„Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ – so lautete der offizielle Tagesordnungspunkt im Bundestag am Donnerstag. Weder bei diesem Titel, noch bei der Kurzbeschreibung auf der Bundestagsseite wird klar, um was es wirklich geht. Erst der weiterführende Artikel erklärt: in Wirklichkeit geht es um die von der Europäischen Union anberaumte Chatkontrolle. Unter diesen Themenbereich fallen auch Netzsperren, Upload-Filter oder Altersverifizierungen für Messenger. Der Antrag kam von der Linksfraktion.
Zur Erinnerung: die „Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ sieht eine anlasslose Kontrolle von Chatnachrichten vor. Ein Vorstoß, den auf Bundesebene Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erst kürzlich gewagt hat. Das „Client-Side-Scanning“, so schrieb Netzpolitik.org, würde dazu führen, dass „E-Mails, Messenger-Dienste und weitere Kommunikationsplattformen anlasslos und massenhaft überwacht“ würden.
Der Antrag der Linksfraktion, der Bundestag und Bundesregierung dazu animieren sollte, sich auf EU-Ebene gegen die anlasslose Chatkontrolle zu stellen, scheiterte. CDU-Mann Christoph de Vries stellte sich, obwohl in der Opposition, sogar hinter die Chatkontrollen, während die Ampel-Parteien darauf verwiesen, auf den Entwurf noch einwirken zu wollen, statt ihn völlig abzulehnen. Die AfD lehnte dagegen den Antrag nur ab, weil er ihr nicht zu weit ging.
Im Parlament offenbarte sich damit, dass die Ampel-Koalition zwar behauptet, gegen die Chatkontrollen zu sein, in Wirklichkeit aber wohl versucht, die Debatte auszusitzen, bis die Verordnung aus Brüssel auf dem Berliner Schreibtisch liegt – und dann mit Verweis auf EU-Richtlinien durchgewunken wird. Die SPD-Abgeordnete Carmen Wegge stellte sich sogar auf den Standpunkt, dass es für eine Abstimmung über die Chatkontrolle 55 Prozent der Mitgliedsstaaten brauchte, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung auf sich vereine. Da reiche keine „Nein“ Deutschlands aus. Dass jedoch ein „Nein“ Deutschlands richtungsweisend sein könnte, um auch andere Mitglieder davon zu überzeugen, ihren Protest deutlicher zu artikulieren – das sparte die Bundestagsabgeordnete wohlwissend aus.
Dass ihre Parteikollegin und Innenministerin Faeser eine Befürworterin ist und bei den Innenministerkonferenzen der EU-Staaten mit Sicherheit kein schlechtes Wort in Sachen Chatkontrolle einlegen wird, ist ein weiterer Elefant im Raum, den Ampel-Koalition und Ampel-Parteien auszusparen versuchen. Den Koalitionsvertrag will man nicht brechen, aber: leider, leider, die Weisung aus Brüssel! Dass nicht eine anonyme EU-Bürokratie, sondern die eigenen Kollegen in Brüssel an diesem Papier mitgewirkt haben, und so über Bande gewünschte Gesetze bereitstellen, die man in Deutschland nicht so einfach durchbekäme, gehört zu den altbewährten Kniffen von Partei-, Bundes- und EU-Politik.
Auf der linken Seite des politischen Spektrums fiel jüngst die Piratenpartei mit einem Video auf, indem sie Äußerungen der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson (S&D) als Lügen bezeichnete. Sie stellte den Aussagen Johanssons Inhalte des anberaumten Gesetzes gegenüber. So warnte Johansson davor, dass man ohne neues Gesetz ab Sommer 2024 „blind“ sei; alle Möglichkeiten, sexuellen Kindesmissbrauch aufzudecken, würden verboten sein. Obwohl die anlasslose Chatkontrolle definitiv eine Neuheit ist, behauptete Johansson, dass Ermittlern „keine neuen Türen“ geöffnet würden.
Außerdem behauptete Johansson, dass erst nach einem Gerichtsbeschluss eine Untersuchung durchgeführt werden könne. Dem hielt der Abgeordnete Patrick Breyer entgegen, dass jede unabhängige Behörde die Anordnung geben könne. Auch für die Behauptung Johanssons, dass ohne die Chatkontrolle den Strafverfolgungsbehörden 80 Prozent aller Hinweise fehlen würde, gebe es laut Breyer keinerlei Belege.
Die AfD hatte schon im Bundestag ihren Widerstand angekündigt. Barbara Lenk, die digitalpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, betonte, dass Kindesmissbrauch ein furchtbares Verbrechen sei. „Aber schon heute ist es auf richterliche Anordnung möglich, Speichermedien und Kommunikationsverläufe Verdächtiger zu beschlagnahmen und auszuwerten“, so Lenk. Dies Verfahren finde auch die Unterstützung der AfD. „Das anlasslose Scannen von Telefonen und Rechnern ohne das Wissen unbescholtener Bürger“ käme dagegen „einer digitalen Hausdurchsuchung gleich, ohne Anfangsverdacht und ohne richterlichen Beschluss. Die geplante EU-Verordnung könnte eine Blaupause für eine digitale Ausforschung der Bevölkerung auf Vorrat sein“.
Es bleibt die Feststellung, das die Warnung vor dem „gläsernen Bürger“ ansonsten in der Mottenkiste des beginnenden 20. Jahrhunderts verschwunden ist. Apps, mit denen EU-Bürger mittlerweile freiwillig ihren Standort verraten, sind für viele Alltag. Das alte Schäuble-Wort, dass niemand, der etwas zu verheimlichen habe, etwas befürchten müsse, ist salonfähig geworden. Und wer gegen die Chatkontrolle ist, stellt sich gegen Kinderschutz.
Dagegen erscheinen die Zeiten, als man sich nach den Anschlägen vom 11. September auf schärfere Flughafenkontrollen einstellen musste, fast amüsant. Geblieben ist der Wille des Staates, seine Bürger vollumfänglich auszuspionieren.