Bekommt die Asyl-Diskussion jetzt doch noch einmal Beine auf bundespolitischer Ebene? Bisher machten vor allem Landräte, Bürgermeister, ganz kleine Ortsvorsteher darauf aufmerksam, dass die Sache nicht mehr zu wuppen ist. Ministerpräsidenten und Landesminister warnten bedächtig und forderten doch im Grunde nur mehr Geld vom Bund, daneben sicher auch feste Grenzkontrollen. Der Kretschmer-Vorschlag ist von etwas anderer Natur, indem er wichtige Elemente des Asylsystems zur Diskussion stellt. Das wird schon durch seinen ersten Satz zum Thema deutlich: „Das Hauptproblem ist, dass es physisch nicht klappt.“
Die Anzahl der Menschen sei „einfach zu groß“. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) geht wohlgemerkt für das laufende Jahr schon von einer (nur illegalen!) Zuwanderung „zwischen 400.000 und 500.000“ Personen aus. Das sagte er nun im Interview mit der Welt. Damit unterstellt Kretschmer, dass der Sommer noch etwas ‚heißer‘ verlaufen wird als die ersten drei Monate des Jahres mit schon 100.000 neuen Schutzanträgen. Doch zugleich bedeutet diese Zahl fast eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr, insofern liegt Kretschmer mit seiner Schätzung nicht so falsch.
„Wenn wir der Meinung sind, dass es so in Ordnung ist, können wir es so belassen“
Diese Menge an Hinzukommenden, die wohlgemerkt ohne jede Qualifikation als Leistungsempfänger ins Land strömen, sei nicht mehr zu integrieren: „Schulen und Kindergärten sind überlastet, es gibt keine Wohnungen.“ Nicht einmal ein radebrechendes Deutsch kann man den Ankommenden offenbar noch beibringen. Diese Worte veröffentlichte Kretschmer auch separat auf Twitter, mit einer Kachel im milden Gegenlicht.
Sein Schluss: „Wenn wir der Meinung sind, dass es so in Ordnung ist, können wir es so belassen. Die Bürgermeister aber sagen, dass es so nicht geht. Darum muss gehandelt werden.“ Doch die Grünen stünden „quer im Stall“, wo es um eine Senkung der Zahlen geht. Das sagt freilich der Mann, der in Sachsen mit SPD und Grünen regiert und diese Koalition mutmaßlich im nächsten Sommer fortsetzen will. Eine etwaige Zusammenarbeit mit der AfD schließt Kretschmer im Interview kategorisch aus. Die sächsische Kenia-Koalition arbeite „sehr vertrauensvoll“ zusammen.
Kurioser Zufall zum Zeitpunkt der Interview-Veröffentlichung: Gemäß zwei neuen Umfragen (INSA und vom Institut Wahlkreisprognose) erhielte die AfD in Sachsen jeweils die meisten Stimmen (28 bzw. 32 Prozent) vor der CDU (25 bzw. 31 Prozent). Möglich, dass auch diese Tendenz in Kretschmers Worte und Positionierung einging. Der Ministerpräsident könnte aber durchaus in der Lage sein, die Situation im Freistaat auch selbständig einzuschätzen.
Aus Berlin hört Kretschmer angeblich viele Vertröstungen der Ampel: Die Beschlüsse fielen schwer, weil die Dreierkoalition kompliziert sei. Doch diese Zeit der „Selbstverzwergung“ müsse nun vorbei sein, sagt Kretschmer mit klarem Fokus auf Olaf Scholz. Der soll sich offenbar endlich ermannen und „den Stier bei den Hörnern packen“. Kretschmer will, auch eine interessante Wortwahl, „beherzte Entscheidungen“ treffen. Das weicht schon einen Tick von dem bisherigen CDU-Satz vom „weiten Herzen“ in Sachen illegaler Migration ab, wie ihn Jens Spahn und Tilman Kuban in ihrer Verteidigung Kretschmers erneut bemühten.
Kretschmer macht dann einen Vorschlag, der parteipolitisch brisant ist, eben weil er die Parteipolitik scheinbar überwinden will: „An erster Stelle muss das Wohl des Landes stehen, nicht parteipolitischer Streit.“ Man müsse in Sachen Asyl endlich „eine Lösung finden, die dieses Land befriedet“. „Die Spannungen steigen, die Frustrationen nehmen zu. Das wird nicht gut ausgehen, wenn wir die Dinge so weiterlaufen lassen.“ Das erinnert von der Wortwahl her an frühere Krisen, etwa zu Beginn der 1990er.
„Konkurrenten, keine Feinde“ – für wen gilt dieser Satz?
Und was schlägt Kretschmer nun vor? Eine Kommission, in der „alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen vertreten“ sein sollen. Hier könnte es zum Schwur kommen. Was ist beispielsweise mit der AfD als einer politischen Gruppe, die sicher nicht mehr ganz unwesentlich im Lande ist? Wird sie auch in diese Kommission eingebunden sein? Man darf es vorab bezweifeln. Und so ist es auch tatsächlich nicht gemeint. Diese angedachte Kommission ist nur eine Art außerordentlicher Vermittlungsausschuss, wie man ihn aus der Arbeit des Bundesrats kennt. Sie soll gemäß Kretschmer einen Vorschlag erarbeiten, der für den Bund und die Länder akzeptabel ist, und dort regieren ja überall nur CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP – auch durch den Fall Kemmerich.
Der Kretschmer-Satz „Wir sind parteipolitische Konkurrenten, keine Feinde“ gilt offensichtlich nur für das Verhältnis zu den genannten Parteien, nicht zur AfD und ähnlichen Konkurrenten auf der rechten Seite des Spektrums, etwa die Werteunion oder das Bündnis Deutschland. Sein Kommissionsvorschlag ist also, parteipolitisch betrachtet, der Versuch, die Wagenburg jener sechs Parteien zu retten, indem man sie noch einmal sturmfest macht.
Und da stehen Kretschmer am ehesten die Grünen im Weg, die tatsächlich alles andere wollen als den von ihm vorgezeichneten Kompromiss. Die Linke und die SPD-Linke werden an dieser Stelle wohl eine geringere Rolle spielen. Und die SPD-Führung hofft Kretschmer auf seine Seite zu ziehen, indem er den Bundeskanzler der Selbstverzwergung bezichtigt, die der durch einen Ritt auf dem Stier beenden soll. Netter Versuch.
Doch die ampelnahe Presse hat bereits zur Jagd auf Kretschmer und seine Unionsgenossen angesetzt. So veröffentlicht ntv.de einen Meinungsartikel, in dem man dem Ministerpräsidenten vorwirft, „sich selbst rechts überholt“ zu haben und ihm vorwirft, die Belastung durch die Ukrainer zu ignorieren. Doch Kretschmers Schätzung der 400.000 Asylanträge in diesem Jahr hat tatsächlich gar nichts mit den Ukraine-Flüchtlingen zu tun, die sich in diesem Jahr auf niedrigem Niveau stabilisiert haben. Die vorgeschlagenen Maßnahmen Kretschmers seien aber zudem wirkungslos, weil man nach Syrien und Afghanistan ohnehin nicht abschieben könne, nach Nordafrika aber kaum abschieben müsse (das werden einige Kommunen anders sehen). Am Ende liest der Kommentator eine „Einschränkung des Asylrechts“ aus Kretschmers Worten heraus. Ähnlich versteht der Tagesspiegel Kretschmers Worte. Gesagt hat er das aber nicht.
Sozialleistungen für Zuwanderer im Fokus
Was will Kretschmer nun also wirklich? Klären will er in der Tat die „Höhe von Sozialleistungen für Flüchtlinge“, denn die seien „in Europa sehr unterschiedlich und für Deutschland ein klarer Pull-Faktor“. Dann fordert er – was bei einem dafür mitverantwortlichen Landeschef schon seltsam anmutet – „stärkere Instrumente und wirksame Abkommen zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber und illegaler Einwanderer“. Die kriminell gewordenen Schutzsuchenden vergisst er hier zu erwähnen. Es geht ihm sozusagen um die Bundesvorleistungen, die er hier als Amtshilfe einfordert und offenbar nur schwer bekommen kann. Das Dritte, was er fordert, sind „sichere Außengrenzen in der EU“, also noch ein Thema, wo er nur Druck auf die Bundesregierung ausüben kann, damit diese in seinem Sinne handelt.
Durch die Bund-Länder-Kommission (nennen wir sie einmal so) sollen laut Kretschmer auch verfassungsändernde Gesetzgebungsinitiativen möglich werden. Welche, sagt er nicht. Das erinnert aber wiederum an die frühen Neunzigerjahre, als schon einmal hohe Zuwanderungszahlen das Land umtrieben und sehr rasch eine Verfassungsänderung beschlossen wurde, die später aber durch einen dysfunktional gewordenen Schengenraum bzw. das hartnäckige Ignorieren von Grundgesetz und Dublin-Abkommen zunichte gemacht wurde. Kretschmer will nun noch mehr Regeln und Gesetze schaffen, um diesem Problem abzuhelfen. Und das könnte notwendig sein, zumal da, wo es um Sozialleistungen für Zuwanderer geht, die Deutschland in der EU sehr isolieren.
Daneben fordert er, solange die Außengrenzen nicht perfekt gesichert sind (und das ist bekanntlich ein durchaus weitreichendes Ziel), die Kontrollen an den deutschen Grenzen zu verstärken – etwa auch zwischen Sachsen und Polen, wo Kretschmer feste Grenzkontrollen auch unter dem Gesichtspunkt von Staus und Verkehrseinschränkungen für unproblematisch hält. An der bayrisch-österreichischen Grenze komme man ja auch ganz gut damit klar.
Und an allem ist Habeck schuld …
Nebenbei gefragt: Ist Deutschland eigentlich wirklich noch „Exportweltmeister“, wie Kretschmer sagt? Oder ist das nur ein verklärter Blick auf eine Meisterschale aus der Vergangenheit? Eher scheint das letztere zuzutreffen. Die USA und China haben Deutschland bereits hinter sich gelassen, weitere Konkurrenten dürften bald aufsteigen.
Zum Schluss tut Kretschmer etwas Bezeichnendes: Befragt nach dem Erfolg der AfD in neueren Umfragen, verweist er – wie viele andere – auf die Grünen. Robert Habeck habe „gut angefangen“ – womit denn bloß, sagte Kretschmer hier nicht. Kretschmer wünscht sich eine veränderte Zusammenarbeit mit den Grünen oder der Bundes-Ampel insgesamt. Der „selbstherrliche Politikstil“ in der Energie- und Wirtschaftspolitik habe „großen Schaden angerichtet“. Den Grünen gehe es nicht um das Land, nur um ihre Ideologie. Doch nichts deutet hier auf eine Umkehr.
Kurzum: Kretschmer will die Zusammenarbeit mit Grünen und SPD besser machen, aber nichts grundlegend anders machen. Es soll weitergehen mit dem Kommissionsdschungel und den Bund-Länder-Runden. Dass es gelingt, scheint wie gesagt zweifelhaft, weil die Gegenseite ideologisch so verbohrt ist – und das gilt freilich von den Grünen bis weit in die SPD hinein. Die Ausläufer des migrationsfreundlichen Flügels liegen aber in FDP und Union. Und auch hier wird Kretschmer es nicht leicht haben, grundlegende Änderungen durchzusetzen. Er ist ein Flügelmann in seiner eigenen Partei (oder markiert ihn), ob wie früher zum Thema Russland oder nun in Sachen illegale Migration. Das bedeutet noch nicht, dass auch nur die Unionsparteien ihm geschlossen folgen werden, wo es um eine grundlegende Reform der deutschen Asylgesetzgebung in den genannten Punkten geht. Auch wenn diese Reform an sich dringend geboten wäre.