Schlechte Schüler kennen den Trick: Eine Fünf in der Mathearbeit geschrieben und jetzt traut man sich nicht, sie den Eltern zur Unterschrift vorzulegen. Also positioniert man die vermasselte Arbeit auf dem Nachttisch, sodass man selbst schläft, wenn Papa oder Mama die Fünf schlucken müssen.
Das Finanzministerium hat der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) den Entwurf für ein „Wachstumschancengesetz“ vorgelegt. Die Kammer soll dazu eine Stellungnahme schreiben. In einer „unverhältnismäßigen kurzen“ Frist, wie die Kammer in einer Pressemitteilung klagt. „Trotz der knapp bemessenen Frist hat sich der BRAK-Ausschuss Steuerrecht intensiv mit dem Entwurf befasst und sieht sich veranlasst, mit einer Stellungnahme scharfe Kritik zu üben“, heißt es weiter. Eine Wortwahl, die darauf schließen lässt, dass es um das Verhältnis zwischen Rechtsanwaltskammer und Christian Lindners (FDP) Ministerium nicht allzu gut steht.
Die Stellungnahme zum „Wachstumschancengesetz“ ist dann auch eher ein Verriss: „Was nach Begünstigungen für Steuerpflichtige klingt … entpuppt sich auf den zweiten Blick im Wesentlichen als etwas ganz anderes, nämlich als Pflichtenkatalog für Berater sowie Steuerpflichtige, denn insbesondere die Regelung in der Abgabenordnung enthält Mitteilungspflichten bei nationaler Steuergestaltung.“ Anders ausgedrückt: Lindner lässt die Bürokratie wachsen, die Wirtschaft kaum.
„Für Steuervereinfachung, Steuerfairness oder Wachstumschancen“ lasse der Entwurf keinen Raum, klagt die Rechtsanwaltskammer. Zwar gebe es Förderungen, aber nur „unter erheblichem Kapitaleinsatz“ gebe es unter Umständen eine Förderung von 15 Prozent der Bemessungsgrundlage. Wer also schon hat, dem gibt der Staat noch. Soll keiner behaupten, die FDP hinterlasse in der Ampel keinen Fußabdruck. Andere Vorschläge im Entwurf hält die Rechtsanwaltskammer für marginal: Etwa die Grenze für ein „geringwertiges Wirtschaftsgut“ von 800 auf 1.000 Euro zu erhöhen. Das „dürfte ebenfalls keinen Investitionsschub bedingen“, sagt die Kammer.
Das Versprechen, das Steuerrecht zu vereinfachen, halte Lindners Entwurf indes nicht ein, urteilt die Kammer. Stattdessen käme auf die Steuerzahler und ihre Berater ein „erheblicher Verwaltungsmehraufwand“ und „eine weitere Bußgelddrohung“ zu. Denn Lindner wolle die Meldepflichten erweitern. Das verletzte das „Verschwiegenheitsprivileg“, mit dem das Verhältnis zwischen Kunden und Anwälten sowie Steuerberatern geschützt werden soll. Diesen Schutz habe Lindners Haus nicht berücksichtigt.
Kommt das „Wachstumschancengesetz“ laufen Anwälte Gefahr, sich einer Haftung für die Angaben ihrer Klienten auszusetzen, sagt die Kammer. Sie müssten die Daten ihrer Kunden, die bisher einem Schutz unterstehen, dem Staat kundtun. Das setze die Berater unter Druck: „Es geht hier um nicht weniger, als einen gesetzlichen Straftatbestand für die Interessen der Finanzverwaltung außer Kraft zu setzen. Das finde ich unerhört“, sagt Ulrike Paul, Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer. „Aus rein fiskalischen Interessen soll die Anwaltschaft zum Volksverpetzer gemacht und eine tragende Säule unseres Rechtsstaats abgesägt werden.“
Eine Ausnahme kennt Lindners „Wachstumschancengesetz“. Die hält die Anwaltskammer für „besonders prekär“: Das Gesetz gilt nicht für Berater, die außerhalb der EU sitzen. Wer also sein Unternehmen von einer Karibikinsel betreibt, den schützt Lindner. Wer als Handwerker oder Mittelständler zum Anwalt oder zum Steuerberater geht, der soll nach Lindners Willen mit einer Denunziation rechnen müssen. So gesehen werde der FDP-Chef für Wachstum sorgen, wie Paul sarkastisch kommentiert: „Allerdings ausschließlich im Sinne von Zuwachs im
Beratungsmarkt außerhalb der EU.“ Für heimische Anwälte und Steuerberater wachse nur die „Ungewissheit darüber, wann überhaupt was zu melden ist. Der Entwurf ist an Unschärfe kaum zu überbieten“. Es liegt der Verdacht nahe, dass ein Klima des vorauseilenden Gehorsams verbreitet werden solle. Nach dem Motto: „Wenn unklar ist, ab wann ich etwas melden soll, melde ich lieber mal.“