Das Bundesland Tirol stellt etwa zehn Prozent der Wahlberechtigten in Österreich. Wie Landtagswahlen da ausgehen, kommt international nicht in die Schlagzeilen, solange keine Sensationen zu vermelden sind. Auch der Leiter des Innenressorts beim österreichischen Staatsender ORF zeigte sich eher gelangweilt vom Ergebnis, zumal das Landesergebnis für die Partei seiner Sympathie nur einen Achtungserfolg zu verzeichnen hatte. Die SPÖ legte merklich zu und landete vor der FPÖ, die mehr zunahm, auf Platz zwei hinter der Volkspartei ÖVP. Die Details hier. Die Botschaft der Tiroler Wahl: die Koalitionsparteien ÖVP und FPÖ können sich ebenso stabilisiert sehen wie die SPÖ. Die Grünen verlieren leicht. Die Neos kommen in den Landtag, setzen ihre bundesweite Etablierung auf bescheidenem Niveau fort.
Aber ums Wahlergebnis im „Heiligen Land Tirol“ geht es mir mit meinen Zeilen nicht, sondern um Österreichs jungen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Dass er bei Wahlveranstaltungen der ÖVP in Tirol auftrat, gehört zu den Üblichkeiten. Aber dass er zusammen mit dem Landeshauptmann und dessen Aktiven ohne jedes Kanzler-Primborium die erste Hochrechnung erwartete, wie jeder im Fernsehen verfolgen kann, gehört nicht zu dem, was der deutsche, französische oder italienische Zuschauer kennt. Dort erscheinen die Bigshots immer erst am späten Wahlabend und selbstverständlich nur in Paris, Rom und Berlin, nicht in einer Provinzhauptstadt. Kurz ist dort in Innsbruck einer unter den anderen inmitten der ÖVP-Aktiven, einer von ihnen.
Er war der jüngste Staatssekretär mit 24, über den sich monatelang die üblichen Medien in üblicher Weise das Maul zerissen, bis sie anfangen mussten, ihm gute Arbeit zu bescheinigen. Er brachte die an den gleichen Ermüdungserscheinungen wie die SPÖ (wer sie nicht kennt, kann hier CDU und SPD einsetzen) leidende ÖVP dazu, sich ein Runderneuerungsprogramm verordnen zu lassen, für das er die alleinige Entscheidungsbefugnis erhielt.
Ein halbes Jahr nach Staatssekretär wurde Kurz 2013 Bundesminister für Europa, Integration, Äußeres. Seit 2017 ist er Bundeskanzler. Der rote Faden seines Werdeganges ist ein höflicher und verbindlicher Auftritt gepaart mit viel Geduld und einer unbeirrbaren Entschiedenheit in der Sache. Und eben einem Verhalten wie du und ich. Das Sensationelle an Kurz ist das Unsensationelle (unter den wenigen Portraits finde ich dieses am gelungensten).
Kurz fliegt zu Frau Merkel nach Berlin und den Unionisten nach Brüssel in der Holzklasse, kein Regierungsflieger, keine Airforce One kutschiert ihn durch die Welt. Wer nun sagen will, ja, ja, bloß eine andere PR-Masche, irrt. So selbstverständlich kann das nur einer tun, weil es authentisch ist. Dass er sich der Wirkung bewusst sein wird, spricht nicht dagegen. Wer seinen Lebensstil nicht ändert, nur weil er so hoch aufsteigt, findet in seiner von Kindheit vertrauten Umwelt im Arbeiterbezirk Meidling, bei seiner Großmutter im Vierkanthof im Waldviertel in Niederösterreich immer wieder die Erdung, die den klassischen Aufsteigern längst fehlt.
Ich bin ganz ähnlich groß geworden, als Arbeiterkind aus dem Schulbuch, für das nichts schöner war, als die zwei Monate Sommerferien auf dem kleinen Bauernhof der Großtante verbringen und einfach mitarbeiten zu dürfen.
Das ist nicht der Moment, über ein Thema zu schreiben, das mich immer mehr beschäftigt: Heimat. Sebastian Kurz hat seine Heimat. Ich bin sicher, darin steckt die in sich ruhende Unbeirrtheit, mit der er sein Amt führen kann. Heimat ist keine Gegend, sondern das ganze kulturell-soziale Netz, in dem wir uns geborgen finden. Wer keinen solchen festen Bezugspunkt hat, sollte am Besten keine wichtige Aufgabe für viele Andere innehaben.