Tichys Einblick
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„Für ein offenes Land mit freien Menschen“

Vor 30 Jahren fand die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt.

Montagsdemos in Dresden - Menschenmengen während der Rede von Sänger Gunther Emmerlich (GDR) auf dem Theaterplatz

imago images / Ulrich Hässler

„Die Lage ist so, Genosse Minister“, rapportierte der Leiter der Leipziger Stasi-Bezirksverwaltung Manfred Hummitzsch bei der Dienstbesprechung am 31. August dem MfS-Chef Erich Mielke: Nachdem jetzt acht Wochen Pause war – und wir dort außer ein paar unbedeutenden Einzelbewegungen im Vorfeld der Kirche, die wir unter Kontrolle hatten – findet jetzt zur Messe am 4.9., 17.00 Uhr, das erste Mal wieder dieses operativ relevante ‚Friedensgebet‘ statt.“ Dieser 4. September fiel in die Woche der Leipziger Herbstmesse, in der Stadt gab es also westliche Kamerateams und Augenzeugen. Trotzdem, meinte Hummitzsch, werde die Staatssicherheit eine Demonstration verhindern können: „Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie.“

Dem riesigen Sicherheitsapparat standen Anfang September 1989 nur einige dutzend Bürgerrechtler gegenüber, die sich montags zum Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche trafen. Und trotzdem geschah an diesem 4. September vor 30 Jahren etwas Ungeheures: Es kam zur ersten Montagsdemonstration in Leipzig. Von diesem Tag an sammelten sich jeden Montag um 17 Uhr Menschen auf dem Nikolaikirchhof, von Woche zu Woche mehr. Am 25. September liefen sie zum ersten Mal auf dem sechsspurigen Innenstadtring, achttausend. Am 9. Oktober waren es 70.000, trotz der Drohung eines Kampfgruppenkommandeurs, „den Sozialismus, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. Genau einen Monat später – friedlich demonstrierte wurde da längst in der gesamten DDR – fiel die Mauer.

Am Anfang standen zwei Frauen, die am 4. September 1989 das erste Transparent des Revolutionsherbstes entrollten: „Für ein offenes Land mit freien Menschen.“ Die Malerin Katrin Hattenhauer, Jahrgang 1968, und die Verlagsmitarbeiterin Gesine Oltmanns, geboren 1965, wussten, worauf sie sich einließen. Das Stoffstück mit dem Slogan war nur für Sekunden zu sehen – dann stürzten sich Stasi-Männer darauf und rissen es herunter. Anders als bei früheren Demonstrationen nahmen das die Oppositionellen nicht schweigend hin, sondern skandierten: „Stasi raus.“
Staatssicherheit und Polizei verzichteten auf Verhaftungen – denn auf dem Platz standen auch Journalisten und fotografierten die Szene. Die Festnahme von Oltmanns und Hattenhauer holten sie einige Tage später nach, am 11. September. Gesine Oltmanns hatte schon Anfang 1989 10 Tage in Stasihaft gesessen, weil sie zu den Organisatorinnen der oppositionellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 15. Januar gehört hatte.

Zu den Montagsgebeten waren seit August auch mehr und mehr Ausreiseantragssteller gekommen, ihr Ruf draußen vor der Kirche lautete: „Wir wollen raus“. Am 4. September gab es neben dem Transparenz und „Stasi raus“-Rufen noch ein anderes Novum, etliche Demonstranten skandierten: „wir bleiben hier“. Ihr Ziel, das machten sie damit deutlich, war nicht die kleine Lösung, die Ausreise in den Westen. Sondern die große – die Veränderung in der DDR.
Im Westen erschienen die Bilder der kleinen Demonstration und des Stasi-Zugriffs, in den DDR dagegen keine Zeile. Auch in der „Leipziger Volkszeitung“ nicht.

Die meisten Medien in der Bundesrepublik sahen in dieser Ur-Montagsdemonstration bestenfalls ein lokales Ereignis. Die DDR galt ihnen als stabil; sie interessierten sich vor allem auf die Frage, welcher SED-Politiker irgendwann auf Erich Honecker folgen würde. Von seiner Reise durch die morsche DDR 1986 berichtete ZEIT-Chefredakteur Theo Sommer: „Vor allem wirkt das Land bunter, seine Menschen sind fröhlicher geworden.“ Und glaubte wahrzunehmen, dass die DDR-Bürger Erich Honecker „fast so etwas wie stille Verehrung entgegenbringen“.

Für die anschwellenden Demonstrationen im Herbst 1989 hatte Gorbatschows neuer Politikstil die Voraussetzung geschaffen. Aber die Veränderung hätte es nicht gegeben ohne Menschen wie Hattenhauer und Oltmanns, die bereit waren, den kleinen Freiraum zu nutzen, der sich geöffnet hatte, ein Transparent hochzuhalten – und dafür ins Gefängnis zu gehen.

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