Tichys Einblick: China hat in Asien und im Pazifikraum die größte Freihandelszone der Welt geschmiedet. Ähnliche Abkommen in Europa scheiterten. Verliert Europa den Anschluss?
Gabriel Felbermayr: Das neue Abkommen, RCEP, ist nicht ganz so bahnbrechend, wie es auf den ersten Blick erscheint, weil die meisten beteiligten Länder ohnehin schon Freihandelsverträge untereinander hatten. Es füllt eher bestehende Lücken. Auch Europa hat mit wichtigen RCEP-Partnern bereits bilaterale Handelsabkommen, etwa mit Japan, Korea, Singapur oder Vietnam. Mit den anderen Ländern wird aktuell verhandelt. Der Druck steigt jetzt sicherlich. Will Europa seine weltwirtschaftlich wichtige Rolle behalten, wäre es außerdem wichtig, das CETA-Abkommen mit Kanada zu ratifizieren und das Mercosur-Abkommen nicht durch weitere Nachverhandlungen zu bremsen. Aber ganz unabhängig von Freihandelsabkommen: Europa verliert aktuell an relativer wirtschaftlicher Bedeutung. Der Brexit schrumpft die EU um ein Achtel, und in der Corona-Krise leidet der alte Kontinent deutlich mehr als die USA oder Ostasien.
2021 werden die über 55Jährigen die Wählermehrheit stellen. Die Politik orientiert sich daran und schont die Älteren beim Thema Renten und Pensionen sowie bei den Leistungszusagen für Pflege und Gesundheit. Können die Jüngeren dieses Risiko tragen?
Wie stark die Haushalte nach der Corona-Pandemie konsolidiert werden müssen, ist noch nicht voll abschätzbar. Bisher zeichnet sich aber keine dramatische Ausweitung der Schuldenlast wegen Corona ab, die für künftige Generationen nicht tragbar wäre. Zudem profitieren jüngere Generationen ja auch von der Stabilisierungspolitik in der derzeitigen Krise. Die Lastenverteilung sollte später vor allem über das Steuersystem laufen und damit nach Leistungsfähigkeit. Allerdings gab es unabhängig von Corona in den vergangenen Jahren reichlich rentenpolitische Maßnahmen, die Beitrags- und Steuerzahler belastet haben. Als ersten Schritt, um hier für Ausgleich zu sorgen, sollte der Nachholfaktor in der Rentenversicherung wieder eingesetzt werden. Ganz allgemein gilt: Die Demografie bremst die wirtschaftliche Dynamik. Wenn die Belastung der jüngeren Generationen ungebremst steigt, dann wird das Land zunehmend unattraktiv für junge mobile Fachkräfte.
Die US-Internetgiganten sind Profi teure der Pandemie. Zahlreiche mittelständische Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe sterben einen stillen Tod. Der exportabhängige Fahrzeug und Maschinenbau verliert. Was bedeutet das für die Wirtschaft?
Deutschland muss wieder mehr tun, um seine Wachstumskräfte zu stärken. Wir gehören zu den alternden Gesellschaften, die durch abnehmende Risiko- und Innovationsfreude gekennzeichnet sind. Es ist eine große politische Aufgabe der nächsten Jahre, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Neben Forschungs- und Innovationsförderung kann dazu eine aktive Einwanderungspolitik beitragen, die jüngere und innovative Fachkräfte anzieht. Deutschland hat das Potenzial, in vielen Wirtschaftsbereichen weiter vorn mitzuspielen, wie es aktuell auch in der Impfstoffentwicklung und Medizinausrüstung sichtbar wird. Aber wir müssen den Wandel auch zulassen.
In der Pandemie dominiert eine exzessive Kreditaufnahme …
… die ich nicht erkennen kann. Der Staat hat angemessen auf einen beispiellosen Einbruch der Wirtschaftsleistung reagiert. Die Alternative wäre ja gewesen, die Zerstörung von Wirtschaftsstrukturen hinzunehmen und damit künftige Wachstumsmöglichkeiten zu zerstören. Sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene ist es aber notwendig, Abbaupfade für die jetzt aufgelaufenen Kredite festzulegen.
Grundsätzlich: Wie zuverlässig können Konjunkturprognosen sein?
Prognosen bieten einen Orientierungsrahmen für politische Entscheidungen. Sie beruhen auf als wahrscheinlich angesehenen Szenarien der Wirtschaftsentwicklung. Kommt die tatsächliche Entwicklung diesen Szenarien nahe, treffen auch die Prognosen gut.