Steffen Meltzer traf zum Gespräch das Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, Marcel Luthe. Anlass war ein Zeitungsartikel. Einige Berliner Einwohner werden von der Polizei angeschrieben, mit der Bitte einen Fragebogen zu einer „Dunkelfeldstudie“ auszufüllen. Der freie Abgeordnete hatte daraufhin eine schriftliche Anfrage (Titel: Licht ins Dunkel – Fragen zur Dunkelfeldstudie „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“) an den Berliner Senat gestellt. Die Antworten (Drucksache 18 / 25 686) liegen inzwischen vor.
Steffen Meltzer: Ich bin etwas erstaunt, dass man einer Stichprobe von 1.350 zufällig ausgewählten Personen für eine Stadt von rund 3,8 Mio. Einwohnern zutraut, valide Aussagen über eine tatsächliche Kriminalitätsbelastung zu treffen. Das Land Niedersachsen hatte einst bei einer Einwohnerzahl von 7,9 Millionen immerhin 40.000 Personen angeschrieben, bei denen knapp die Hälfte geantwortet hat. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Marcel Luthe: Die Kriminalität in anonymeren Großstädten hat eine gänzlich andere Qualität als in ländlichen Gegenden, so dass mit dieser Stichprobe meines Erachtens das Ergebnis bereits durch diese Schwerpunktsetzung auf Flächenländer abgemildert wird.
Meltzer: Der Berliner Senat berichtet davon, dass die Länder unter der Federführung der Landespolizeibehörden die Möglichkeiten haben, die eigene Stichprobe zu erhöhen. Davon will man in Berlin allerdings erst 2022 Gebrauch machen. Warum erst nach der nächsten Wahl zum Abgeordnetenhaus?
Luthe: Rot-rot-grün bekämpft Zahlen und nicht die Taten selbst. Ein Blick in die PKS verrät uns, dass der vermeintliche Rückgang von Straftaten sich aus weniger angezeigten Schwarzfahrten, Fahrrad- und Taschendiebstählen ergibt, während etwa Raub-, Sexual- und Tötungsdelikte 2019 Spitzenwerte erreicht haben. Es ist sicherlich im Interesse des Senats, erst nach der Wahl 2021 ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Stattdessen erschöpft sich die Vorstellung der Kriminalstatistik gerne in der – objektiv unwahren – Behauptung, Berlin sei „wieder ein Stückchen sicherer geworden“. Mit dieser falschen Jubelkultur entfremdet man allenfalls die Bürger von Politik.
Meltzer: Auch das benachbarte Bundesland berichtet über die Entwicklung der Fallzahlen aus 2019 im Vgl. zum Vorjahr: „Brandenburg ist erneut ein Stück weit sicherer geworden. Die insgesamt erfreuliche Entwicklung der Kriminalstatistik setzte sich auch im Jahr 2019 fort, die Gesamtzahl der Straftaten ist weiter zurückgegangen.“ Dabei wird der Rückgang der Diebstähle (-5,3 %), insbesondere der Taschendiebstähle mit den angestiegenen Wohnungseinbruchdiebstählen (+2,4 %), Vergewaltigungen (+20,9%), Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (+8,6 %), Raub, räuberischer Erpressung (+7,8 %) großzügig verrechnet. Von der steigenden Ausländerkriminalität (+ 30 % seit 2015.) ganz zu schweigen. Diese Informationslücken, werden von anderen dankbar aufgenommen. Der regierenden Politik müsste eigentlich klar sein, dass sie damit die politischen Kräfte stärkt, die sie vorgibt, täglich zu bekämpfen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Luthe: Es ist sicherlich politisch nachvollziehbar, dass man nicht gerne die Missstände im eigenen Verantwortungsbereich besonders hervorhebt, aber polizeilich müssen die Bürger objektiv über Gefahren informiert werden. Hier gehen schlicht politische Vorgabe und fachliche Aufgabe der Behörde auseinander, was in vielen Bereichen der polizeilichen Kommunikation inzwischen so ist. Statt in flapsigem Ton rumzutwittern oder pseudolustige Instagrambilder zu posten, muss die Polizei sachlich kommunizieren, statt zu werten. Freund und Helfer ist eben etwas anderes als Kumpel und Influencer. Behördenkommunikation muss objektiv, nicht suggestiv einseitig sein.
Meltzer: Es heißt nicht umsonst, „Wer fragt, der führt“. Ein Schwerpunkt der Befragung ist das sogenannte „subjektive Sicherheitsempfinden“. Die regierende Politik wird nicht müde zu betonen, dass die tatsächliche Kriminalitätsbelastung viel geringer als die „gefühlte“ Kriminalität sei. Die oben angeführte Dunkelfeldstudie in Niedersachsen hat jedoch genau das Gegenteil bewiesen: Nur ein Teil der Sexualstraftaten, Körperverletzungen und Internetkriminalität kommen überhaupt zur Anzeige. Was scheint diesem Senat wichtiger zu sein, die Verbesserung der gefühlten oder der tatsächlicher Kriminalität?
Luthe: Ich halte politisch herzlich wenig von „Gefühl“ und viel von objektiven Zahlen. Bei Zahlen kommt es aber immer auch darauf an zu prüfen, wie diese eigentlich erhoben wurden, und dies zu berücksichtigen. Erst kürzlich sind vor einem Supermarkt in meinem Wahlkreis zwei junge Frauen am frühen Abend mit einer Keule angegriffen worden, ein pensionierter Polizeibeamter schritt ein. Anzeige erstatten wollten die Opfer aber nicht, denn das mache ja nur Arbeit. Durch die orwellsche Verschönerung solcher Zustände erodiert das Rechtsempfinden der Bürger – das ist für einen Rechtsstaat fatal.
Meltzer: Bei den Fragen ist mir einiges aufgefallen: Interessant finde ich, was ausdrücklich im Fragebogen nicht vermerkt ist. Zum Beispiel, ob der Befragte den Eindruck hat, dass es zu viel oder zu wenig Polizei gibt. Weiterhin, ob die Polizei ausreichend und neutral das Grundgesetz und bestehende Gesetze konsequent durchsetzt und/oder die politischen Interessen von Parteien überproportional an Einfluss gewinnen. Gerade die letzte Frage scheint mir in einer sich immer mehr polarisierenden Gesellschaft nicht von untergeordneter Bedeutung zu sein.
Luthe: Das ist sicher auch ein Aspekt, aber viel deutlicher aufgestoßen ist mir, dass etwa in Frage 10 nur gefragt wird, wie sicher man sich ohne Begleitung etwa Nachts allein auf der Straße oder im ÖPNV fühlt – nicht aber, wie das Empfinden in Begleitung ist. Ich kenne viele Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten, die sich auch in Begleitung unsicher fühlen – und das aus gutem Grund, wie die Berichte über angebliche „Streits“ – in der Regel eher der Angriff einer größeren auf eine kleinere Gruppe – mit tödlichem Ausgang belegen. Zu Ihrer eigentlichen Frage: die Polizei – wie die gesamte Exekutive – muss politisch neutral agieren und ihre Aufgabe erfüllen und darf nicht den Eindruck erwecken, eine politische Agenda besonders zu fördern.
Meltzer: Was sind für Sie als Berufspolitiker die richtigen Schlussfolgerungen bei der Kriminalitätsbekämpfung in Berlin?
Luthe: Wir müssen die polizeilichen Prioritäten wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Solange sich täglich ein bis zwei schwere Vergewaltigungen in unserer Stadt ereignen, der offene Drogenhandel ebenso floriert wie die Zwangsprostitution sogar Minderjähriger und man einen Raubüberfall in manchen Teilen Berlins wie etwa dem RAW-Gelände praktisch schon einkalkulieren muss, haben hier die polizeilichen Prioritäten zu liegen und nicht in der Erfüllung von Fangquoten für irgendwelche läppischen Ordnungswidrigkeiten. Mit denen kann sich ein Staat befassen, wenn er seine Kernaufgabe erfüllt: seine freien Bürger vor Gewalt zu schützen. Davon sind wir weit weg.