video des Figaro: „Die vermischten Nachrichten sind eine Quelle gesellschaftlichen Zusammenhangs.“ Mordtaten als sozialer Bindungsfaktor, das ist schon originell gedacht vom Videoredakteur. Es wird aber etwas tiefer als das.

Brutale Tat in Heide gefilmt
13-Jährige stundenlang von anderen Mädchen gequält
Der Psychoanalytiker und Autor Patrick Avrane bestätigt den „versammelnden“ Effekt der Taten. Nicht nur morbider Voyeurismus sei das: „Es gehört zum Wesen des Menschen, sich über das Seltsame Gedanken zu machen.“ Und ja: Mann und Frau, kurz die Menschheit, wollen natürlich ihre Nachkommenschaft beschützen, und so berühren die Morde an Kindern uns natürlich besonders tiefgreifend. Lassen wir alles andere fort (etwa, dass man sich auch fragen mag, ob man selbst zum Täter hätte werden können), dann ist es dieses eher empathische Sich-Hineinversetzen, das die vermischte Nachricht weniger zum Problem als zum wirklichen und legitimen Erkenntnisinstrument macht. Das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit darf auch nach Unschönem fragen.
Rückgang oder Transformation der Kriminalität?

In Deutschland geht die Zahl der Tötungsdelikte zurück, so schallt es nun durch den Medienwald. Laut polizeilicher Kriminalstatistik gilt das auch für Gewaltdelikte mit minderjährigen Tatverdächtigen. Zugleich scheint sich die Gewaltkriminalität jedoch zu transformieren. Nicht zuletzt die von ganz jungen Tätern. „Prügeleien auf dem Schulweg hat es schon immer gegeben, aber die Jugendgewalt nimmt neue Formen an“, sagt Joachim Brandt von der Kriminalitätsopferorganisation Weißer Ring in Schleswig-Holstein dem Focus nach dem heute bekannt gewordenen Fall von Heide – wir werden noch darauf eingehen. „Wenn Kinder in einem gewalttätigen Umfeld aufwachsen, hat das Auswirkungen, und Kinder adaptieren so ein Verhalten“, sagt er. Also Jugendgewalt als Reflex einer steigenden Gewaltkriminalität insgesamt?

Was sich jedenfalls in jüngerer Zeit verändert und dramatisiert hat: Immer öfter ist die Rede von Messerangriffen an Orten, an denen früher solche Verbrechen nicht erwartet wurden, an denen man sich relativ sicher fühlte. Man ging zur Kirmes, ohne zu erwarten, dass man von einem Unbekannten, einer Zufallsbegegnung niedergestochen und ermordet wird.

Genau das soll aber nun auf dem Frühjahrssend in Münster geschehen sein. Der Täter trug laut Polizei typische Jugendbekleidung, eine hellgraue Jogginghose und einen ebensofarbigen Kapuzenpulli, weiße Sneaker und eine Kopfbedeckung, die eigentlich nur eine Schirmmütze gewesen sein kann. Seine schwarzen Haare waren an den Seiten rasiert. Ob sein Begleiter „südländisches“ Aussehen aufwies, wird inzwischen bezweifelt, obwohl von der Polizei zunächst so kommuniziert.

Antiquierte Strafmündigkeit
Mord an 12-jährigem Mädchen durch Gleichjährige
Am selben Abend im März trafen sich in Berlin-Lichtenberg zwei Männergruppen, um ihren Streit mit Fäusten und Messern auszutragen. Auf der einen Seite standen acht bis zehn Leute, ihnen standen deutlich mehr Männer gegenüber. Ein 21-Jähriger wurde erstochen. Ein anderer schleppte sich mit Verletzungen noch Straßen weiter, bevor er zusammenbrach und ins Krankenhaus gebracht wurde. Einer der Tatverdächtigen lebt in einer Flüchtlingsunterkunft. Das sind nun die alltäglichen Trouvaillen für die interessierte Öffentlichkeit.

Berlin ist laut B.Z. die „Hauptstadt der Messer-Attacken“. Die Innenbehörde konnte sich gar zur Nennung der häufigsten Tätervornamen durchringen. So gab es neun Attacken von einem Christian, jeweils acht von Nicos und Alis und je sieben von verschiedenen Mohameds, Marcels und Michaels. Von den über 3.300 Attacken im vergangenen Jahr wurden nur rund 1.100 von deutschen Staatsangehörigen begangen. Zwei Drittel wurden also von ausländischen Tätern begangen, was man als Überrepräsentation beschreiben kann, selbst wenn einige Touristen dabeigewesen sein sollten. Neben dem Wetterbericht könnte bald auch der Messerbericht nachgefragt sein.

Nicht abreißende Schnur der Fälle zwischen Kindern

Dass wir es meist mit jüngeren Tätern zu tun haben, unterliegt keinem Zweifel. Die meisten werden dennoch volljährig sein. Daneben ist die Brutalisierung von weitaus Jüngeren ein Thema, erst recht nach der erschütternden Tötung der 12-jährigen Luise durch eine 13-Jährige und eine 12-Jährige in Freudenberg. Es ist längst nicht der einzige Fall in jüngster Zeit von Kindern, die andere Kinder töten. Aus Wunstorf bei Hannover wurde schon Ende Januar ein Tötungsdelikt unter 14-Jährigen gemeldet. Das Opfer war – so wie der Täter noch immer – Schüler der achten Klasse an der Evangelischen Integrierten Gesamtschule (IGS) in Wunstorf. Die Mittelstadt Wunstorf, unweit des Tagestoursees Steinhuder Meer, hat gut 41.000 Einwohner. Täter und Opfer sollen sich seit der Grundschule gekannt haben, wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung aus Ermittlerkreisen erfuhr. Der Klerus, vertreten durch Landesbischof Ralf Meister, reagierte selbstverständlich entgeistert: „Es verschlägt uns die Sprache.“

Als das Tötungsopfer (laut Bild: Jan N.) an einem winterlichen Dienstagabend nicht von einer Verabredung nach Hause kam, alarmierte der Vater gegen 18.45 Uhr die Polizei. Davor hatte er seinen Sohn mit dem Fahrrad gesucht. Auch die Suche der Polizei erbringt zunächst nichts. Erst am Mittwochvormittag finden Polizisten den Körper des Jungen auf dem Brachgelände einer Gärtnerei bei der Teilortschaft Blumenau, 150 Meter vom Wohnhaus des mutmaßlichen Täters entfernt. Auch der 14-Jährige von Wunstorf scheint also bei seinem Mörder zu Besuch gewesen zu sein.

Im Laufe der Ermittlungen kam es zu dem Geständnis des 14-Jährigen, der im Gegensatz zu den Täterinnen von Freudenberg strafmündig ist, wenn auch noch nicht lange: Er habe seinen Mitschüler getötet und versteckt, sagte er den Polizeibeamten. Tatsächlich hatte er ihn laut HAZ gefesselt, geknebelt und dann mit Steinen tödlich verletzt. Die Tat soll er über Monate geplant haben. Er kam in U-Haft in der Jugendanstalt Hameln. Ermittelt wurde anfangs wegen Totschlag. Später wurde ein Strafantrag wegen Mordes gestellt. Das Opfer sei „arg- und wehrlos“ gewesen, teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mit, die Tötung heimtückisch begangen worden. Nach Jugendstrafrecht kann Mord mit bis zu zehn Jahren bestraft werden.

Noch eine geplante Tat aus Salzgitter

Erst im Juni vergangenen Jahres sollen zwei 13 und 14 Jahre alte Jungen ihre 15-jährige Mitschülerin Anastasia in Salzgitter-Fredenberg getötet haben. Laut Obduktionsergebnis wurde das Mädchen erstickt. Am 21. Dezember wurde der 14-jährige Täter vor dem Landgericht Braunschweig angeklagt.

Am nächsten Tag tanzten sie auf TikTok
Neue Details im Fall Freudenberg: Wofür rächten sich Luises Mörderinnen?
Sein Anwalt plädierte auf unschuldig. Offenbar sollte die Verantwortung auf den 13-Jährigen verschoben werden. Ermittler teilten jedoch mit, dass die beiden Jungen die Tat seit Mai gemeinsam geplant hätten. Der strafunmündige Mittäter wurde mit Einverständnis der Eltern in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Inzwischen wurde der heute 15-Jährige zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der Verteidiger legte Revision ein.

Derweil forderte der Nebenkläger den Gesetzgeber auf, sich Gedanken über die Altersgrenze zur Strafmündigkeit zu machen. Bezogen auf den 13-jährigen Täter sagte er: „Zu wissen, dass ein mutmaßlicher Mörder ihrer Tochter am Ende unbestraft, unbehelligt davonkommt, damit ist schwer umzugehen und das finde ich auch persönlich an dem Verfahren unerträglich.“ Zwölf- und Dreizehnjährige von heute seien mit Blick auf ihre geistige Reife nicht mehr mit 12- und 13-Jährigen vor 40 oder 50 Jahren zu vergleichen, gibt der NDR den Rechtsanwalt wieder.

Sexuelle Straftaten auf der Schultoilette in Kärnten

Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gab es im vorvergangenen Jahr 19 Verdachtsfälle von Mord oder Totschlag durch Kinder, in den beiden Vorjahren jeweils elf. Dazu zählen wohl auch fahrlässige Tötungen mit geringem Heimtücke-Anteil. Die Gesamtzahlen zur Gewalt von Kindern (siehe ausklappbare Infographik hier) sind allerdings sehr viel zahlreicher: So gab es 2021 knapp 15.000 Körperverletzungen durch Kinder, 2.666 Bedrohungen, 3.464 Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (bzw. tätlicher Angriff auf Staatsgewalt) und 7.239 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Bei manchen der Kategorien denkt man dann doch eher an den Neuköllner Schwellen- oder Intensivtäter (etwa die Marke „kiezorientierter Mehrfachtäter“).

Apropos sexuelle Straftaten: Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt bearbeitet einen Fall, in dem eine 15-Jährige von einem Mitschüler auf der Schultoilette missbraucht wurde. Angeblich geschah das in der Jungentoilette. Drei weitere Schüler (13 bis 15 Jahre) sollen das Opfer festgehalten haben. Nach der Tat drohten sie dem Mädchen, falls es den Vorfall meldet. Auf einen Internetaufruf hin soll sich eine kleine Me-too-Serie gezeigt haben. Reihenweise berichten Mädchen von sexueller Gewalt, Missbrauch und Mobbing an ihren Schulen, wie die Website Heute berichtet.

Bullying unter Mädchen und Jungen: Verschiebungen in ungewisser Richtung

Zu schlechter Letzt: In der Mittelstadt Heide in Holstein soll, wie erst heute bekannt wurde, am 21. Februar eine Gruppe von Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren eine 13-Jährige über eine Stunde lang gequält und das Ganze in einem Video festgehalten haben. Zum Repertoire der Tortur gehörten unter anderem: Schläge (auch auf die Nase), das Ausdrücken von Zigaretten auf der Wange, Bespucken, Haare anzünden, Cola über dem Kopf ausgießen. Zudem wurde die Gefolterte laut Focus angebrüllt: „Bleib sitzen, während du mich anflehst. Ich lass dich nicht so einfach gehen.“ Das Opfer der Behandlung flehte in der Tat unter Tränen darum, dass man sie nicht auf die Nase schlage, was dennoch geschah. Nicht ganz klar ist, wie das Geschehen endete: Ein Passant bemerkte angeblich die schwierige Lage des Mädchens. Als dann ein Polizeiauto kam, flohen die Täterinnen in die eine, das Opfer in eine andere Richtung. Inzwischen wurden die Täterinnen ermittelt und werden vernommen. Das Opfer befindet sich in einer Tagesklinik, „wo Ärzte sich um sie kümmern“.

Auf Twitter ist das Video – zahlreich geteilt – noch zu sehen. Mit diesem konnten die Täterinnen, einige von ihnen laut Staatsanwältin unter 14 Jahren also noch strafunmündig, überführt werden. Die Staatsanwältin bittet, das Video nicht zu teilen.   Was auf dem Video etwa fünf Minuten lang zu sehen ist, ist verstörend. Das Opfer wehrt sich nicht gegen die Übermacht der Täterinnen. Doch die Frage ist: Warum tun es die Täterinnen?

Das diffuse Problem

Vielleicht können auch ältere Fälle das Phänomen erklären, das man nur als flagranten Ausdruck innerer Spaltungen im Land verstehen kann. So versuchten im Juli 2021 drei kleine Syrer (zwölf bis 15 Jahre alt) ein 15-jähriges Mädchen erst auszurauben und verprügelten sie, als sie kein Geld erhielten. Sie waren ohne ausweisende Dokumente. Auch England hat Fälle wie den eines gewaltsamen Todes zweier 16-Jähriger in London, für die offenbar ein Gleichaltriger verantwortlich gemacht wird. „Messergewalt“ heißt es dazu knapp im Merkur.

Letztlich bleibt das Problem diffus, doch gerade dadurch kann es potentiell überall auftreten. Wer das Twitter-Video sieht, kann die Szene leicht in seine eigene Nachbarschaft transponieren. Denn fast überall sind bei genauerem Hinsehen Gangs aus Jungen und Mädchen zu sehen, die durch ihre Kleidung und mehr noch durch ihre Sprache deutlich machen, dass sich etwas im Lande verschiebt. Es bleibt ungewiss, in welche Richtung.

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