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Linkspartei-Direktmandat von Wahlunregelmäßigkeiten betroffen – Verbleib im Bundestag fraglich

Das Direktmandat im Berliner Bezirk Lichtenberg ermöglichte der Linkspartei den Einzug in den Bundestag. Doch die Wahlpannen sind hier besonders auffällig. Eine fundamentale Sitzverschiebung im Bundestag erscheint möglich – die Aufklärung allerdings wird blockiert.

IMAGO / Emmanuele Contini

In keinem anderen Wahlkreis in Deutschland war jede einzelne Stimme bei der Bundestagswahl 2021 so entscheidend wie in den drei, in denen die Linkspartei ihre Direktmandate gewann. Hätte sie nur einen dieser Wahlkreise verloren, wäre sie aus dem Bundestag geflogen – und damit würde sich die Sitzverteilung im Bundestag drastisch verschieben; die Mehrheitsverhältnisse würden sich verändern. Gerade hier müsste man besonders verlässliche Ergebnisse verlangen.

Risiko für die Linkspartei

Einer dieser prekären Wahlkreise war der Bezirk Lichtenberg im Osten Berlins. Diesen Bezirk gewann Linken-Kandidatin Gesine Lötzsch mit mageren 25,8 Prozent vor der SPD mit 19,6 Prozent. Lediglich rund 8.000 Stimmen trennen die Linken hier vom Ausscheiden aus dem Bundestag. Denn nicht um dieses eine Mandat geht es: Bei insgesamt drei gewonnenen Direktmandaten zieht die Gesamtpartei mit ihren Listenstimmen in den Bundestag ein. Fällt eines der drei Direktmandate weg, würden insgesamt 39 Abgeordnete der Linkspartei aus dem Bundestag fliegen.

Zudem müsste die gesamte Sitzverteilung im Bundestag neu berechnet werden, denn über sogenannte „Ausgleichs-Mandate“ werden künstlich Abgeordnete bei allen Fraktionen geschaffen, die den Bundestag über die vom Grundgesetz vorgesehene Zahl von 598 Abgeordnete hinaus aufblähen. In Lichtenberg geht es also um die Existenz der derzeitigen Bundestagsfraktion der Linkspartei – und angesichts der verheerenden Ergebnisse der SED-Nachfolgepartei um ihre parlamentarische Existenz insgesamt.

Bis 2017 war der Berliner Osten eine sichere Bank für die Linkspartei. Das war 2021 anders. In Marzahn-Hellersdorf unterlag gar die alteingesessene, linksradikale Parteipolitikerin Petra Pau der CDU, auch Pankow ging verloren. Lediglich Gregor Gysi hielt sich in Treptow-Köpenick mit starkem Ergebnis. Auch Gesine Lötzsch gewann das Direktmandat im besagten Wahlkreis Lichtenberg seit 2002 durchgängig und wurde damit aktuell zur Retterin der Partei. Aber auch sie hat inzwischen fast die Hälfte ihrer Wählerschaft eingebüßt. Bei den Zweitstimmen ist die Linke in Lichtenberg bereits nicht mehr stärkste Kraft geworden.

Bei so einer Entscheidung auf Messers Schneide für die gesamte Bundespolitik wird es hochproblematisch, wenn bei der Wahl nun zahlreiche Ungereimtheiten auftreten. Genau das aber ist in Lichtenberg passiert.

Rund 1,9 Prozent der Stimmen im Bezirk zum Bundestag waren ungültig – fast doppelt so viel wie im Bundesschnitt und eine wesentliche Steigerung im Vergleich zur Wahl 2017. Die von TE ausgewerteten Wahlprotokolle zeigen, wie flächendeckend und massiv auch hier die Unregelmäßigkeiten sind.

Das Lichtenberger Briefwahl-Rätsel

Lichtenberg ist geteilt. Während der städtische Süden des Bezirks von Linken und Grünen dominiert wird, ist im Norden des Bezirks, am Rand der Stadt die CDU stärker. Gerade im Süden des Bezirks – in den Wahllokalen 300 bis 600 – gab es nun auch besonders viele Unregelmäßigkeiten. Hier schlossen fast 10 Prozent der Wahllokale nach 18:20 Uhr, also wesentlich verspätet. Zwar dürfen nach dem Gesetz Wähler, die sich vor 18:00 Uhr anstellen, auch noch nach 18 Uhr wählen – allerdings ist bei so langen Schlangen kaum zu überprüfen, ob sich nicht nach 18 Uhr noch neue Wähler dazu gestellt haben. Mehrere Protokolle berichten von Anstehzeiten von wesentlich über einer Stunde; in anderen Wahllokalen wird die Zeit nicht quantifiziert. Da um kurz nach 18 Uhr die Hochrechnungen vorlagen und sich damit abzeichnete, dass die Linkspartei die 5-Prozent-Hürde nicht schaffen würde, liegt es nahe, genau auf diese Warteschlangen zu schauen.

Und das Desaster beginnt sogar früher: Etwa ab 15.00 Uhr verbreiten ARD und ZDF sogenannte „Exit-Polls“ – das sind Befragungen von Wählern nach dem Verlassen der Wahllokale, wie sie abgestimmt haben. Eigentlich dürfen diese Exit-Polls nicht verbreitet werden, sondern sollen nur Spitzenpolitikern helfen, sich auf ihre ganz spontanen Statements nach der Hochrechnung ab 18.00 Uhr vorzubereiten. Aber längst werden diese Zahlen weit verbreitet. TE liegen die Zahlen von Infratest und Forschungsgruppe Wahlen vor; beide zeigten die Linkspartei an der 5-Prozent-Hürde.

Genau das könnte in den letzten Wahlstunden nochmal Last-Minute-Wähler mobilisieren.

Brisant ist vor allem auch der Vorgang bei der Briefwahl im Bezirk Lichtenberg. Über 82.000 ausgesendete Briefwahlunterlagen wurden berlinweit zwar versendet, aber am Ende nicht genutzt. Es ist ein wesentlicher Anstieg im Vergleich zur Wahl 2017. Wie kann das sein? Auch hier liegt eine strukturelle Ursache vor – Briefwähler berichteten von unzumutbaren Verspätungen bei der Zustellung. Die Landeswahlleitung sieht den Zustellungsdienstleister „Pin“ in der Verantwortung.

Es ist in vielen Fällen dokumentiert, dass die Briefwahlunterlagen zu spät versendet wurden. Da Menschen mit ausgestelltem Wahlschein dann aber auch nicht mehr regulär in ihrem Wahllokal per Urne wählen dürfen, wurden diese am Wählen gehindert. Die Briefwahl wurde also zur Falle für die Stimmabgabe.

Statistisch betrachtet wären in Lichtenberg 6.624 solcher nicht-genutzter Briefwahlunterlagen betroffen – also potenziell Wahlberechtigte, die aufgrund eines systematischen Fehlers nicht wählen konnten. Lichtenberg hat einen wesentlich niedrigeren Briefwähleranteil als Berlin im Durchschnitt – 43,8 Prozent im Vergleich zu 47,2 Prozent.

Die irrlichternden Facetten des Wahl-Chaos

In vielen Wahllokalen stimmt die Zahl der Stimmen in der Urne nicht mit der der im Wahlregister abgestrichenen Wähler überein. In Berlin waren bei der gleichzeitig stattfindenden Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung auch EU-Ausländer und 16- bis 18-Jährige wahlberechtigt – die Vermutung liegt nahe, dass eine Abweichung hier darauf zurückgeht, dass diese Personen versehentlich auch einen Stimmzettel für die Bundestagswahl ausgehändigt bekamen. Wie hoch diese Zahl ist, lässt sich allerdings kaum sagen, denn häufig liegt eine Abweichung auch in die andere Richtung vor, also dass Menschen Wahlzettel ausgehändigt bekommen, diese aber nicht einwerfen. Damit laufen beide Effekte gegeneinander und gleichen sich häufig in Teilen aus. In mehreren Fällen kann ein solcher Vorgang in Lichtenberg aber dokumentiert werden – und auch, dass eine Wahlleitung die strikte Trennung der Stimmzettel versäumte.

In vielen Wahllokalen wurde außerdem vergessen, den Wählern bestimmte Stimmzettel auszuhändigen. Bei der Abgeordnetenhauswahl fielen dadurch nach TE-Recherchen allein in Lichtenberg über 1.100 Stimmen aus. Das soll zwar bei den Bundestagswahl-Stimmzetteln den Protokollen zufolge nicht aufgetreten sein, diese Zahl der Fälle zeigt aber mindestens, welches Ausmaß das Chaos in den Wahllokalen annahm. Dass die Bundestagswahl davon gänzlich unberührt blieb, scheint wenig glaubhaft.

Viele Wahllokale berichten von stundenlangen Anstehzeiten, fehlenden Wahlkabinen, die dann kurzerhand aus anderen Wahllokalen vorbeigebracht wurden. Wie viele Wähler durch die extremen Anstehzeiten nicht mehr wählen konnten, ist offen.

Und: handschriftliche Protokolle, fehlende Wahlhelfer, Schlangen – eine ordnungsgemäße Wahl sieht mit Sicherheit anders aus.

Auch davon abgesehen zeigen die Protokolle, wie wenig planvoll vorgegangen wurde. Mehrmals überkritzelte Ergebnistabellen deuten auf mehrmaliges Nachzählen und Überlastung der Wahlhelfer hin.

Wer gewinnt dadurch, wer verliert? In Lichtenberg lässt sich das Chaos nachträglich kaum quantifizieren. Die berühmte „Mandatsrelevanz“, mit der Einsprüche abgeschmettert werden, lässt sich nicht überprüfen. Fakt ist aber: In Lichtenberg traten enorme systematische Unregelmäßigkeiten durch Fehler bei der Wahlleitung auf. Der Staatsrechtler Rupert Scholz vertritt die Ansicht, dass auch das bereits für eine Wiederholung ausreichen kann.

Die Zusammensetzung des aktuellen Bundestages wird damit von der Berliner Nebelwolke verhüllt. Ob die Linke in Lichtenberg bei einer Wahlwiederholung ihr Mandat verteidigen könnte, ist jedenfalls fraglich. Denn seit der Bundestagswahl, in der sie sich mit den drei Direktmandaten noch einmal ins Parlament retten konnte, befindet sie sich bei der Wählergunst im Tiefflug. Selbst die sonst der Linkspartei durchaus zugetane Süddeutsche Zeitung schreibt nach der Landtagswahl in NRW:

„Egal, wo derzeit gewählt wird, für die Linke geht es vor allem darum, überhaupt mal wieder ein Lebenszeichen auszusenden. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen braucht man allmählich ein leistungsstarkes Mikroskop, um noch eine Spur von Leben erkennen zu können. Die Partei hatte ihre Erwartungen ohnehin schon weitestgehend nach unten korrigiert, niemand bei den Linken konnte ernsthaft mit dem Einzug in den Düsseldorfer Landtag rechnen. Aber die rund zwei Prozent vom Sonntag haben dann doch noch einmal die bescheidensten Erwartungen untertroffen. In der ARD-Hochrechnung wurde das Ergebnis der Linken gar nicht mehr aufgeführt, sondern „den Anderen“ zugerechnet, also den Kleinst- und Splitterparteien.“ 

Keine andere Partei muss also derart um ihre schiere Existenz bangen wie die Linke und daher eine Neuwahl gerade in Berlin fürchten. Bei ihr geht es nicht um ein Mandat mehr oder weniger, sondern um die Existenz. Würde die Linkspartei auch in Berlin neuerdings abschmelzen, stünde auch die rot-rot-grüne Koalition zur Debatte, die in Berlin regiert und Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin gewählt hat. Nach derzeitiger Lage würde auch die SPD verlieren – und die Grünen gewinnen. Neuwahlen sind gefährlich für SPD und Linkspartei.

Vermutlich ist das ein wesentlicher Grund, warum in Berlin die Aufklärung der Vorkommnisse um Bundestags- wie Abgeordnetenhauswahl seit Monaten blockiert und vom auf Landesebene zuständigen Verfassungsgerichtshof vorerst auf kommenden Winter/Frühjahr vertagt wurde. Nur eine rücksichtslose Aufklärung und anschließende Neuwahlen könnten das Vertrauen in den Wahlvorgang und die Legitimierung des Bundestages, insbesondere aber des Berliner Abgeordnetenhauses wieder herstellen. Jede Verzögerung zerstört das Vertrauen in Verwaltung, Parlament und Parteien noch weiter.

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