Tichys Einblick
Atomkraftwerke

„Streckbetrieb“, bloß nicht Laufzeitverlängerung: die grünen Verrenkungen bei der Atomkraft

Allmählich begreifen Spitzenpolitiker in Habecks Partei, welche Risiken sie mit einer Abschaltung der Atommeiler eingehen würden. Sie versuchen den Konflikt mit Sprachkosmetik zu lösen. Manchen Grünen geht auch das schon zu weit.

Illustration: Julia Iffländer

Ein Teil der Grünen nähert sich offenbar einer längeren Laufzeit für die drei verbliebenen Kernkraftwerke an – allerdings sehr langsam und unter merkwürdigen verbalen Verrenkungen. Am Sonntag deutete die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt in der Sendung „Anne Will“ an, sie sei offen für den so genannten Streckbetrieb in den Atomkraftwerken. Der bedeutet: die Kernkraftwerke wechseln in einen Modus, in dem die Brennstäbe langsamer verbraucht werden. Dadurch würde etwas weniger Strom produziert, die Anlagen könnten dafür mit den vorhandenen Brennstäben über den 31. Dezember 2022 hinaus laufen. Auch Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) plädiert mittlerweile für einen Streckbetrieb im Kraftwerk Isar 2, von dem die Stromversorgung der bayerischen Landeshauptstadt wesentlich abhängt, sollte es zu einer akuten Gasknappheit kommen. Die grüne Rathausfraktion unterstützt Reiter bei diesem Vorstoß.

Bei „Anne Will“ meinte Göring-Eckardt: „Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist.“ Gleichzeitig erklärte sie aber auch: „Eine Laufzeitverlängerung wird es nicht geben.“ Beide Aussagen sind absurd. Erstens würde ein akuter Strommangel und erst recht ein Blackout nicht nur Krankenhäuser, sondern alle Stromverbraucher in dem jeweiligen Gebiet treffen. Zweitens wäre es illusorisch, erst dann auf einen Weiterbetrieb der Atommeiler umzuschalten, wenn eine Strom-Notsituation unmittelbar bevorsteht. Drittens ergibt auch ihre Formel ‚Streckbetrieb, aber keine Laufzeitverlängerung‘ nicht den geringsten Sinn. Laut Atomausstiegsgesetz enden die Genehmigungen zum Einsatz der Brennelemente in den Kraftwerken Neckarwestheim 2, Emsland und Isar 2 am 31. Dezember 2022. Für einen Weiterbetrieb – und sei es nur einen Tag – müsste das Gesetz geändert und die Stromerzeugungsgenehmigung verlängert werden. Jeder Betrieb über den 31. Dezember hinaus wäre also eine Laufzeitverlängerung – egal, um welchen Zeitraum es geht.

Möglicherweise gibt es einen politischen Grund für die seltsamen Erklärungen der Spitzenpolitikerin: Zumindest bei einem Teil der Grünen reift offenbar die Erkenntnis, dass es die Versorgungssicherheit des ganzen Landes aufs Spiel setzen würde, mitten in der schwersten Energiekrise der Bundesrepublik drei Kraftwerke abzuschalten, die zusammen noch gut 5 Prozent des Strombedarfs decken. Andererseits gehört der Atomausstieg zu den zentralen Doktrinen der Grünen. Die Lösung dieses Konflikts scheinen sich einige in Parteiführung so vorzustellen: Es kommt faktisch zu einer Laufzeitverlängerung – allerdings unter dem Namen ‚Streckbetrieb‘, der sich Grünen-Wählern womöglich besser verkaufen lässt.

Einem anderen Teil der Partei geht selbst das schon zu weit. Jan-Niclas Gesenhues, seit Juli umweltpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, twitterte am Montag:

„Eine Verlängerung der Atomkraft wäre mit Blick auf Bevölkerungsschutz, Rohstoffabhängigkeit (Uran!) und Endlagerung gefährlich.“

Dabei handelt es sich durchweg um Scheinargumente. Die deutschen Krenkraftwerke laufen seit Jahrzehnten sicher. Der TÜV bestätigte kürzlich noch einmal, dass der Weiterbetrieb der letzten drei Atomanlagen unproblematisch wäre. Für die Sicherheit der Bevölkerung wäre ein Blackout – noch dazu im Winter – dagegen eine sehr konkrete Bedrohung. Eine politisch bedenkliche Abhängigkeit bei Brennmaterial existiert überhaupt nicht. Erstens könnten die vorhandenen Brennstäbe durch den Streckbetrieb – siehe oben – länger genutzt werden. Das US-Unternehmen Westinghouse hatte außerdem schon angeboten, neue Brennelemente kurzfristig im Lauf des Jahres 2023 zu liefern. Nur: sie müssten jetzt bestellt werden.

Und atomare Abfälle müssen ohnehin irgendwann gelagert werden – völlig unabhängig davon, wie lange die Kraftwerke am Netz bleiben.

Ohne konkret zu erklären, was er meint, machte Gesenhues mit dem Verweis auf die Versorgungssicherheit ausgerechnet der Union Vorwürfe. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hatte kürzlich einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke gefordert. Ihr Antrag war allerdings von den Regierungsfraktionen abgelehnt worden, auch von der FDP.

Bisher beantwortet auch keiner der Abschaltungs-Befürworter die Frage, wodurch die 5 Prozent der Stromerzeugung dann ab 1. Januar gedeckt werden sollten. Gas fällt bei einer Mangellage aus – zumal auch die Flüssiggas-Terminals, mit denen russische Gaslieferungen ersetzt werden sollen, bis zum Ende des Winters noch nicht fertigstellt sein werden. Und die noch vorhandenen Kohlemeiler könnten im Winter an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Frankreich als Stromlieferant fällt derzeit auch weitgehend aus – im Nachbarland stehen zurzeit etliche Meiler wegen Revisionen und Reparaturen still.

Der Hamburger Wirtschaftssenator Michael Westhagemann schlug deshalb in einem Interview mit der WELT AM SONNTAG vor, im Fall einer Gasknappheit das erst kürzlich stillgelegte Hamburger Steinkohlekraftwerks Moorburg zu reaktivieren. Das erst 2007 für drei Milliarden Euro fertiggestellte Kraftwerk mit einer Kapazität von 1.600 Megawatt war 2021 stillgelegt worden. Hamburgs grüner Umweltsenator Jens Kerstan widersprach umgehend. In einer von ihm verbreiteten Stellungnahme heißt es: „Wir brauchen Moorburg auch in dieser krisenhaften Zeit für eine sichere Stromversorgung in Norddeutschland nicht. Wir produzieren genug Strom und müssen diesen sogar abregeln, wenn zu viel davon durch Windkraft entsteht. Und wir können überschüssigen Strom aufgrund fehlender Leitungen auch nicht nach Süddeutschland transportieren.“

Dabei bezieht sich Kerstan allerdings auf Durchschnittswerte. Bei einer so genannten Dunkelflaute im Winter – also Windstille bei trübem Wetter – liefern Anlagen aus dem Bereich erneuerbare Energie auch im Norden nicht genügend Strom, um den Wegfall der Kernkraft und möglicherweise noch ein Herunterfahren der Gaskraftwerke auszugleichen.

Die realitätsfernen Debatten im deutschen Politikbetrieb angesichts der selbstverschuldeten Energiekrise sorgt indes für Spott im Ausland. Unter der Überschrift „Die Deutschen haben in einem Traum gelebt. Ihre Energiepolitik war eine Fantasie“ schreibt der britische „Economist“:

„Jahrelange Selbstgefälligkeit hat Deutschland in eine Zwangslage gebracht. Doch obwohl der Staat die Tragweite seines Dilemmas und die immense Herausforderung eines Kurswechsels erkennt, bleiben deutsche Debatten über die eigene Situation seltsam engstirnig und ohne jede Dringlichkeit. Umso merkwürdiger ist dies in einem Land, das sich zwar für seine demokratische Offenheit rühmt, aber keine Erklärung zur aktuellen Schieflage liefert. Ein Beispiel ist Deutschlands bedauernswerte Abhängigkeit von russischen Brennstoffen. Diese entstand nicht nur, weil Putin Unternehmen und Politiker mit niedrigen Preisen lockte und so den russischen Anteil am deutschen Erdgasverbrauch in einer Zeitspanne von 20 Jahren von 30 % auf 55 % ansteigen ließ. Gleichzeitig wurden Beschlüsse gefasst, die die Energieversorgung aus anderen Quellen reduzierten. Neben zahlreichen Fällen derartiger Unvernunft ist das bekannteste Beispiel die Kernkraft.“

Der „Economist“ weist auch darauf hin, dass sich Deutschland aus eigenen Quellen mit Gas versorgen könnte – wenn die Regierung Merkel das Fracking nicht gesetzlich untersagt hätte.

Der Bundesregierung und insbesondere den Grünen läuft die Zeit davon. Die Partei Robert Habecks müsste sich jetzt dazu durchringen, eine Änderung des Atomgesetzes mitzutragen, sie müsste jetzt auch die Zustimmung erteilen, neue Brennelemente zu bestellen. Denn selbst bei einem Streckbetrieb: Irgendwann 2023 endet die Lebensdauer der Brennstäbe. Die Energiekrise Deutschlands aber nicht unbedingt.

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