Die Wissenschaft kennt den „Werther-Effekt“. Er besagt, dass eine öffentliche Beschäftigung mit dem Thema Selbstmord dazu führen kann, dass die Anzahl steigt. So zeigte das ZDF im Januar und Februar 1981 die sechsteilige Serie „Tod eines Schülers“, die das Thema behandelte. Obwohl die Serie künstlerisch wertvoll war, führte sie eben doch zu dem gefürchteten Werther-Effekt: In den ersten beiden Monaten nach der Ausstrahlung stieg die Suizid-Rate bei den 15- bis 19-Jährigen um 175 Prozent. Ein häufiger Ort des Geschehens waren wie in der Serie Bahnstrecken. Selbst nach der Wiederholung stieg die Rate noch einmal um deutlich über 100 Prozent an.
Entsprechend verwundert, wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit dem sensiblen Thema umgeht. Der Bundestag hatte ihn im Juli aufgefordert, bis Ende Januar ein Präventionsprogramm vorzulegen. Das blieb er bis jetzt schuldig. Nun stellte er das Konzept kurzfristig vor. Zwischen Feiertag und Wochenende. Ohne über die üblichen Presseverteiler einzuladen. Und auch ohne die Fachpolitiker darüber zu informieren, nicht einmal die aus den eigenen Reihen. Der Arzt und Bundestagsabgeordnete Stephan Pilsinger (CSU) wundert sich über Lauterbach: „Einen fast einstimmigen Arbeitsauftrag des Deutschen Bundestages mit über vier Monaten Verspätung zu erfüllen, grenzt schon an eine Missachtung des Parlaments, also der Vertreter des Volkes. Aber gerade bei diesem sensiblen Thema gilt: Besser spät als nie.“
Lauterbach setzt in der Prävention darauf, den Suizid technisch zu erschweren. So soll der Zugang zu Brücken, Hochhäusern oder zu Gleisen erschwert, Packungen mit Schmerzmitteln verkleinert werden. Da Gefährdete oft aus einem Impuls handelten, könne es die Rate senken, wenn man die Umsetzung erschwert, hofft Lauterbach. Studien würden das belegen.
Nun will Lauterbach zu diesem Thema auch seine eigenen Studien anfertigen lassen. Deswegen will der Minister ein Register anlegen. In dem wird künftig unter falschem Namen stehen, also unter Pseudonym, wer einen Versuch begangen hat. Da so Methoden und gefährliche Orte besser erkannt würden, berichtet die FAZ. Durch seine Journalisten-Auswahl hat sich Lauterbach kritische Nachfragen erspart. Etwa, inwiefern das als Prävention helfen soll? Die Methoden führt die bisherige Statistik bereits jetzt penibel genau auf, kritische Orte wie eben Brücken, Hochhäuser und Bahnstrecken kann Lauterbach auch schon jetzt selbst benennen.
Als weitere Maßnahme will Lauterbach die gefährdete Gruppe gezielt ansprechen. Das sind häufig ältere Menschen. Denen will er in Praxen, Hospizen und Seniorentreffs Beratung anbieten. Außerdem will er – wie schon zu Corona-Zeiten – verstärkt Anzeigen in Zeitungen und Werbung im Fernsehen schalten. Ob er dabei keinen Werther-Effekt fürchtet? Das hätte sich als Nachfrage aufgedrängt. Doch für Lauterbachs Freundeskreis unter den Journalisten gilt die Regel: Je mehr er ihre Medien mit Werbung füttert, umso weniger kritische Nachfragen stellen sie, desto bevorzugter werden sie eingeladen. So ist rund um Lauterbach ein Zirkel der gemeinsamen Inkompetenz und Kumpanei entstanden.
Einen Gesetzentwurf bleibt Lauterbach weiterhin schuldig. Für den hat er gerade mal noch Zeit bis Ende Juni. Es geht um die Suizid-Assistenz. Die hat die Große Koalition 2015 verboten. Fünf Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot aufgehoben. Es verstoße gegen die Menschenwürde, wenn ein Mensch die Entscheidung zum Selbstmord nicht selbst fällen könne. Wer Gefährdeten beim Suizid hilft, steht seitdem mit einem Bein im Knast und mit dem anderen im Ungewissen. Denn es ist nur erlaubt, zu helfen, wenn die „Freiverantwortlichkeit“ sichergestellt ist. Doch gilt ein Suizidgefährdeter als geistig krank, kann die „Freiverantwortlichkeit“ eigentlich nicht gegeben sein.
1981, im Jahr der Ausstrahlung von „Tod eines Schülers“ lag die Fallzahl der Suizide noch bei 18.825 Fällen. Bis 2021 ist sie auf 9215 Fälle zurückgegangen – 2022 dann auf 10.119 Fälle gestiegen. Die Kritiker des Urteils führen den Anstieg auf die Toleranz gegenüber der Suizid-Assistenz zurück. Kritiker der Pandemie-Politik sehen den Grund in der sozialen Isolation, die Kontaktverbote und Ausgangssperren, die diese Pandemie-Politik mit sich gebracht hat.
„Die Zahlen zeigen, dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen die Zahl der verzweifelten, suizidgefährdeten Menschen deutlich erhöht hat. Politik und Staat haben die Verpflichtung, diesen Mitmenschen schnellstmöglich aus dieser psychischen Extremsituation herauszuhelfen und nicht monatelange Fachdiskussionen zu führen“, sagt Pilsinger. Der Arzt sagt: „Die beste Suizidprävention ist für mich nach wie vor die individuelle, ausführliche Beratung von lebensmüden Menschen. Daher arbeite ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen der ,Castellucci-Gruppe‘ weiterhin an einem überarbeiteten Gesetzentwurf, der im Rahmen eines Beratungskonzepts den unbedingten, autonomen Willen des Einzelnen feststellt und jeglichen Missbrauch durch Außenstehende verhindern soll.“
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.