»Das christliche Menschenbild heißt, dass wir den Menschen so nehmen, wie er ist. Und ihn nicht umerziehen wollen. Und nicht sagen ›Der Mensch ist nur dann gut, wenn er sich so oder so verhält‹.« Das waren die Worte von Volker Kauder kurz vor dem CDU-Parteitag im Januar. Passend zu einem am Mittwochmorgen stattfindenen Charterflug nach Hannover gab der ehemalige Unionsfraktionschef nun der Schwäbischen Zeitung ein Doppelinterview mit Hilde Mattheis (SPD), in dem die beiden GroKo-Politiker mehr direkte Migrantentransporte aus Griechenland fordern.
Genau da ist also der eigentliche Gegner zu sehen – in den großenteils direkt gewählten Unionsabgeordneten, die einer generösen Aufnahme von Migranten dann doch irgendwie zustimmen müssten. Was im September letzten Jahres – nach dem Moria-Brand – als kleines Rinnsal begann, könnte so bald zum breiten Strom werden, für den man schon einmal die publizistischen Kanäle gräbt.
Alternative Themen
Eigentlich gäbe es viele Themen rund um die Migranten in Griechenland, die man hierzulande besprechen könnte. So weigern sich laut der Nachrichtenseite Notos Press Asylbewerber auf der Peloponnes, das Hotel »Sparta Inn« zu verlassen, in dem sie bis jetzt untergebracht sind. Die Athener Regierung bemüht sich, die inoffizielle Unterbringung in Hotels und Wohnungen allmählich zu beenden. Die Migranten sorgten für Unruhe und blockierten die Straße vor dem Hotel, bis Polizisten die Situation entspannen konnte. Bis zum 28. Februar verlangen sie Pässe und Reisepapiere von den Behörden. Wenn sie diese bekommen, wollen sie Sparta und vermutlich Griechenland noch in derselben Minute verlassen.
Zur gleichen Zeit wollen – laut dem konservativen Abgeordneten Konstantinos Bogdanos – auch im Athener Stadtteil Eleonas hunderte Migranten ihre Zelte nicht zugunsten von beheizten Containern verlassen. Mit den entstehenden »Bildern« wird auch in Griechenland Stimmung für »barmherzige« Lösungen gemacht – also für eine bessere staatliche Alimentierung der Migranten. Die Internetzeitung Efimerida ton Syntakton berichtet von improvisierten Lösungen, zu denen die Regierung durch Vertreter der Internationalen Organisation für Migration (IOM, UN Migration) gedrängt wurde. Zeitweise waren allerdings auch 25.000 Haushalte in der Region Attika ohne Strom. Das Land ist für Wintereinbrüche wie den jetzigen für gewöhnlich nicht gut gerüstet. Auf den Hügeln Athens lag für kurze Zeit Schnee, einige fuhren Ski. Man spricht von »polarer Kälte«, tatsächlich hat die Temperaturkurve aber die Nullgradlinie gerade einmal touchiert.
Erster Direktflug Lesbos – Hannover
In der Nacht auf Mittwoch besuchte Asylminister Notis Mitarakis das Lager von Kara Tepe auf Lesbos und stellte fest, dass das Tiefdruckgebiet namens Medea und einige damit einhergehenden Regenfälle »keine besonderen Probleme« in dem Lager hervorgerufen hätten. Da die Insel derzeit einstellige Plusgrade verzeichnet, wurden Decken und Heizgeräte verteilt.
Doch Volker Kauder ist es anscheinend noch nicht genug. Zusammen mit der erfolglosen Kandidatin für den SPD-Vorsitz startete er einen neuen Versuch, die deutsche Öffentlichkeit weichzuklopfen für noch mehr direkte Transporte von Lesbos in die Bundesrepublik. In jedem Fall gaben die beiden so den aktuellen Transporten etwas Schützenhilfe. Insgesamt sollen 1.553 Migranten direkt aus griechischen Aufnahmezentren nach Deutschland übersiedelt werden. Inzwischen ist etwa ein Drittel von ihnen in Hannover gelandet. Weitere publizistische Begleitmanöver sind wohl zu erwarten.
Positionsklärungen zweier GroKo-Vertreter
Um ihre Position zu erklären, machen die beiden Politiker zum einen der EU schwere Vorwürfe, greifen aber implizit auch die griechische Regierung an. So sagte Kauder der Schwäbischen Zeitung: »Die Zustände in den griechischen Flüchtlingseinrichtungen sind mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar.« Dem widerspräche die griechische Schwesterpartei der Union wohl deutlich. Das eigentlich Dubiose und Infame an der neuesten Intervention ist aber ihr eindringlich christlicher Ton, als ob wir durch die geschehenden Übersiedlungen diese Religion in Europa stärken könnten.
Mattheis hat sich das Lager aus Lesbos im September zum letzten Mal angesehen, weiß aber noch, dass die Zelte damals feucht und die Sanitäranlagen unzureichend waren. Und: »Die Menschen in Kara Tepe auf Lesbos warten jahrelang auf die Anhörung, um einen Asylantrag stellen zu können.« Richtig ist, dass sie bisher häufig so lange warten mussten, inzwischen besteht deutlich mehr Hoffnung auf einen baldigen Bescheid, da die konservative Regierung die Verfahren beschleunigt hat. 33.000 Abreisen von den Ägäis-Inseln im vergangenen Jahr sprechen eine deutliche Sprache. Doch gerade deshalb versucht man jetzt noch einmal, das Letzte an Propaganda herauszuholen aus der prekären Übergangslage auf Lesbos – bevor sich dieselbe entspannt. Und die Sanitäranlagen wurden natürlich inzwischen verbessert.
Klar ist eins: Was NGO-Aktivisten, SPD-Vorsitzende, Grüne und andere damals als Fanal einer gescheiterten Migrationspolitik begrüßten, soll jetzt zum Migrationsbeschleuniger umfunktioniert werden. Das neue, ordentliche Lager auf Lesbos ist – gegen den Widerstand der Insulaner wie der Regionalregierung – bereits in Planung. Es ist eben nur noch nicht fertig. Vielleicht wird man also mit ein paar Tagen schlechtem Wetter auch noch zurechtkommen.
Ein heißer Stein, der sich von allein abkühlt
Kauder mischt dann noch jenes Urteil eines Oberverwaltungsgerichts in Münster mit hinein, nach dem Migranten eine Rücküberstellung nach Griechenland nicht zumutbar sei, zumal sie dort für zwei Jahre nicht mit Sozialleistungen des griechischen Staats rechnen können. Und natürlich erschwert die Pandemie die Lage auf dem Wohnungsmarkt und die anhaltende Wirtschaftskrise jene auf dem Arbeitsmarkt, so die Urteilsbegründung vom Januar. Woher sollen die Migranten also die offenbar nötigen Ersatzleistungen beziehen? Die Antwort ist klar. Eine Chartermaschine nach Hannover soll die Lösung sein.
Das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dieser Stein kühlt sich im übrigen selbsttätig ab. Denn die Anerkennungsquoten in Griechenland sind für viele Asylbewerbergruppen hoch. Laut dem Jahresbericht des Migrationsministeriums lagen sie 2020 bei 66 Prozent für Afghanen, bei 77 Prozent für Syrer und bei satten 94 Prozent für Somalis (jeweils Summen aus anerkannten Asylbewerbern und Migranten mit subsidiärem Schutz). Dabei werden die Somalis – wie man inzwischen weiß – gezielt von türkischen Schleppern ins Land geholt, um dann vor griechischen Inseln aufzulaufen und um Asyl zu ersuchen. Wenn man das Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts recht versteht, dürfen all diese »anerkannten Flüchtlinge« und subsidiär Geschützten in Deutschland nochmals Asyl beantragen.
Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung eigene Grenzpolizisten nicht etwa in die Ägäis entsandt, sondern an die griechischen Flughäfen. So sollen im letzten Jahr 5.200 illegale Einreisen nach Deutschland verhindert worden sein, darunter auch Reisen unter Beihilfe von Schleppern, wie die WAZ berichtet hat. Gefälschte Reisepässe wurden in den meisten dieser Fälle gefunden. Die griechische Regierung hat sowohl den Schleppernetzwerken als auch den Passfälschern inzwischen den Kampf angesagt.
Es fragt sich also, warum zwei gewichtige Namen aus der deutschen Regierungskoalition ihr in der aktuellen Lage zwischen die Beine schießen. Doch eigentlich tun sie genau das, was auch die Athener Regierung sich von ihnen wünscht: den Boden bereiten für mehr unbürokratische Aufnahme von Migranten in Deutschland. Mit der christlich verbrämten Aufnahme von »verletzlichen Gruppen«, angeblich Minderjährigen und Familien kann man der Sache zugleich den Mantel der Mildtätigkeit umhängen.