Tichys Einblick
Wie weit kommt Putin noch?

Russische Truppen versuchen, ukrainische Truppen im Donbass einzukesseln

Moskau strukturiert seine Truppen in der Ukraine neu und wirft offenbar fast alle verfügbaren Truppen in die Kämpfe um den Donbass. Ein Drittel der ukrainischen Armee könnte hier eingeschlossen werden. Der Ukraine fehlt es an schwerem Gerät.

IMAGO / ITAR-TASS

Russische Truppen haben sich aus dem Großraum Kiew vollständig zurückgezogen – übrig geblieben sind die Toten von Butscha und unfassbare Gräuel, die die Welt in Atem halten. Doch der Krieg geht weiter: Denn Putin scheint noch einmal mit voller Kraft angreifen zu lassen.

Sein Augenmerk liegt dabei auf den Stellungen der ukrainischen Armee im Donbass. Internationale Analysten gehen davon aus, dass immer noch rund ein Drittel der ukrainischen Armee entlang der ehemaligen Kontaktlinie zu den russisch dominierten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk stehen. Durch russische Geändegewinne konnte diese Linie im Süden und Norden nun bereits umgangen werden – es droht jetzt eine Zangenbewegung.

Vom Süden aus Donezk läuft eine russische Offensive Richtung Nordwesten, während russische Truppen im Norden in den letzten Wochen bereits die Stadt Isjum eingenommen haben und nun auf die Stadt Slowjansk weiter südlich marschieren. Slowjansk liegt ca. 60 km westlich von Sjewjerodonezk, wo aktuell die östliche Frontlinie verläuft. Schaffen die russischen Truppen von Norden Slowjansk einzunehmen und sich mit den Truppen aus Donezk im Süden zu vereinen, wäre die ukrainische Armee entlang der Front eingeschlossen. Das wäre eine verheerende Niederlage für die Ukraine.

Noch sind die aus der Region Kiew abgezogenen russischen Truppen wohl nicht wieder im Einsatz. Allerdings sammeln sie sich Berichten zufolge im russischen Belgorod, nahe der ukrainischen Grenze. Von dort könnten sie nach Süden vorstoßen und den russischen Angriff auf Slowjansk verstärken – und damit die Einkesselung ukrainischer Truppen im Donbass.

Den ukrainischen Truppen dort würde dann ein ähnliches Schicksal wie den Verteidigern von Mariupol blühen. Die südöstliche Großstadt am Asowschen Meer ist von allen Seiten von russischen Truppen eingeschlossen und schwerem Beschuss russischer Artillerie ausgesetzt. Für Putin ist die Stadt der Schlüssel zu einer Landbrücke von den besetzten Donbass-Gebieten bis zur Krim. Große Teile der Stadt sind bereits zerstört.

Die ukrainischen Truppen stehen entlang der alten Kontaktlinie zwar in befestigten Stellungen, allerdings außerhalb des urbanen Raums. Die ukrainischen Vorteile im Häuserkampf kommen hier also kaum zum Tragen, insbesondere deshalb rechnet sich Russland hier bessere Chancen aus. Für den Kampf benötigt die Ukraine vor allem schweres Gerät – Panzer, Flugabwehr und eigene Luftstreitkräfte. Daran mangelt es aber.

Auch deshalb werden die ukrainischen Bitten an den Westen um solche Waffenlieferungen immer dringender. Die ukrainische Regierung hatte sich z.B. jetzt direkt ans Kanzleramt gewendet, mit der Bitte um 100 Marder-Schützenpanzer, die das Verteidigungsministerium zuvor ablehnte. Die Panzer hätten aktuell die oberste Priorität für die Ukraine, hieß es.
Scholz hat nun vorgegeben, dass Waffenlieferungen nur „im Gleichschritt mit den Verbündeten“ geleistet werden, berichtet die Welt.

Andere osteuropäische Staaten senden bereits ehemalige sowjetische Panzer an die Ukraine, mit den USA als Vermittler. Eine denkbare Lösung, um mit der Panzer-Knappheit der Bundeswehr umzugehen wäre wohl, dass Deutschland aktuell im Einsatz befindliche Panzer an die Ukraine sendet, während ausgemusterte Marder generalüberholt werden und diese dann die an die Ukraine gesendeten Panzer in den Bundeswehrbeständen ersetzen.
Deutschland bleibt aber gerade im Vergleich mit anderen osteuropäischen Staaten beim Thema Waffenlieferungen weit zurück.

Iryna Wereschtschuk, ukrainische Vize-Premierministerin, rief derweil die Bewohner der östlichen Oblaste Charkiw, Donezk und Luhansk zur Flucht auf, solange es noch möglich ist, und warnte davor, dass weitere russische Bombardierungen die Evakuierungskorridore abschneiden könnten.

Das ukrainische Verteidigungsministerium hat derweil die Namen von mehr als 1.600 russischen Soldaten veröffentlicht, die wohl an der Massentötung von Zivilisten in Butscha beteiligt waren. Die Liste enthält u.a. Daten wie den militärischen Rang und das Geburtsdatum. Das Ministerium hatte die Namen am Montag online gestellt. Kurz zuvor hat außerdem das Hacker-Kollektiv Anonymous behauptet, hinter der Veröffentlichung eines größeren Datensatzes von mehr als 120.000 russischen Soldaten im Einsatz in der Ukraine zu stecken. Möglich, dass anhand dessen ukrainischen Stellen, beteiligte Soldaten aus Butscha identifizieren konnten. Anonymous hatte Russlands Präsident Putin nach der Invasion der Ukraine den „Cyberkrieg“ erklärt.


Von Sebastian Thormann und Max Mannhart. 

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