Für die Landtagswahl wurden in diesem Jahr mehr Briefwahlanträge gestellt als vor vier Jahren. Bis zum Stichtag am 3. September seien es bereits 365.000 Briefwahlanträge gewesen, erklärte der Landeswahlleiter. Bei der letzten Landtagswahl hatten nur 205.000 Menschen den Antrag auf Briefwahl gestellt.
Die Briefwahl-Stimmen werden zuletzt ausgezählt. Deshalb bleibt der Abend spannend.
Nach den ersten Prognosen zeichnet sich folgendes Ergebnis ab (ARD):
SPD
Seit der Wiedervereinigung war die SPD bei allen Landtagswahlen durchgehend immer die stärkste politische Kraft. Dass sie jetzt um ein Haar von der AfD überholt wurde, darf man also getrost als Anfang vom Ende einer Ära ansehen.
Ministerpräsident Dietmar Woidke hat gezockt und wohl gewonnen. Kurz vor der Wahl hatte der 62-Jährige seine eigene politische Zukunft damit verbunden, dass die AfD nicht vor der SPD landet. Sonst höre er als Landesvater auf, ließ der promovierte Agraringenieur wissen. Das hat offenbar gewirkt: In Brandenburg leben immer noch sehr viele alte SED-Kader, Woidke ist dort durchaus beliebt.
Dabei dürfte geholfen haben, dass er im Wahlkampf ausdrücklich auf gemeinsame Auftritte mit Bundeskanzler Olaf Scholz verzichtet hat. Das war parteiintern – nicht ganz zu Unrecht – als Affront gegen den ranghöchsten Sozialdemokraten gewertet worden, hat sich beim Wähler aber als lebensrettende Maßnahme erwiesen.
Dabei hatte der 62-Jährige sogar unerwartete Hilfe bekommen: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer von der CDU warb öffentlich für SPD-Mann Woidke. Hier zeigte sich die neue Volksfront gegen die AfD. Nicht nur hat das nicht gewirkt: Es hat auch in der Union Narben gerissen, die nicht so schnell verheilen dürften: Viele CDU-Kandidaten haben es Kretschmer sehr übelgenommen, dass er sich in den sozialdemokratischen Wahlkampf – und damit für die Konkurrenz – hat einspannen lassen.
Es wurden sogar Rufe nach einem Parteiausschlussverfahren wegen parteischädigenden Verhaltens laut. Jedes andere CDU-Mitglied, dass Wahlwerbung für die SPD gemacht hätte, würde auch tatsächlich und völlig zurecht hochkant aus der Partei fliegen. Aber Kretschmer ist eben sächsischer Ministerpräsident. Da darf man das offenbar.
Woidke hat die Unterstützung jedenfalls dankend angenommen. So, wie es aussieht, kann er sogar die bisherige Koalition mit der CDU und den Grünen fortsetzen.
AfD
Die AfD gewinnt stark dazu. Schon wieder. Trotzdem wird sie nicht mitregieren können. Schon wieder.
Spitzenkandidat Hans-Christoph Berndt kann für sich in Anspruch nehmen, die Dauer-Dominanz der SPD in Brandenburg fast beendet zu haben. Den Erfolg hat der Laborarzt hat mit beinahe schon klassischen AfD-Themen errungen: Ins Zentrum stellte er die „unkontrollierte Massenmigrationspolitik“. Den Verfassungsschutz bezeichnet er publikumswirksam als „Neo-Stasi“ und will ihn ebenso abschaffen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Berndt wird mit seiner Fraktion knapp ein Drittel aller Abgeordneten stellen und trotzdem erst einmal auf der Oppositionsbank Platz nehmen. Dort wird seine wichtigste Aufgabe darin bestehen, dafür zu sorgen, dass die AfD bei der nächsten Wahl so stark wird, dass gegen sie keine Regierung gebildet werden kann.
Und weil sich SPD, CDU und Grüne gemeinsam inhaltlich auf extrem dünnem Eis bewegen, könnte die nächste Wahl ja auch durchaus früher kommen als gedacht.
CDU
Die Christdemokraten können – schon wieder – nicht von der Ampel-Schwäche profitieren. Im Gegenteil: Im Vergleich zur letzten Wahl verlieren sie sogar massiv.
Das dürfte einerseits daran liegen, dass Spitzenkandidat Jan Redmann es nicht geschafft hat, sich im Land einen Namen zu machen. In die Schlagzeilen schaffte es der 44-jährige Anwalt erst kürzlich, weil der dabei erwischt wurde, wie er betrunken E-Scooter fuhr. Das brachte ihm einen Strafbefehl über 8.000.- Euro und reichlich Häme ein – aber keine Wählerstimmen.
Andererseits hat die CDU in Brandenburg dasselbe Problem wie in anderen Bundesländern (und auch im Bund): Viele potenzielle Wähler fragen sich, weshalb sie der Union ihre Stimme geben sollen – nur damit dann doch wieder ein Sozialdemokrat das Land regiert, womöglich sogar noch zusammen mit dem BSW.
Auf diese Frage hat die CDU keine Antwort. Und so verliert sie auch in Brandenburg weiter Wähler um Wähler. Da hat auch die Kanzlerkandidatur von Friedrich Merz nicht geholfen.
BSW
Politik ist Wettbewerb um Wählerstimmen. Man kann es nicht anders sagen: Für eine Partei, die das Konzept der ökonomischen Konkurrenz – also der Marktwirtschaft – ansonsten kategorisch ablehnt, ist die Wagenknecht-Truppe in diesem Wettbewerb sehr erfolgreich.
Auch in Brandenburg erzielt das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis. Mindestens im Osten könnte das BSW wohl auch Besenstiele als Kandidaten aufstellen – die würden trotzdem gewählt.
Spitzenkandidat Robert Crumbach war 40 Jahre lang in der SPD. „Aber die letzten zehn Jahre habe ich schon gezweifelt“, erzählt der Potsdamer Arbeitsrichter. Zum BSW sei er wegen des Ukraine-Kriegs gewechselt.
Als Bedingung, um in einer Koalition mitzuregieren, nennt er „Bemühungen für einen Frieden mit Russland“. Allerdings wird das BSW in Brandenburg zur Regierungsbildung vermutlich gar nicht gebraucht.
Grüne
Die Ampel insgesamt erlebt im märkischen Sand ihr nächstes Desaster. Die Grünen dürften zwar aller Voraussicht nach auch dann in den Landtag einziehen, wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde reißen: weil sie ein Direktmandat holen. Das reicht nach dem Brandenburger Wahlrecht. Aber sie halbieren ihr Ergebnis von der letzten Wahl. Im Landesverband von Annalena Baerbock haben die Wähler genug von den Grünen.
Das dürfte auch an der Außenministerin liegen, aber nicht nur: Der grüne Spitzenkandidat und bisherige Fraktionsvorsitzende Benjamin Raschke hat tatkräftig zum Misserfolg beigetragen. Der 41-Jährige fand es sinnvoll, vor allem mit Insektenschutz und dem öffentlichen Nahverkehr Wahlkampf zu machen. Das ging den Brandenburgern absehbar am Allerwertesten vorbei.
Zudem gehört Raschke zum unbelehrbaren Flügel seiner Partei: „Ich kann nur davor warnen, diesen AfD-Thesen hinterherzulaufen“, sagte er mit Blick auf eine schärfere Asylpolitik, und forderte „Integration statt Grenzkontrollen“.
Die Wähler sehen das erkennbar anders.
Ach, übrigens: Die FDP bleibt wieder draußen – eine Splitterpartei mit einem Ergebnis von um gerade noch einem (1) Prozent.
Ausblick
Brandenburg ist ein seltsames Bundesland: flach und sandig, groß, aber dünn besiedelt – und mit einem Loch in der Mitte (Berlin).
Vergleichsweise seltsam ist auch das Wahlrecht. Die teilweise bizarren Details sind etwas für Feinschmecker. Für uns hier bedeuten sie: Die ersten Prognosen – auf der Grundlage von Nachwahlbefragungen – und auch die ersten Hochrechnungen sind weniger präzise, als man das von anderen Wahlen her gewohnt ist. Besonders bei knappen Entscheidungen bleibt eine Restunsicherheit, bis alle Stimmen endgültig ausgezählt sind.
Trotzdem dürfte schon jetzt klar sein, dass es auf die von allen Parteien angekündigte Anti-AfD-Regierung SPD, CDU und Grüne hinausläuft. Das BSW wird wohl nicht gebraucht. In Potsdam wie in Berlin wird man gespannt beobachten, wie lange diese Koalition durchhält – denn die drei Parteien verbindet ja genau nichts außer dem Wunsch, die AfD von der Regierung fernzuhalten.