Die Ermordung des früheren japanischen Ministerpräsidenten hat Entsetzen im Lande selbst und bei Politikern weltweite Betroffenheitsbekundungen ausgelöst. Japan war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Land, in dem politische Attentate, wie Gewaltverbrechen generell, sehr selten sind. Die Motive des Attentäters, eines ehemaligen Marine-Soldaten, der sofort festgenommen werden konnte und die Tat – mit einer vermutlich selbstgebauten Schusswaffe – zugab, bleiben bislang unklar. Über den Fernsehsender NHK war nur die Rede davon, er sei „unzufrieden“ mit Abe und habe ihn „töten“ wollen. Laut anderen Berichten sagte er, er habe „keinen Groll gegen Abes politische Überzeugungen“.
Dieser Tonfall ist nicht nur stillos anlässlich des gewaltsamen Todes eines bedeutenden demokratischen Staatsmannes, sondern zeugt auch von sicherheitspolitischer Unkenntnis. Es geht schließlich nicht um ein potenziell bedrohliches Japan, sondern um dessen außenpolitische Solidarität mit Taiwan gegenüber dem aggressiv auftretenden Peking. Das erfuhr wenig Beachtung und Wohlwollen in der deutschen Presse und politischen Klasse. Für Japans Schulterschluss mit dem westlich orientierten Taiwan und seine glaubhafte sicherheitspolitische Antwort auf Chinas Expansionismus spielte Abe auch nach seinem Rücktritt eine wichtige Rolle im Hintergrund. Er unterstützte die Zusagen seiner Nachfolger, die Inselrepublik gegen einen etwaigen Angriff Chinas zu verteidigen – gemeinsam mit den USA. Das war und bleibt auch der realpolitische Hintergrund seiner Bemühung um die Änderung des pazifistischen Artikels 9 in der japanischen Verfassung. Abe wusste, dass Japans Sicherheit nur gewährleistet sein kann, wenn es über ein glaubhaftes militärisches Abschreckungspotenzial gegenüber China verfügt.
Nach deutschen Maßstäben, jedenfalls jenen deutscher Journalisten, ist ohnehin so gut wie jeder japanische Politiker, vor allem der seit Jahrzehnten mit nur kurzen Unterbrechungen regierenden Liberaldemokratischen Partei als „rechts“ zu sehen. Schließlich vertreten japanische Regierungen unerhörterweise weiterhin nationale Interessen – die den moralisierenden Vorgaben der deutschen öffentlichen Meinung widersprechen. Abes wohl größtes Vergehen in den Augen von ARD-Korrespondentin Kathrin Erdmann: „Nach der Wahl von US-Präsident Donald Trump war er der erste ausländische Gast im Weißen Haus – die beiden Politiker spielten zusammen Golf.“
Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich „fassungslos“ über den gewaltsamen Tod Abes. Er sagte laut DPA: „Wir stehen auch in diesen schweren Stunden eng an der Seite Japans“. Dass diese Solidaritätsadresse irgendeine reale Bewandtnis hat, ist nicht zu erkennen. Tatsächlich trennen Deutschland und Japan nicht nur der gesamte eurasische Kontinent und Tausende Kilometer voneinander, sondern auch ein weitreichendes politisches Unverständnis. Merkel verband mit Abe vor allem die lange gemeinsame Amtszeit, aber über ein generelles Bekenntnis zu Multilateralismus und globalem Handel hinaus inhaltlich so gut wie nichts. Entsprechend floskelhaft Merkels Worte: „Wir waren stets von dem gemeinsamen Ziel geleitet, die großen Herausforderungen unserer Zeit sowohl in unseren bilateralen Beziehungen als auch zwischen Japan und der Europäischen Union sowie multilateral partnerschaftlich zu bewältigen. Waren die deutsch-japanischen Beziehungen traditionell stets freundschaftlich und vertrauensvoll, so wurden sie in seiner Amtszeit noch einmal intensiviert.“
Tatsächlich wuchs das Unverständnis zwischen Deutschland und Japan, nachdem Merkels Deutschland 2011 wegen der durch einen Tsunami ausgelösten Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi überstürzt aus der Kernenergie ausstieg, während Japan dabei blieb. Bezeichnend bleibt, dass in der deutschen Öffentlichkeit das Interesse an den zehntausenden Opfern des Tsunami bis heute marginal blieb, während „Fukushima“ zum Anti-Atomkraft-Fanal wurde. Typisch dafür die Schlagzeile 2021 im Tagesspiegel: „Japan gedenkt der Opfer von Fukushima„. Beim Leser musste der Eindruck entstehen, dass es nur um Opfer der Kernschmelze in Fukushima gehe und nicht um die rund 20.000 Todesopfer des Tsunami, um die Japan an jenem zehnten Jahrestag trauerte.
Abe war stets, auch nach 2011 ein Anhänger der Kernkraft, wie die Mehrheit der japanischen Politiker und aller Japaner. Das ist offensichtlich unerklärlich und unverzeihlich nach Maßstäben deutscher Journalisten. Dass Japan auch deswegen sehr viel weniger unter der aktuellen Gas- und Energiekrise leidet als Deutschland, hält man kaum für erwähnenswert.
Für ebenso ablehnenswert hält man in Deutschland selbstverständlich auch Abes und Japans Migrationspolitik. Die deutsch-merkelsche Willkommensseligkeit des Jahres 2015 war für die meisten Japaner befremdlich. In dem Inselstaat, der vor der erzwungenen Öffnung durch amerikanische Kriegsschiffe 1853 und der anschließenden rasanten Modernisierung fast 300 Jahre in internationaler Isolation zubrachte, ist man sehr skeptisch gegen die in Westeuropa propagierten sozioökonomischen Heilsversprechungen durch Einwanderung. Allerdings hat ausgerechnet der hierzulande als „rechts“ geframte Abe 2019 die Zuwanderungsmöglichkeiten für südostasiatische Arbeitskräfte deutlich gelockert. Allerdings nur für begrenzte Arbeitsaufenthalte – dauerhafte Einwanderung mit Familiennachzug soll vermieden werden. Schon das Wort Migrationspolitik hat Abe abgelehnt.
In der deutschen Berichterstattung wurde und wird immer wieder geschulmeistert, dass Japan viel zu wenig Einwanderung erlaube. Die Zeit etwa moniert an den Japanern, „das Ausland“ gelte ihnen „als tendenziell gefährlich“. Dass Japaner auch bei einem Migrantenanteil von nur zwei Prozent über genug Anschauungsfähigkeit und Erfahrungswissen verfügen, um die Risiken von Zuwanderung selbst einschätzen zu können, scheint der deutschen Berichterstattung generell kaum vorstellbar. Die Frage nach den Gründen dafür, dass Japan ein im Vergleich zu westlichen Ländern außergewöhnlich sicheres Land ist, in dem der innere und soziale Frieden trotz eines seit fast drei Jahrzehnten eher geringen Wirtschaftswachstums weitgehend Wirklichkeit ist, spielt da meist keine Rolle.
Die Tagesschau titelte kürzlich: „Ohne Migration sinkt Japans Wohlstand„. Das hat zwar nur eine Studie behauptet, aber die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt meldet es es wie eine Tatsache. Die Tagesschau zitiert dazu einen Ökonomen, der angesichts der schnellen Alterung und geringen Einwanderung nach Japan sagt: „Wohlstand wird man in Japan künftig anders definieren“: Als einen Zustand, in dem sich die Menschen mit weniger zufrieden geben. Aber steht das Deutschland mit seiner millionenfachen Zuwanderung nicht auch gerade dasselbe bevor?
Abe war allerdings nicht nur wegen seiner von der deutschen Presse als „rechts“ geframten Außen- und Sicherheitspolitik bedeutsam, sondern wegen seiner als „Abenomics“ bekannt gewordenen Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Dazu gehörte eine extreme Ausweitung der Staatsausgaben, nicht zuletzt für ein umfangreiches Infrastrukturprogramm, verbunden mit einer enormen Geldschwemme der Bank of Japan. In dieser Hinsicht zumindest war Abes Japan ganz auf Linie der europäischen und nordamerikanischen Länder.