Tichys Einblick
KIRCHE IN DER KRISE

Kirchenaustritte nehmen zu

Vor allem Jüngere verlassen die Gemeinden. Bis 2060 wird es in Deutschland weniger evangelische Christen als Muslime geben. Für die EKD kein Grund für einen Kurswechsel.

picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Noch gehören 22,6 Millionen Deutsche der katholischen Kirche und 20,7 Millionen der evangelischen Glaubensgemeinschaft an. Der katholische Bevölkerungsanteil lag 2019 bei 27,2, der evangelische bei 24,9 Prozent. Für die beiden großen Kirchen markiert das einen historischen Tiefstand – vor allem weil die Zahl der Kirchenaustritte rasant zunimmt. Zum Vergleich: 1956 zählten sich in (West-) Deutschland noch 50,1 Prozent zur evangelischen und 45,9 Prozent zur katholischen Kirche. Bei der Zahl der Kirchenaustritte überholte 2019 die katholische Kirche die evangelische – ein Novum: Etwa 273.000 wendeten sich von der römisch-katholischen Gemeinschaft ab, 270.000 von der EKD.

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Bemerkenswert ist, dass die große Zahl der Austritte in der Führung beider Kirchen nicht zu einem Kurswechsel führt. Beide setzen ihre Politisierung und Verweltlichung fort. Die evangelische Kirche beteiligt sich finanziell sogar an einem Schiff, dessen Besatzung die Aufgabe hat, Migranten im Mittelmeer an Bord zu nehmen und nach Europa zu bringen. Jeden Vorwurf, die EKD würde damit die ungeregelte Migration nach Europa weiter anheizen und das Geschäft der Schlepper unterstützen, weist der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm zurück.

Dass sich die Kirchen leeren, sieht die EKD offenbar als einen Prozess, der sich ohnehin nicht aufhalten lässt. Nach einer 2017 berechneten Projektion der EKD wird die Zahl ihrer Mitglieder durch Austritte, Sterbefälle und Geburtenrückgang bis 2060 auf bundesweit zehn Millionen sinken – und dann deutlich unter der Zahl der Muslime liegen. Nach den Angaben der evangelischen Kirche verlassen nur wenige Mitglieder im Rentenalter die Gemeinden; der Schwerpunkt der Austritte liegt in der Altersstufe zwischen 25 und 35 Jahren. Es verabschieden sich deutlich mehr Männer als Frauen. Die EKD geht selbst davon aus, dass sogenannte „kirchenspezifischen Faktoren“ – also Austritte wegen mangelnder Anziehungskraft – eine größere Rolle beim Schrumpfen ihrer Gemeinden spielen als die demografische Entwicklung.

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Auch bei der katholischen Amtskirche führt die neue Kirchenleere bisher nicht zu einer Erschütterung oder Neubesinnung. Allein in München, der Heimatstadt von Kardinal Reinhard Marx, verließen 10.744 Personen im Jahr 2019 die Gemeinden – ein Austrittsrekord seit 1947. Marx, bis März 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, kommentierte die Entwicklung fatalistisch in einem Interview mit der französischen Zeitung „La Croix“: „Akzeptieren wir die Tatsache, dass es mehrere Wege des Glaubens gibt.“

In Corona-Zeiten scheint sich die Abwendung vieler Gläubigen noch einmal zu beschleunigen. Die wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns schlagen auch auf die Kirchenfinanzen durch. Wegen Kurzarbeit und Jobverlusten rechnet die EKD mit fast 1,2 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen als 2019.

Der scheidende EKD-Präses Bedford-Strohm entdeckt darin „eine Chance für einen Abbau von Doppelstrukturen und eine engere Zusammenarbeit der 20 Landeskirchen“. Eine Maßnahme, die sie bei Jüngeren populärer machen sollte, verwarf die EKD wegen ihrer schlechten finanziellen Lage allerdings wieder: Bis vor Kurzem hatte die Kirchenführung überlegt, junge Arbeitnehmer durch einen reduzierten Kirchensteuersatz zu halten.

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