„Heute vor 91 Jahren wurde Helmut Kohl geboren, der Kanzler der Einheit“, twitterte Jens Spahn am 3. April 2021: Das große Vorbild „war einer der wesentlichen Gründe, mich schon als Jugendlicher für die Politik zu begeistern und für die CDU zu engagieren.“
Den Sohn des Altkanzlers Walter Kohl dürfte sich über Spahns Botschaft nur mäßig freuen. Er klagt gerade vor dem Landgericht Bonn gegen sein Bundesgesundheitsministerium. Ihm und seinem Minister wirft er vor, vertragsbrüchig zu handeln. Für eine Million Schutzmasken, die Kohls Firma im Frühjahr 2020 vertragsgemäß geliefert hatte, zahlte die Behörde bis heute nichts. Das geht nicht nur dem Altkanzler-Sohn so. Mehr als 70 Unternehmen prozessieren derzeit gegen Spahns Ministerium, weil sie für ihre Lieferung nicht oder nur teilweise bezahlt wurden – mit teils absurden Begründungen. Andere Unternehmen, die damals im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Corona-Schutzausrüstung beschafften, bekamen dagegen ihr Geld.
Offenbar machte in etlichen Fällen der persönliche Kontakt zu Spahn und dessen Spitzenbeamten den Unterschied – wertvolle Verbindungen, über die Kohl jr. nicht verfügte. „Der Grundsatz ‚Verträge sind einzuhalten’ gilt offenbar für die beiden nicht“, schimpft Walter Kohl.
In den Masken-Verfahren der Händler gegen das Ministerium geht es zusammen nicht nur um mehrere hundert Millionen Euro, sondern auch um politisches Prestige.
Sollte das Gericht so wie angekündigt urteilen, dann würde es teuer für den Steuerzahler. Für Spahn, der sich vor kurzem in Berliner Hintergrund-Kreisen noch als kanzlerfähig präsentierte, wäre die juristische Niederlage in diesem und etlichen sehr ähnlichen Verfahren ein weiterer großer Gesichtsverlust.
Wie kam es überhaupt zu den Masken-Geschäften des Ministers? Spahn hatte noch im Februar 2020 verkündet, Covid-19 sei „milder als eine Grippe“; Schutzmasken für den Privatgebrauch, versicherte er unisono mit dem Robert-Koch-Institut, seien unnötig. Als er dann seine Meinung änderte, stellten seine Beamten fest, dass Deutschland kaum über Lagerbestände an Schutzmasken, -kitteln und –handschuhen verfügte. Und über so gut wie keine eigene Produktionskapazitäten.
Am 9. März entschied sich Spahn deshalb für ein so genanntes Open-House-Beschaffungsverfahren: Er sicherte jedem Lieferanten die Abnahme der Ware zu, der seinem Ministerium mindestens 25.000 Masken anbieten konnte. Für eine FFP-2-Maske bot er 4,50 Euro, für die einfachen KN-95-Masken etwas weniger. Angesichts der guten Marge orderten viele Händler bei asiatischen Herstellern – auch Walter Kohl, der als Unternehmer in der Automobil-Zulieferungsbranche seit 15 Jahren über gute Kontakte nach Fernost verfügt.
Spahns Beamte schlossen einen Kontrakt nach dem anderen, verloren allerdings schnell die Übersicht. Statt der 1,2 Milliarden Euro, die das Bundesgesundheitsministerium für Schutzausrüstung ausgeben wollte, summierten sich die Bestellungen schnell auf über 6 Milliarden.
Spahn hatte einerseits bekommen, was er wollte: Pressefotos, auf denen er Masken in die Kameras halten und sich als tatkräftiger Pandemie-Manager präsentieren konnte. Andererseits wusste er nicht, wie er die Überbestellung bezahlen sollte.
Obendrein boten spätestens ab Mai 2020 auch viele private Unternehmen Masken an. Es gab keinen Engpass mehr, der von Staats wegen beseitigt werden musste. Der CDU-Politiker schaltete die Beratungsfirma Ernst & Young ein, trotz des ziemlich ramponierten Images der EY-Experten: sie hatten die frisierten Bilanzen des mittlerweile insolventen Zahlungsdienstleisters Wirecard lange mit ihrem Gütestempel versehen. Jetzt sollte EY Spahn helfen, aus dutzenden Verträgen auszusteigen. Gegenüber vielen Händlern behauptete das Ministerium via EY pauschal Qualitätsmängel, um nicht zahlen zu müssen.
Im Fall der Kohl Consult liest sich die Begründung besonders originell. Ihm waren wie vielen anderen Händlern Lieferorte- und Termine zugewiesen worden. Am 30. April sollte er seine Masken zu einem Lager des Logistikunternehmens Fiege bringen. Dort stauten sich allerdings die LKWs, es gab zu wenig Kapazität, um abzuladen und die Ware einzulagern. Die Kohl Consult bekam einen neuen Liefertermin für den 8. Mai, und als auch dann die Ware immer noch nicht in Empfang genommen werden konnte, schließlich für den 11. Mai. Seine Zahlungsverweigerung begründete das Ministerium dann so: Kohl jr. habe die Masken zu spät geliefert. Außerdem seien sie nicht „wasserabweisend“. Davon stand allerdings nichts im Liefervertrag.
Zu spät geliefert, obwohl das beauftragte Logistikunternehmen gar nicht in der Lage war, die Masken früher zu übernehmen: diese Argumentation des Ministeriums, das erklärten die Bonner Richter, sei nicht nachvollziehbar.
In dem Rechtsstreit zwischen Kohl und der Bundesrepublik Deutschland, heißt es in ihrem Beschluss vom 9. März, „weist die Kammer darauf hin, dass sie den tatsächlichen Vortrag der Klägerin … für entscheidungserheblich hält.“ In der erzwungenermaßen späteren Lieferung kann die Kammer „nach dem jetzigen Sach- und Streitstand kein Verzicht oder Abstandnahme von der Fixabrede sehen.“ Die Richter erklärten, es bestehe „eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten“. Zu Deutsch: Spahns Beamte beziehungsweise die EY-Juristen müssten sich schon mehr als bisher einfallen lassen, wenn sie das Verfahren nicht krachend verlieren wollen.
Andere Maskenlieferanten hatten 2020 mehr Glück. Und offenbar auch den direkten Draht zu Spahn. Etwa die TLG Health GmbH aus Hamburg. Einer ihrer Gründer und Eigentümer ist Georg Schacht, 32, dessen Vater Horst Joachim Schacht im Vorstand des Logistik-Riesen Kühne + Nagel sitzt. Als zunächst auch die Zahlung des Ministeriums an die TLG stockte, konnte sich Georg Schacht direkt an Spahn zur Regulierung wenden. Er schickte ihm die Dokumentation eines längeren Chatverlaufs zwischen Unternehmern, die auf ihr Geld warteten. Spahn antwortete direkt: „Lieber Herr Schacht, vielen Dank. Das weiß ich sehr zu schätzen. Wir sind in der zügigen Aufarbeitung.“ Und bat den Jungunternehmer, ihm das Material per WhatsApp auf sein Mobiltelefon zu senden: „HG JS“. Herzliche Grüße, Jens Spahn.
Die TLG Health bekam ihr Geld. Der Leiter von Spahns Zentralabteilung Ingo Behnel kümmerte sich persönlich um die Regulierung. In mindestens einem anderen Fall, in dem ein CDU-Politiker an dem Masken-Geschäft beteiligt war, ließ das Ministerium einen Open-House-Liefervertrag in eine Direktbestellung umschreiben.
„Es drängt sich der Eindruck auf, dass das BGM gegenüber einer Vielzahl von Unternehmen, die sich marktüblich verhalten haben, vertragsbrüchig geworden ist“, schrieb Walter Kohl am 3. April 2021 auf Twitter, „während einige über Mandatsträger eingefädelte Verträge zu marktunüblichen Sonderkonditionen offenbar bezahlt wurden“.
Die Ungleichbehandlung kann Spahn nicht befriedigend erklären. Auf entsprechende Fragen von TE antwortete sein Haus nur mit ausweichenden Textbausteinen. Verliert sein Ministerium auch noch die anhängigen Verfahren, dann stünde der CDU-Politiker als Minister dar, der sich bei seiner Maskenbeschaffungs-Aktion erst grob verkalkulierte, und dann noch daran scheiterte, anderen die Schuld dafür zuzuschieben. In den Klagen der mehr als 70 Lieferanten geht es um mehr als 200 Millionen Euro. Dazu kommt noch das Honorar für Ernst & Young. Dazu kursieren in Berlin verschiedene Zahlen. Derzeit soll sich die Rechnung auf mehr als 30 Millionen Euro belaufen.
Das konfuse und erratische Maskenbestellungs-Verfahren passt in ein Muster, das sich bei Jens Spahn auch anderswo zeigt: Ob nun in seiner Entscheidung – angeblich auf Druck Merkels – die Impfstoff-Beschaffung wider besseres Wissen der EU zu übertragen, bei der Konfusion um den Impfstoff Astra Zeneca oder dem Scheitern bei der Beschaffung von Schnelltests. Auf der einen Seite steht das öffentliche Image des 40jährigen CDU-Politikers, der mit enormem Selbstbewusstsein von die Kameras tritt und an seinem Bild des zupackenden Politikers arbeitet, der sich ganz selbstverständlich als Erbe Helmut Kohls sieht, zumindest, was den Aufstiegswillen betrifft. Und auf der anderen das wenig schmeichelhafte Bild eines Ministers, der sein Haus, um es vorsichtig zu sagen, unsystematisch führt, Gefälligkeitspolitik bevorzugt und zu abenteuerlichen Winkelzügen greift, um seine Fehler zu vertuschen.
„Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, meinte Spahn schon 2020.
Warum die Wähler ihn so großzügig behandeln sollten, verrät Spahn bisher nicht.