Es war eine illustre Runde, die sich am 17. September 2019 im Frankfurter Restaurant „Main Nizza“ traf. Der Blick auf den Garten und den Main ist einer der schöneren in der Stadt, der Sekt sprudelte, und die Stimmung war prächtig. Das renommierte Bankhaus Metzler hatte zusammen mit dem Manager Magazin die Elite deutscher börsennotierter Unternehmen an den Main gebeten. Die Herren im dunklen oder grauen Anzügen und die wenigen Damen in Business-Kostümen genossen ihre Auszeichnungen in einem Wettbewerb namens „Investor‘s Darling“.
Professor Hennig Zülch, Lehrstuhlinhaber für Rechnungswesen, Wirtschaftsprüfung und Controlling an der HHL Leipzig Graduate School of Management, hatte für die Preisverleihung alle 160 Unternehmen aus DAX, MDAX und SDAX zum sechsten Mal „einer tiefgreifenden Analyse der Kommunikationsqualität in den Bereichen Reporting, Investor Relations und Capital Markets“ (Metzler-Pressetext) untersucht, Wolfgang Nickl von der Bayer AG in seinem Vortrag die „Signifikanz einer offenen und klaren Kommunikation für den Geschäftserfolg“ beschworen. Zülchs Untersuchungsergebnisse über Wirecard kamen erst jetzt zu Tage und werfen die Frage auf, warum Leipziger Wissenschaftler nach dem Studium öffentlich zugänglicher Materialien das sich abzeichnende Drama bei Wirecard bereits im Visier hatten, als Wirtschaftsprüfer sich noch weitgehend ahnungslos gaben und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) den britischen Whistleblower von der Financial Times (FT) anzeigte, der zu ähnlichen Schlüssen wie die Leipziger Forscher kam.
Zülch sagt heute: „Wieder einmal bewahrheitet sich am Fall Wirecard die These: Restriktiv berichtende Unternehmen haben häufig etwas zu verbergen.“ Auch der FT-Whistleblower Dan McCrum erklärte in einem Interview mit finanz-szene.de, dass es verhältnismäßig einfach war, Wirecard auf die Schliche zu kommen: „Die Zahlen passten einfach nicht.“
Zu dem Zeitpunkt, als Zülchs Mitarbeiter die Wirecard-Unterlagen sichteten, müssen diese Unterlagen auch bei der BaFin in Bonn gesichtet worden sein. Die Finanzaufsicht hatte sogar noch mehr Informationen, die ihr Anfang 2019 von anonymer Seite über Wirecard zugesteckt worden waren und die offenbar nicht Gutes verhießen. Parallel dazu gab es die sehr kritischen Berichte in der Financial Times“. Die deutsche Aufsicht kam aber zu ganz anderen Schlussfolgerungen, wie ihr Präsident Felix Hufeld in einer Sitzung des Bundestags-Finanzausschusses erzählte.
Im Bundestag zeigte sich Frank Schäffler (FDP) entsetzt: „Die BaFin hat nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt.“ Schäffler widersprach Hufeld, dass die BaFin nicht hätte eingreifen können. Sie hätte seiner Ansicht nach sogar eingreifen müssen, nachdem die DPR unverhältnismäßig lange für die Prüfung gebraucht habe. Auch Danyal Bayaz (Grüne) kritisierte Regierung, Finanzaufsicht und Prüfer wegen „kollektiver Unverantwortlichkeit“.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) lässt die Kritik kalt. Für ihn hat die BaFin ihren Job gemacht – eine Aussage, die den sonst so besonnenen CDU-Abgeordneten Matthias Hauer im Bundestag wütend werden ließ. Hufeld, der in allen Gremien und in der Öffentlichkeit immer so schön erzählen kann, warum Pleiten wie Prokon (Windräder) und P&G (Container) nicht rechtzeitig entdeckt werden und dass Anleger leider nicht vor Schaden bewahrt werden konnten, bleibt weiter im Amt. Er soll nach dem Willen von Scholz noch mehr Zuständigkeiten und noch mehr Personal erhalten.
Scholz‘ Ausbaupläne für die BaFin entsprechen altem sozialistischen Denken, wonach große Behörden auch Großes leisten, und sollten große Behörden versagen, kann das nur daran liegen, dass sie nicht groß genug sind. Was mit großen Behörden gemacht werden muss, die nur noch Eigenleben führen und nicht mehr kontrolliert werden können, führte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) 1994 in einem Aids-Skandal vor: Er löste die Mammut-Behörde Bundesgesundheitsamt kurzerhand auf.