Tichys Einblick
Interview

Ökonom Gunther Schnabl: Junge Leute können kaum noch Vermögen aufbauen

Gunther Schnabl gehört laut „FAZ“-Ranking zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. An der seit Jahren betriebenen ultralockeren Geldpolitik kritisiert er vor allem die Verteilungswirkung. Sie werde von den Linken absichtlich toleriert, um eine neue Umverteilungsagenda zu schaffen

Oswald Metzger: Was bewegt Sie am Ende eines Jahres, das in jeder Hinsicht von einem Virus dominiert wurde?

Gunther Schnabl: Mich bewegen die starken Einschränkungen der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten. Die zunehmende Kontrolle wirtschaftlicher Aktivitäten durch den Staat bereitet mir Sorge. Wir befinden uns in einer Krise, die durch drei Faktoren ausgelöst wurde. Es handelt sich nicht nur um eine Lockdown-Krise, sondern auch um eine Wirtschafts- und eine Finanzkrise. Nur die Kombination dreier Krisen erklärt, warum wir grundlegende marktwirtschaftliche Prinzipien wie das Haftungsprinzip außer Kraft setzen.

Deutschland steckte also bereits in einer veritablen Wirtschafts- und Finanzkrise, ehe das Covid-19-Virus den öffentlichen Taktschlag bestimmte?

Kurz davor. Die Geschäftserwartungen hatten sich bereits seit Mitte 2018 merklich abgekühlt, wie beispielsweise der Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt. In den USA hatten im Dezember 2019 große Turbulenzen in den sogenannten Repo-Märkten eingesetzt, die umfassende Anleihekäufe der US-Notenbank auslösten. Die Europäische Zentralbank hatte bereits im November 2019 ihre Anleihekäufe wieder aufgenommen. Der Lockdown hat die Krise potenziert.

Global ist die öffentliche, aber auch die Unternehmensverschuldung seit der Finanzkrise vor zwölf Jahren explodiert. Die Notenbanken der Welt befinden sich spätestens seit diesem Zeitpunkt im geldpolitischen Ausnahmezustand. Jetzt hat die Corona-Pandemie alle Schleusen geöffnet.

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Der Trend besteht schon lange. Seit rund 30 Jahren werden in Krisen die Zinsen stärker gesenkt, als sie in den anschließenden Erholungsphasen angehoben werden. Parallel dazu ist die Verschuldung vieler Staaten angestiegen, auch wenn es Ausnahmen wie Deutschland gab. Seit der globalen Finanzkrise haben die Zentralbanken sehr aktiv Staatsanleihen angekauft, um die Zinslast der Staaten zu stabilisieren. Dieser Prozess hat sich in diesem Jahr nochmals deutlich beschleunigt und mit voller Macht auch Deutschland erfasst. Die Staatsverschuldung explodiert. Der Druck auf die Zentralbanken, diese Staatsverschuldung zu monetarisieren, ist noch viel größer.

In der Finanzkrise 2008/2009 wurde die expansive Geldpolitik häufig damit begründet, dass der Politik Zeit für Reformen erkauft werden solle. Doch in den meisten Ländern scheute die Politik vor Reformen zurück. Heute lautet das Narrativ: Eine expansive Geldpolitik muss von einer expansiven Fiskalpolitik flankiert werden.

Die Reformen sind in der Tat ausgeblieben. Es ist nicht auszuschließen, dass man die Reformen auch deshalb unterlassen hat, weil man die geldpolitischen Rettungsaktionen in der nächsten Krise bereits antizipiert hat. Zuletzt hat sich die Argumentation bezüglich der Richtung der Kausalität geändert. Nun prolongieren die Zentralbanken ihre extrem expansiven Geldpolitiken und fordern die Staaten vermehrt auf, diese mit einer expansiven Fiskalpolitik zu orchestrieren. Entscheidend ist, dass expansive Geldpolitik und steigende Staatsverschuldung seit Jahrzehnten eng miteinander verbunden sind. Die Zentralbankunabhängigkeit ist damit in den meisten Fällen de facto nicht mehr gegeben.

Kommt der Zins als Risikoprämie überhaupt noch einmal zurück, oder haben sich Politik und Wirtschaft längst an die billigen Kredite gewöhnt?

Die ultralockere Geldpolitik ist längst zur Normalität geworden. Alle Akteure haben sich auf dauerhaft niedrige Zinsen eingestellt. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Ausstiegsstrategie, weil die anhaltend niedrigen Zinsen und immensen Anleihekäufe negative Wachstums- und Verteilungseffekte haben. Jeder Ausstieg setzt allerdings politischen Willen voraus.

Nehmen Sie an, dieser besteht.

Dann gibt es drei Ausstiegsszenarien. Das konservativste Szenario beruht auf der Annahme, dass das derzeitige Geldsystem erhalten bleiben soll. Dann könnten die Zentralbanken sehr langsam den Zins anheben, zum Beispiel um 50 Basispunkte pro Jahr. Viele Unternehmen müssten dann restrukturieren, die Banken müssten hohe Bestände an notleidenden Krediten bereinigen. Die Staaten müssten ihre Ausgaben konsolidieren. Die Zinserhöhungen könnten nicht von einer Zentralbank allein ausgehen, also wäre eine internationale Koordination in Form einer
internationalen Währungskonferenz notwendig – eine Art Bretton Woods II. Das zweite Szenario wäre eine Währungsreform, bei der die Schulden und Forderungen entwertet würden. Der „Schuldenschnitt“ würde die Handlungsfähigkeit von Unternehmen und Staaten wiederherstellen. Das dritte Szenario wäre die reale Entwertung der Verschuldung über Inflation.

Kommt das Inflationsszenario?

Staatsschulden können real dadurch entwertet werden, dass man Inflation zulässt. Mit beispielsweise zehn Prozent Inflation im Jahr ließe sich die Staatsverschuldung in zehn Jahren deutlich reduzieren. Allerdings ist die Inflation bisher trotz ultralockerer Geldpolitiken ausgeblieben. Denn Inflation hängt auch von der Lohnpolitik ab. Nur wenn die Löhne steigen, werden sich die Unternehmen gezwungen sehen, die Preise anzuheben. Doch aufgrund der Häufung der Krisen – ob Finanzkrise, Eurokrise oder jetzt die sogenannte Corona-Krise – ist die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gering. Gleichzeitig halten die Zentralbanken die Zinsen niedrig. Dadurch werden die zwei wichtigsten Produktionsfaktoren der Unternehmen subventioniert. Deshalb können Güter und Dienstleistungen billig bleiben, sodass keine inflationären Tendenzen entstehen. Damit bleibt aber auch das Schuldenproblem ungelöst.

Sie forschen viel zum Thema korrekte Inflationsmessung und halten die praktizierte Inflationsmessung für deutlich untertrieben, beklagen „die Illusion der stabilen Kaufkraft“.

Es gibt zwei wichtige Gründe, warum die offiziell gemessenen Inflationsraten niedrig sind und kaum auf geldpolitische Impulse reagieren. Erstens werden Qualitätsverbesserungen zum Anlass genommen, die Preise in der Statistik herunterzurechnen. Zweitens sind viele Güter, deren Preise stark steigen, nicht im Warenkorb vertreten oder werden durch Güter mit geringen Preissteigerungsraten ersetzt. Die niedrig gemessene Inflation hilft, eine Illusion des hohen Wohlstands aufrechtzuerhalten. Mit den offiziellen Zahlen fällt die reale Lohnentwicklung noch positiv aus. Würden die Inflationsraten höher gemessen, dann wäre sichtbar, dass unter Umständen schon lange die realen Löhne fallen und für breite Bevölkerungsschichten der Wohlstand verfällt. Doch auch bei höheren gemessenen Inflationsraten blieben die hohen Schuldenstände der Staaten ein Problem. Die Staaten müssten immer noch stark steigende Zinslasten bei steigenden Leitzinsen befürchten. Die Staaten könnten ihre sehr umfangreichen Ausgabenversprechen dann nicht mehr halten.

In der Corona-Ausnahmesituation verspricht der Staat scheinbar alles. Renten und Pensionen steigen, die Leistungen in der Pflege- und Krankenversicherung werden massiv ausgeweitet. Nicht nur die ausgewiesenen Staatsschulden wachsen, sondern auch die in den Leistungszusagen der Sozialversicherungen versteckten impliziten Schulden. Werden nicht vor allem die Jungen die Zeche bezahlen?

METZGERS ORDNUNGSRUF 50-2020
Für die Mittelschicht ist der Traum vom Eigenheim ausgeträumt
Die Überforderung der Jungen hat drei Dimensionen. Zum einen liegen heute die nominalen Gehälter wohl schon deutlich niedriger als in der vorigen Generation. Die Einstiegsgehälter werden in der schleichenden Krise sukzessive abgesenkt. Zum anderen haben die Jungen deutlich höhere Belastungen, wenn sie noch den Wunsch haben, ein Eigenheim für sich und ihre Familie zu erwerben. Denn das billige Geld der Zentralbanken treibt die Immobilienpreise nach oben. Und dann sind da noch die impliziten Verpflichtungen aus den Renten- und Pensionslasten. Inwieweit diese Erwartung erfüllt werden kann, ist fraglich. Wir sind jetzt schon in einer Situation, in der die immensen sozialen Ausgabenverpflichtungen des deutschen Staates nur noch mithilfe der EZB tragbar sind. Wer die Lasten aus dieser Zentralbank-„Deckung“ bezahlt, darüber muss man strukturiert nachdenken – wohl insbesondere die jungen Menschen, die noch Vermögen zu bilden versuchen.

Ein leistungsfähiger Staat braucht ein Millionenheer produktiver Arbeits­kräfte. Wenn er diese aber mit ständig höheren Abgaben und Steuern belas­tet, sinken Arbeitsleistung und volks­wirtschaftliche Produktivität …

Das passiert auch. Im letzten Jahrzehnt haben wir bereits den Punkt überschritten, wo der Sozialstaat nicht mehr allein über Steuern und Abgaben finanziert werden konnte. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese sichtbar werden. Wenn man mit jungen Leuten spricht, hat man allerdings nicht den Eindruck, dass sie sich ihrer Benachteiligung bewusst sind.

Das Renteneintrittsalter wird nicht erhöht, obwohl die Lebenserwartung steigt. Das wäre generationengerecht.

So ist es. Doch mit der Absenkung des Einkommensniveaus der Jungen senkt der Staat auch den Umfang der Sozialabgaben ab. Das führt unweigerlich zu einem Konflikt.

Welche Vorschläge haben Sie zur lang­fristig tragfähigen Finanzierung?

Je höher das Lohnniveau ist, desto höher ist auch die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Im Moment zombifizieren wir über die anhaltend lockere Geldpolitik unsere Wirtschaft und senken dadurch das Produktivitätsniveau ab. Damit ist unweigerlich auch der Sozialstaat früher oder später nicht mehr so leistungsfähig. Der wichtigste Schritt wäre deshalb, zunächst über eine stabilitätsorientierte Geldpolitik die Produktivitätsgewinne zu sichern, die Grundlage für ein angemessenes Lohnniveau wie für einen leistungsfähigen Sozialstaat sind. Wenn die Beiträge zu den Rentenkassen nicht mehr ausreichen, um die Rentenansprüche zu finanzieren, dann muss es einen Ausgleich zwischen Jung und Alt geben. Ohne ein Zurückschrauben der Ansprüche der älteren Generation wird das nicht gelingen. Das Renteneintrittsalter ist eine wichtige Stellschraube. Aber auch der Aufbau einer zusätzlichen privaten Vorsorge wird unerlässlich sein. Wenn die EZB allerdings die private Altersvorsorge mit der Null- und Negativzinspolitik unterhöhlt, dann wird diese unattraktiv. Aktien gehören auch in ein privates Altersvorsorge-Portfolio.

Die Kurswerte an den Börsen hängen derzeit vor allem an den Injektionen
der ultralockeren Geldpolitik. Sub­stanzwerte von Unternehmen oder Umsätze und Gewinne scheinen weni­ger eine Rolle zu spielen als Markt­kapitalisierung und Handelsumsätze.

Wenn wir die Geldpolitik normalisieren würden, dann lägen die Aktienkurse aller Unternehmen deutlich niedriger. An den Börsen herrscht wie an den Immobilienmärkten eine Vermögenspreisinflation, die begüterte Investoren ganz nebenbei immer reicher macht, solange die Geldpolitik immer expansiver wird. Für junge Menschen ist es kaum mehr möglich, Vermögen aufzubauen.

Dennoch plädieren viele sowohl für unbegrenzten Geldfluss durch die EZB wie für schrankenlose Schuldenfinan­zierung der öffentlichen Haushalte.

Von negativen Wachstums- und Verteilungseffekten der ultralockeren Geldpolitik will die politische Linke nichts wissen. Sie nimmt beide Effekte billigend in Kauf, weil sie eine Finanzierung sozialer Versprechungen über die Notenpresse wünscht. Zudem: Wenn die expansive Geldpolitik die Reichen immer reicher macht, dann wird eine neue Verteilungsgerechtigkeitsagenda geschaffen, die politisch genutzt werden kann. Man kann öffentlichkeitswirksam die Vermögensteuer als Lösung lancieren. Anders ist es nicht zu erklären, dass linke Parteien zu dieser Geldpolitik schweigen, die vor allem die untere Mittelschicht trifft, deren Sparvermögen und Kaufkraft schwindet.

Wir haben bereits über die volkswirt­schaftliche Produktivität gesprochen. Wo bleibt der Produktivitätsgewinn durch die Digitalisierung?

Die Digitalisierung führt durchaus zu Produktivitätsgewinnen. Das Potenzial ist riesig und wird auch in der Plattformökonomie genutzt. Die meisten Bestellvorgänge von Gütern und Dienstleistungen im Internet sind schneller und bequemer. Der Produktivitätsgewinn ist offensichtlich. Doch die Digitalisierung wird auch durch die Regulierung gepusht. Im Durchschnitt sind keine Produktivitätsgewinne sichtbar, weil viele Unternehmen aufgrund der anhaltend günstigen Finanzierungsbedingungen und der Lohnzurückhaltung träge werden. Mit der ultralockeren Geldpolitik werden wir vergeblich auf einen echten Produktivitätsschub durch die Digitalisierung warten.

Anderes Thema: Im November wurde unter der Führung Chinas die größte Freihandelszone der Welt, RCEP, ver­kündet. Gerade Deutschland lebt von offenen Märkten. Doch bei uns ist die Skepsis gegen die Globalisierung weit verbreitet. Hängt sich das alternde Europa von den dynamischen Wirtschaftsregionen der Welt ab?

Trotz aller Konflikte rechne ich nicht damit, dass die Regierungen den Freihandel infrage stellen. Denn würden sich Länder wirklich abschotten, dann stiegen die Preise für importierte Güter, sodass auch die offiziell gemessene Inflation deutlich steigen würde. Das kann sich keine Regierung politisch leisten. Selbst Donald Trump krakeelte lauter, als er tatsächlich handelte.

Und Arbeits­- und Umweltstandards?

Es gibt vor allem in Europa eine Tendenz, Freihandel an Bedingungen zu knüpfen. Das halte ich für gefährlich, weil dadurch indirekt Handelsschranken aufgebaut werden und das Wohlstandsniveau der EU-Bürger weiter sinkt. Aktuell scheint sich der Glaube durchzusetzen, dass alle wohlgemeinten Visionen finanziell machbar sind. Die Kosten werden ausgeblendet. Das hat viel damit zu tun, dass die EZB bereitwillig die zusätzlich emittierten Staatsanleihen kauft. EZB-Präsidentin Lagarde unterstützt EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, die von einem „Grünen Deal“ träumt. Grüne Anleihen werden – ausgestattet mit den höheren Weihen des Klimaschutzes – am Markt platziert und von der EZB privilegiert gekauft. Die Rechnung kommt zwar in Form von Inflation, aber undurchsichtig über Vermögenspreisinflation und Druck auf die Löhne. Man wird diese Nebeneffekte beklagen, aber nicht mit der wahren Ursache in Verbindung bringen. Dafür können sich Politiker wieder mit einer neuen, selbst erzeugten Krisenagenda beschäftigen.

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