Stefanie Claudia Müller: Was hat Deutschland verpennt in den vergangenen Jahren?
Daniel Stelter: Wir haben in Deutschland eine Sonderkonjunktur erlebt, die nur zum Teil auf unserer eigenen Leistung beruht. Im Kern haben das billige Geld der EZB, der schwache Euro und die Globalisierung die Nachfrage nach deutschen Produkten weltweit gesteigert. Dieser Boom ist aber nicht nachhaltig. In der Folge ist der Anteil der Exporte an der deutschen Wirtschaftsleistung explodiert, hat zu entsprechend guter Konjunktur geführt, aber auch dazu, dass die Deutschen immer mehr Kredite an das Ausland gegeben haben. Es ist aber nicht klug, in einer immer mehr überschuldeteren Welt der Gläubiger zu sein! Schon in der Vergangenheit haben wir deutliche Verluste erlitten. Die Subprime-Krise hat uns rund 600 Mrd. Euro gekostet und wir werden noch größere Verluste in Zukunft erleiden.
Die deutsche Politik hat die guten Zeiten nicht genutzt, um das Land wetterfest zu machen: Infrastruktur, Innovation, Bildung, Bundeswehr … überall gibt es große Lücken. Die „schwarze Null“ ist ein Märchen, da alleine die Zinsersparnis größer war als die Tilgung der Schulden. Hinzu kommen immer mehr Versprechen für Soziales: Rente mit 63, Mütterrente etc., was kostet, aber dem Standort nichts bringt. Jetzt wo unsere Wirtschaft ins Stottern gerät, wo die alten Industrien vor einem existenzbedrohenden Wandel stehen, müssen wir erkennen, nicht vorgesorgt zu haben.
Macht Emmanuel Macron die mutigere Politik?
Ja, er hat Reformen angestoßen, während bei uns seit 15 Jahren Stillstand herrscht. Vor allem aber baut er EU und Eurozone in französischem Sinne um, was zu mehr Umverteilung führen wird und zu einer Belastung gerade Deutschlands. Ursula von der Leyen und vor allem Lagarde an der Spitze der EZB waren brillante Schachzüge. Chapeau! Aber eben in französischem, nicht unbedingt im EU-Interesse.
Ich fürchte, in fünf Jahren werden EU und Eurozone noch schlechter dastehen, weil eben die Probleme vertuscht statt gelöst werden: hohe staatliche und private Schulden, divergierende, zum Teil völlig fehlende Wettbewerbsfähigkeit und schlechte demografische Entwicklung. All das kann man nicht mit mehr Schulden, mehr Umverteilung und mehr billigem Geld der EZB lösen. Diese Erkenntnis fehlt unseren Politikern noch, auch Macron.
Sind Immigranten gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft und die Staatsfinanzen?
Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat schon 2014, also vor der sogenannten Flüchtlingswelle, vorgerechnet, dass die Migration für den deutschen Staat – also die Allgemeinheit – ein Zuschussgeschäft ist. Sie hat ausdrücklich davor gewarnt, den Fehler der Gastarbeiterzuwanderung zu wiederholen und gefordert, in Zukunft die Zuwanderung von qualifizierten Menschen zu fördern. Das haben wir nicht getan. Die Zuwanderer von 2015 werden im Schnitt weniger arbeiten und geringere Einkommen erzielen als erforderlich. Damit verschärft sich das Problem der Sozialstaatsfinanzierung zusätzlich.
Brauchen wir mehr oder weniger Integration in Europa?
Wir brauchen die richtige Integration. Die EU sollte sich auf die Kernaufgaben, Sicherung der Außengrenzen und Mehrung des Wohlstands konzentrieren. Bei diesen beiden Aufgaben versagt sie jedoch für alle offensichtlich. Stattdessen mischt sie sich immer mehr in Dinge ein, die besser auf der Ebene der Nationalstaaten gelöst werden können. Damit schürt sie die Unzufriedenheit weiter. Für die Politiker ist die Antwort auf jedes Problem „mehr Integration“. Das ist inhaltlich falsch und wird außerdem nicht getragen von der Mehrheit der Bevölkerung.
Was sind die größten Fehler der EU aus wirtschaftlicher Sicht?
Zunächst war der Euro ein großer Fehler. Die Mitgliedsländer haben wirtschaftlich wenig gemein. Es ist ein Fehler, dies zu leugnen und mit immer mehr billigem Geld der EZB die Probleme zu unterdrücken, ohne sie zu lösen. Damit nehmen die Spannungen zu und es wird immer realistischer, dass wir in unser japanisches Szenario fallen: Jahrzehnte geringen Wachstums und deflationärer Tendenzen. Das liegt auch an der demografischen Entwicklung. Gepaart mit der Unfähigkeit, die Zuwanderung nach Europa zu steuern und begrenzen, braut sich da ein sehr unerfreuliches Szenario zusammen.
Richtig wäre, die Schulden zu restrukturieren, den Euro teilweise aufzulösen und massiv in Bildung, Innovation und Infrastruktur zu investieren. Nichts davon passiert. So schrieb die Financial Times vor kurzem, Europa wäre schön zum leben, aber kein Platz zum Investieren. Das sagt alles.
Wo sehen Sie den Euro in 10 Jahren?
Langfristig wird der Euro nicht überleben. Kann er noch 10 Jahre halten? Vielleicht. Wir sehen ja, wie die Politik und die EZB alles tun, um das Spiel zu verlängern. Andererseits wächst der Druck aus dem Ausland. Die Eurozone hat den größten Handelsüberschuss der Welt, weil die Binnennachfrage wegen der ungelösten Probleme so schwach ist. Nur über die Schwächung des Euro konnte die EZB dies bewerkstelligen. Nun zeigt sich, dass der Rest der Welt sich das nicht mehr länger bieten lässt. Wir laufen auf eine Art Währungskrieg zu, wo jeder versucht, die eigene Währung zu schwächen. Weil die EZB schon viel versucht hat, sitzt sie am kürzeren Hebel. Steigt der Euro, bekommen wir eine neue Rezession und das könnte dann zum politischen Ende des Euro führen.
Wie wichtig sind Freihandelsabkommen wie das mit Mercosur und vielleicht bald das mit Afrika für die EU?
Nett, aber irrelevant. Die Märkte sind verglichen mit den in den USA, Asien und Großbritannien einfach zu klein.
Sind Johnson und Trump Gift für die deutsche Wirtschaft?
Die leichte Antwort wäre, „ja“. Aber das ist viel zu einfach. Das Problem ist die einseitige Ausrichtung auf den Export und die angesprochenen Fehler der Politik. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Überschüsse in den Fokus der Kritik geraten, und Trump ist nur derjenige, der es am lautesten sagt.
Trump ist eher die Folge der verfehlten Politik der USA der letzten Jahre. Immer mehr Menschen nehmen an der Schaffung von Wohlstand nicht angemessen teil. Diese nun in den Mittelpunkt zu stellen – zumindest im Wahlkampf – ist die richtige Strategie. Der Brexit fällt in die gleiche Kategorie, verstärkt durch das berechtigte Unwohlsein mit der Politik und Entwicklungsrichtung der EU. Ob es für UK wirklich das Desaster wird, was viele erwarten, ist nicht so sicher. Das Land verfügt über herausragende Schulen und Universitäten, die Weltsprache und kann vor allem eigenständig bei Geld- und Fiskalpolitik agieren. Aus Sicht der Briten ist die Austrittsvereinbarung nicht akzeptabel und Johnson verfolgt die richtige Strategie, im Zweifel auch auf den no-deal Brexit zu setzen.
Vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass die EU und vor allem die Eurozone nicht so gut dastehen wie immer behauptet. Der harte Brexit dürfte der EU erheblich schaden und so die Probleme verschärfen. Meine These ist, dass UK in zehn Jahren deutlich besser dasteht als heute prognostiziert – und die Eurozone deutlich schlechter. Gerade für Deutschland ist der Brexit ein Desaster.
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