Nicht alles lässt sich im Home Office machen – noch nicht, jedenfalls. Deshalb gehen auch am Ende dieses ersten Corona-Jahres immer noch Millionen Menschen zur Arbeit und treffen dort Kollegen. Einer meiner Kollegen zeigte sich kürzlich auf dem Flur empört, ja entsetzt über die Berichte zu Chinas systematischer Misshandlung der Uiguren. Furchtbar, furchtbar, klagte er. Dann spielte er auf seinem Smartphone. Es war von Huawei. Genau: von der chinesischen Firma, die im Verdacht steht, den chinesischen Staat bei der gewaltsamen Unterdrückung der Volksgruppe technisch massiv zu unterstützen.
Das war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Jetzt muss es raus. Die Bigotterie und die Doppelzüngigkeit in meiner Heimat haben die Grenzen des Erträglichen längst überschritten. Vergesst Lanz und Jauch: Hier kommt der einzig wahre Jahresrückblick 2020 – der Jahresrückblick der Heuchelei.
Platz 20: Katrin Schifelbein
Außerhalb Berlins ist die Dame unbekannt, und das ist auch gut so. Die Radio-Moderatorin vom hauptstädtischen Dudelfunk 94,3 rs.2 zeichnet sich vor allem durch einen selbst für deutsche Medienverhältnisse gigantischen Drang zur Publikumsbelehrung aus.
Nach dem islamistischen Anschlag auf der Berliner Stadtautobahn im August mit sechs Schwerverletzten wurde bekannt, dass der irakische Attentäter schon 2016 nach Finnland hätte abgeschoben werden können. Schifelbein nannte alle, die darauf hinwiesen, „Hater, die ruhig sein“ sollten.
Im Dezember unterbrach sie in ihrer Sendung das Musikprogramm, um einen Ausschnitt aus der Bundestagsrede von Angela Merkel zu senden und als „Jahrhundertrede“ zu loben. Gegenargumente der Opposition brachte sie nicht zur Aufführung.
Und gleich nach Weihnachten freute sie sich live darüber, dass die für den 30. Dezember vorgesehene „Querdenker“-Demonstration verboten wurde. Das gebe jetzt „etwas mehr Ruhe für die Polizeibeamten“. Dass die Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit genau jene Grundrechte sind, deretwegen es ihren Radiosender gibt, verschweigt sie (wenn sie es denn überhaupt weiß). Schifelbeins Heuchelei-Faktor: 94,3.
Platz 19: Die Christlich-Demokratische Union CDU
So feiert die Kanzlerinnen-Partei sich selbst:
Allerdings hatte die Union die Abschaffung des Soli für alle gefordert. Das wird jetzt pietätvoll verschwiegen – ebenso, dass man sich der Neidkampagne der SPD gebeugt hat. Heuchelei-Faktor: entsprechend dem jeweiligen Steuersatz.
Platz 18: Die Landesregierung von Baden-Württemberg
Vor Weihnachten ließ sich die grün-schwarze Koalition dafür feiern, dass sie noch schnell um die acht Millionen FFP2- sowie OP-Masken an die Lehrer von rund 2.700 weiterführenden und beruflichen Schulen verteilte. Problem: Es handelt sich ganz offenbar mindestens teilweise um chinesische Ramschware mit gefälschten Prüfsiegeln.
Zugeben will man das in den Stuttgarter Behörden allerdings bisher nicht. Trotz erdrückender Beweise nach Medienrecherchen stellt man sich dumm. Heuchelei-Faktor: FFP2.
Platz 17: Rainer Maria Kardinal Woelki
Der Kölner Erzbischof hat 2015 Vorwürfe des schweren sexuellen Missbrauchs gegen einen inzwischen verstorbenen Düsseldorfer Priester nicht – wie es seine Pflicht gewesen wäre – dem Vatikan gemeldet und die Sache wohl vertuscht.
Einen von ihm selbst in Auftrag gegebenen Bericht zum Umgang seines Bistums mit dem Vorfall hielt Woelki erst komplett unter Verschluss – und kündigte dann an, das Papier nur einem sehr kleinen Kreis zugänglich zu machen. Das versteht der Mann unter Aufklärung. Heuchelei-Faktor: 666.
Platz 16: Die Friedrich-Naumann-Stiftung FNF
Die FDP-nahe Organisation macht eine Veranstaltung über „Cancel Culture“ – und cancelt dann lautstark den Moderator, den sie selbst eingeladen hat: weil er entgegen dem linken Dogma für einen offenen Dialog auch mit Menschen jenseits des Mainstreams eintritt.
Gunnar Kaiser heißt der Mann, den die vorgeblich liberale Stiftung da öffentlich hinrichtet. Begründet wird das unter anderem damit, dass Kaiser das „Pandemieregime“ in Deutschland kritisiert hat. Das sei, meint die FNF, eine Verschwörungstheorie und rechtspopulistisch.
„Für die Freiheit“ ist der Namenszusatz der Stiftung. „Für die Feigheit“ wäre passender. Heuchelei-Faktor: unter der Fünf-Prozent-Hürde.
Platz 15: Michael Müller
„Der Gesundheitsschutz ist das A und O“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister. Gläubige lassen sich von der Wirklichkeit bekanntlich nicht gerne aufhalten. Um seine Corona-Politik zu rechtfertigen, erfindet Müller folglich auch schon mal etwas – Todesopfer etwa.
In einer Parlamentsdebatte warnte der SPD-Mann, dass Corona auch für junge Menschen lebensgefährlich sein könnte – und nannte als Beispiel einen 30 Jahre alten Türken („ein Kerl wie ein Baum“), der ohne Vorerkrankungen in die Charité eingeliefert worden und dort auf der Intensivstation gestorben sei. Problem: Den Todesfall gab es gar nicht. Heuchelei-Faktor: denken Sie sich einen aus.
Platz 14: Der Deutsche Journalisten-Verband DJV
Nüchterne Zurückhaltung ist nicht so die Sache der Lobby-Organisation deutscher Medienschaffender: „Journalismus ist systemrelevant“ und „journalistische Informationen können überlebenswichtig sein“, verkündet der DJV – und fordert deshalb „die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit“ für seine Mitglieder auch im strikten Lockdown.
Während Millionen Menschen mit dem wirtschaftlichen Ruin kämpfen und Grundrechte massiv eingeschränkt werden, will der DJV für seine Leute auch noch eine gesicherte Kinderbetreuung, denn „die Behörden dürfen Journalisten nicht allein lassen.“ Heuchelei-Faktor: öffentlich-rechtlich.
Platz 13: Karl Lauterbach
Der SPD-Chefapokalyptiker hat erkannt, dass er es mit besonders schlimmen Warnungen besonders oft in die Talkshows schafft (was über seinen Charakter ähnlich viel aussagt wie über den Zustand unserer Medien). Also warnt er bei jeder Gelegenheit vor einer Überlastung der Krankenhäuser und vor Personalmangel auf den Intensivstationen.
Noch vor kurzem empfahl er allerdings, massenweise Krankenhäuser zu schließen und Personal abzubauen. So ein Politiker ist eben auch nur ein opportunistischer Karrierist, pardon, ein Mensch. Heuchelei-Faktor: bitte berechnen nach Bundespflegesatzverordnung.
Platz 12: Die Deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“
Mit einer sogenannten Ad-hoc-Stellungnahme (was immer das auch sein mag, ein wissenschaftlicher Text jedenfalls ist es nicht) will die Akademie die Maßnahmen der Bundesregierung, vor allem den strikten Lockdown, rechtfertigen. Abgesehen davon, dass sich ernstzunehmende deutsche Forscher zu solcher Gefälligkeitspropaganda letztmalig im Dritten Reich hergegeben haben: Die Leopoldina verspielt da auf netto gerade einmal viereinhalb Seiten so ziemlich alles, was sie an wissenschaftlichem Ruf einmal hatte.
Bezeichnenderweise ist es ein Schweizer Akademiemitglied, das sich von dem unabgestimmten Papier seiner Wissenschaftsfunktionäre öffentlich distanziert und es als das bloßstellt, was es ist: ein erbärmliches Dokument wissenschaftlicher Unterwürfigkeit. Heuchelei-Faktor: zu groß, um noch messbar zu sein.
Platz 11: Michael Prütz
Der Politiker der SED/PDS/Linken ist einer der Vorkämpfer für die Enteignung von Immobilien in Berlin – ein echter Anwalt der armen Mieter, könnte man meinen. Könnte. Denn Herr Prütz ist, wenn er nicht gerade Wohnungsbaugesellschaften verstaatlichen will, im Hauptberuf Versicherungsmakler.
Im Schaufenster seiner Agentur liegen, neben anderen, Broschüren der Allianz. Die verkauft auch Investmentfonds und wirbt damit, dass ihre Tochter Allianz Real Estate der größte Immobilieninvestor der Welt ist – und einer der renditestärksten. Es gibt kein falsches Leben im richtigen, oder wie war das? Heuchelei-Faktor: vergemeinschaftet.
Platz 10: Die antisemitischen Antisemitismusankläger
„Es reicht nicht, mit mahnenden Reden vor dem Antisemitismus zu warnen. Wir brauchen jetzt konkrete Maßnahmen gegen den Judenhass.“ Um wohlklingende Worthülsen ist Außenminister Heiko Maas nie verlegen, auch nicht im Januar.
Aber: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ Im November hätten Deutschland, Maas und sein Auswärtiges Amt die Gelegenheit gehabt, den schönen Worten praktische Handlungen folgen zu lassen. Man ließ die Gelegenheit verstreichen und stimmte gleich sieben (!) Anti-Israel-Resolutionen in einem Gremium der UN zu. Heuchelei-Faktor: 1933.
Platz 9: Der Europarat
Deutschland bekämpfe die Korruption im Land nicht genug. Deutsche Spitzenpolitiker sollen deswegen offenlegen, worüber sie mit Lobbyisten reden, fordert ein Expertengremium des Europarats.
Nun muss man keineswegs alles gut finden, was in Deutschland passiert – auch nicht in Bezug auf Korruption und Lobbyismus. Allerdings braucht Kritik auch einen Restbestand an Glaubwürdigkeit. Dem Europarat, der da Deutschland in Fragen von Korruption und Lobbyismus maßregelt, gehören unter anderem an: die finanziell bekannt transparenten Staaten Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco und die Schweiz sowie die bekannt korruptionsfreien Staaten Aserbaidschan, Bulgarien, Rumänien, Russland und die Türkei. Heuchelei-Faktor: verhandelbar.
Platz 8: Peter Altmaier
Zwischen diesen beiden Aussagen liegen exakt drei Wochen. Es handelt sich in beiden Fällen um den Bundeswirtschaftsminister. Heuchelei-Faktor: 21 Tage.
Platz 7: Markus Söder
„Ein zweiter Lockdown würde den Wohlstand unseres Landes fundamental gefährden (…) und für die nächste Generation (…) dauerhafte Schäden verursachen.“ Markus Söder am 14. Oktober 2020.
„Kompletter Lockdown. (…) Einfach mal alles runterfahren.“ Markus Söder am 10. Dezember 2020.
Heuchelei-Faktor: 17.592,36 (Grundgehalt des Bayerischen Ministerpräsidenten).
Platz 6: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD
Ein Fan von Franziska Giffey schreibt allen Ernstes, die Familienministerin stehe für die Menschen „who work hard and play by the rules“ („die hart arbeiten und nach den Regeln spielen“). Das ist offenkundig ein Fall von fortgeschrittenem Realitätsverlust, denn Giffey hat bei ihrer Doktorarbeit wohl so schlimm abgeschrieben, dass die Freie Universität Berlin jetzt schon zum zweiten Mal prüft, ob man der SPD-Politikerin den akademischen Grad nicht entziehen muss. Offensichtlich, um der Blamage zuvorzukommen, „verzichtet“ Giffey jetzt „freiwillig“ auf das Führen des Doktortitels (den sie nach Abschluss der Überprüfung vermutlich sowieso nicht mehr hat).
Die SPD hat erkennbar Angst um ihre einzige verbliebene Hoffnungsträgerin in Berlin und steht „solidarisch“ zu ihr. Vom früheren CSU-Bundesminister Guttenberg – der in seiner Dissertation ebenfalls geschummelt hatte – verlangten die Sozialdemokraten einst den sofortigen Rücktritt. Heuchelei-Faktor: summa cum laude.
Platz 5: Die Europäische Union
Preise sind etwas Tolles: Sie kosten nicht viel, sie bringen viel öffentliches Interesse – und man kann mit ihnen eine Sache loben, ohne sich wirklich dafür einsetzen zu müssen. Und so kann die EU kaltlächelnd ihren Sacharow-Menschenrechtspreis an die vom brutalen Diktator Aleksandr Lukaschenko ins Exil vertriebene weißrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja verleihen – und dann alle Forderungen nach konkreten Sanktionen gegen den Autokraten in Minsk elegant an sich abperlen lassen. Heuchelei-Faktor: 50.000 (das ist die Dotierung des Preises).
Platz 4: Die Bundesregierung
Die Große Koalition lobt sich selbst dafür, Pflegekräften in Krankenhäusern eine Corona-Prämie zu bezahlen. In Wahrheit soll das nur davon ablenken, dass die Regierung sechs volle Monate lang so gut wie überhaupt nichts getan hat, um unser Gesundheitssystem auf die absolut absehbare „Zweite Welle“ der Corona-Pandemie vorzubereiten.
Es ist die Geschichte eines politischen Totalversagens. Heuchelei-Faktor: 100 Millionen (Gegenwert der Corona-Prämie).
Plätze 3 bis 1: Bündins‘90/Grüne
Das ist die Partei, für die ein Impfstoff mit künstlich erzeugter mRNA in Ordnung ist – Gen-Mais aber nicht.
Das ist die Partei, die in ihrer Wirkung zweifelhafte und extrem freiheitsbeschränkende Anti-Corona-Maßnahmen befürwortet – aber erwiesenermaßen hochwirksame und lebensrettende technische Maßnahmen aus Angst um den Datenschutz ablehnt.
Das ist die Partei, für die Datenschutz wichtiger ist als Lebensschutz.
Das ist die Partei, deren Umweltminister in Baden-Württemberg zwar ein Tempolimit von 130 für alle fordert – aber selbst mit knapp 180 Sachen unterwegs ist, wo sogar nur 120 km/h erlaubt waren. Seine Rechtfertigung: „Ich hatte es eilig.“
Das ist die Partei, deren Hamburger Justizsenatorin sich auf Malta erst bei einem PR-Termin mit Flüchtlingen filmen lässt – um dann hinterher in einem Luxusrestaurant Hummer zu essen. Ach ja: auf Staatskosten.
Heuchelei-Faktor: was kostet die Welt?
*****
„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer; ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt – innen aber sind sie voller Raub und Gier.“
(Bibel – Matthäus 23,25)
Diese Erkenntnis wird bleiben vom Jahr 2020: Ein aufrichtiger Feind ist allemal besser als ein heuchelnder Freund.
Einen guten Rutsch wünsche ich.