Tichys Einblick
Interview Asfa-Wossen Asserate

„Ich werde Weihnachten feiern“

Asfa-Wossen Asserate stammt aus der äthiopischen Kaiserfamilie und lebt seit den sechziger Jahren in Deutschland. Berühmt wurde er mit seinem Buch „Manieren“. Im TE-Gespräch erklärt er, was Glaube für ihn bedeutet – und warum sich die Kirchen in Deutschland leeren.

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Tichys Einblick: Sie sind in der kaiser­lichen Familie in Äthiopien aufgewachsen; in ihren Büchern beschäf­tigen Sie sich immer wieder mit der Frage, wo unsere kulturellen Wurzeln liegen. Was bedeutet das Weihnachts­fest für Sie?

Asfa-Wossen Asserate: Für mich ist Weihnachten eine der größten kirch­lichen Feiern. Es ist das Wiegenfest des Begründers meines Glaubens, ein Fest der Hoffnung, denn der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um uns zu erlösen.

Wie feiern die Christen in Äthiopien Weihnachten?

Auch in der äthiopisch­orthodoxen Kir­che ist Weihnachten eines der größten Feste des Jahres. Es fängt damit an, dass sich die Christen vier Wochen vor­her durch Fasten vorbereiten. Auch in Europa wurde früher vor jedem hohen kirchlichen Fest gefastet. Hier hat sich der Brauch nur noch vor Ostern erhal­ten. Die Fastentradition in Äthiopien wird übrigens nicht von den Älteren wachgehalten, wie man glauben könn­te, sondern sie ist neu belebt worden durch die jüngere Generation der Gläubigen, die in den letzten 40 Jahren her­ angewachsen ist.

Weihnachtserinnerungen gehören für fast jeden zu wichtigen Kindheitserinnerungen. Welches sind Ihre?

Üblicherweise kommen die Christen am Vorabend in der Kirche zu einer langen Messe bis in die frühen Mor­genstunden des Weihnachtstags zu­ sammen. Am Festtag selbst habe ich das gemeinsame Mittagessen in großer Familienrunde aus meiner Kindheit noch in guter Erinnerung. Zum Beispiel habe ich noch den Geruch des Wachol­derbaums im Sinn, da wir in Äthiopien keine Tannen haben, und natürlich an die Meringata­-Torte, die bei uns tradi­tionell nach dem Plumpudding serviert wurde. Das Weihnachtsfest, das wir feierten, unterschied sich kaum von dem in Europa. Nach englischer Tradi­tion gab es bei uns die Geschenke am 25. Dezember. In meinem Buch „Ein Prinz aus dem Hause David“ habe ich beschrieben, wie man Weihnachten im kaiserlichen Palast feierte. Mal kam der Weihnachtsmann mit dem Kamel, mal mit dem Helikopter.

Und im öffentlichen Raum? Fand auch dort Weihnachten statt?

Als ich in Äthiopien auf die deutsche Schule ging, hatten wir in der Vorweih­nachtszeit auch einen Adventskranz, und es gab jeden Sonntag das Advents­ singen. Das war alles sehr europäisch geprägt. Wenn es ein Fest gibt, von dem Europa sagen kann, dass es diese Tradition der ganzen Welt gegeben hat, dann Weihnachten. Seine Symbole finden wir überall, in Asien, selbst in arabischen Ländern – auch wenn der Konsum dabei eine große Rolle spielt und viele wahr­ scheinlich glauben, Weihnachten wäre das Fest für den Mann, der Coca­ Cola erfunden hat.

Als Sie in den 1960er­-Jahren nach Deutschland kamen, stießen Sie da auf Verwunderung, wenn sie erzählten, dass sie aus einem sehr alten christ­lichen Land stammen?

Sehr, sehr, sehr selten. Den meisten Menschen war noch bewusst, dass es sich bei Äthiopien um die älteste christliche Nation der Welt handelt. Wenn Sie damals, Ende der 60er-Jahre, einen normalen Bürger auf der Straße danach fragten, was er mit Äthiopien verbindet, dann antwortete er: die Königin von Saba, Kaiser Haile Selassie und Abebe Bikila, der Marathonläufer. Heute, 46 Jahre später, wird er sagen: Bürgerkrieg, Hunger und Armut. Was die meisten Deutschen aber nicht wussten und wissen, ist die Tatsache, dass Äthiopien auch die älteste muslimische Gemeinde außerhalb von Mekka und Medina hat. Die erste Hidschra, also Auswanderung, führte die frühen Mohammedaner in das damalige Königreich von Aksum. Äthiopien ist das einzige Land der Welt, in das der Islam nicht mit Feuer und Schwert kam. In den Hadithen heißt es: „Lasst die Äthiopier in Frieden, denn sie haben uns nur Gutes getan.“ Ich habe also das Privileg, aus einem Land zu kommen, in dem die drei abrahamitischen Religionen – es gibt auch eine sehr alte jüdische Gemeinde – schon sehr lange heimisch sind.

Heute scheint selbst vielen Kirchen- vertretern in Deutschland nicht mehr bewusst zu sein, dass die Wurzeln des Christentums außerhalb Europas liegen. Der Druck, unter dem viele christliche Gemeinden im Nahen Osten stehen, führt hier kaum zu Protesten. Wie kommt es, dass die Kirchenoberen nichts mehr von den Ursprüngen ihrer Religion zu wissen scheinen?

Es werden jedenfalls immer weniger, denen das bewusst ist. Deutschland war nie laizistisch im Sinne einer strengen Trennung zwischen Staat und Kirche wie in Frankreich. Die Präambel des Grundgesetzes spricht von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Vor Gott und den Menschen – das ist angesichts der jüngeren Geschichte dieses Landes eine beeindruckende Formel. Dort heißt es auch: „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, es werden also die europäischen Werte erwähnt. Was sind die europäischen Werte? Der erste deutsche Bundespräsident, Theodor Heuss, hat auf diese Frage eine berühmte Antwort gegeben. Die europäischen Werte, sagte Heuss, ruhen auf drei Hügeln: der Akropolis, dem Kapitol und auf Golgota. Also auf der griechischen Demokratie, dem römischen Recht und dem christlichen Glauben. Wenn wir uns diese Worte heute anschauen, dann spielt der dritte Hügel eine immer geringere Rolle.

Apropos Hügel: Vor einigen Jahren besuchten Kardinal Reinhard Marx und der EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und nahmen dort auf Bitte des Vorsitzenden der Stiftung, die die Moschee verwaltet, ihre Brustkreuze ab. Viele Gläubige in Deutschland betrachteten das als Anlass, die Kirche zu verlassen. Gab es einen Grund für die Rücksicht der beiden Bischöfe?

Meiner Ansicht nach war dies ein großer Fehler. Selbst wenn sie gebeten wurden, die Kreuze abzulegen – Papst Benedikt hat bekanntlich den Tempelberg besucht, und selbstverständlich hat er sein Kreuz getragen. Es stellt also überhaupt kein Problem dar. Oder denken Sie an Johannes Paul II.: Er hatte in seinem vollen Ornat eines der größten Heiligtümer des Islam besucht, die Umayyaden-Moschee in Damaskus, wo man den Schrein von Johannes dem Täufer immer noch in Ehren hält. Man bedenke, in einer der ältesten und wichtigsten Moschee des Islam! Das Verhalten der beiden Kirchenführer, die ihr Kreuz ablegten, erinnert an den Satz in der Bibel: „Wer nun mich bekennet vor den Menschen, zu dem will ich mich bekennen vor meinem Vater im Himmel. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel“ (Matthäus 10,32 ff.). Zum Christentum gehört es, dass wir unseren Glauben bekennen.

In Europa und speziell in Deutschland scheint die Kirche zu verkümmern. Allein seit 2015 traten hier 2,1 Millionen Menschen aus den beiden großen Kirchen aus. Wie sieht die Situation in Afrika aus?

In Afrika sind die Kirchen voller als je zuvor. Und 80 bis 90 Prozent der Menschen in den Gottesdiensten sind jünger als 30 Jahre. Dort ist die lebendige Kirche buchstäblich zu sehen. Für die katholische Kirche gilt, dass heute die meisten Kirchenmitglieder nicht mehr in der nördlichen Hemisphäre leben. Vor 120 Jahren gingen die christlichen Missionare nach Afrika. Heute kommen nicht selten Priester von dort nach Europa, damit eine Kirche wieder den Gottesdienst abhalten kann.

In Afrika sehen die Kirchen in Deutschland auch heute noch einen wichtigen Teil ihrer Aufgabe: in der Organisation von Hilfe, was sie nicht selten auch als Hilfe bei der Migration nach Europa verstehen. Haben Sie eine Erklärung, warum ihnen das keinen Zulauf beschert?

Die Amtskirche muss aufhören zu glauben, dass sie nur noch wohltätig sein soll. Wohltätigkeit ist nur eine von vielen anderen Aufgaben. Aber sie muss vor allem in der Lage sein, die Menschen zum Wort Gottes zu führen, damit sie erfahren, dass sie schon erlöst sind. Jeder Christ ist eigentlich dazu aufgerufen: Geht in die Welt hinaus und verkündet mein Wort. Wenn sich die Kirchen dazu nicht mehr aufgerufen fühlen, dann wird es sie nicht mehr lange geben. Die Menschen haben ein Bedürfnis nach Transzendenz und müssen so endlich lernen, dass sie „Er- löste“ sind. Es ist aber die Aufgabe der Kirchen, dieses Bedürfnis zu erfüllen. Von Nietzsche gibt es den schönen Satz: „Das Problem der heutigen Christen ist, dass sie so wenig erlöst aussehen.“

Mittlerweile gibt es in den Kirchen eine Debatte, ob sie überhaupt missionie- ren sollten. Stattdessen wird auch in der Kirche über koloniale Schuld und Rassismus diskutiert. Kann aus dieser Debatte etwas Produktives entstehen?

In dieser Debatte schwingt auch Hochmut mit. Jeder von uns ist ein Sünder. Nur ist Schuld ein weltlicher Begriff, Sünde ein theologischer. Und das Problem des Rassismus werden wir nicht lösen, indem wir uns an die Brust klopfen und rufen: „Mea culpa, der Kolonialismus ist schuld.“ Sondern wir müssen uns fragen: Wie können wir diese missliche Situation ändern? Und da gelangen wir zu dem großartigen Wort „égalité“, das nicht, wie viele meinen, aus der französischen Revolution stammt. Es stammt aus dem Christentum. Es war Paulus, der als Erster verkündet hatte, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Gott hat keinen Unterschied gemacht, als er uns erschaffen hat. Die Gleichheit der Menschen, ob Cäsar oder Sklave – jeder Römer lachte damals über diese Vorstellung, weil sie etwas völlig Neues war.

Welche Kirche ist heute Ihre Heimat­gemeinde?

Ich bin Mitglied der äthiopisch-orthodoxen Gemeinde in Frankfurt. Da ich auch gute Kontakte zur katholischen Kirche habe, gehe ich sehr gern in die Liebfrauenkirche.

Können diese Gemeinden mit den alten Wurzeln – die armenische, die syrische, die äthiopische – den Glauben hier in Deutschland wiederbeleben? Kann es da eine Art Ökumene geben?

Was die Ökumene angeht: Da haben wir leider noch einen langen Weg vor uns. Was wir orthodoxen Christen jedoch von der katholischen Kirche lernen können, ist, wie sehr sie von ihrer Universalität profitiert hat. Sowohl die europäisch-orthodoxen wie auch die orientalisch-orthodoxen Kirchen waren immer Staatskirchen, die dazu neigten, jede staatliche Herrschaft zu rechtfertigen. Die katholische Kirche in Polen tat das nicht. Und deshalb geriet der Kommunismus dort zuerst ins Wanken. Jerzy Popiełuszko sagte damals den Leuten vom Geheimdienst: „Mich könnt ihr töten, ich bin nur ein kleiner Priester; aber mein Chef sitzt in Rom, dem könnt ihr nichts antun.“

Einen Hauch von Staatskirche haben wir auch wieder in Deutschland: Die frühe­re EKD­-Vorsitzende Margot Käßmann verkündete, wegen Corona gebe es „kein Recht auf Weihnachten“. Dürfen wir in diesem Jahr feiern?

Das ist eine Absurdität. Jeder Christ hat ein Anrecht auf Weihnachten. Es ist das Fest der Erlösung. Ohne Weihnachten wären wir keine Christen und auch keine Erlösten.

Sie werden also feiern?

Selbstverständlich werde ich das tun, denn keiner darf mir verbieten, den Geburtstag des Gründers meiner Religion zu feiern. Ich bin fest davon überzeugt, dass die gläubigen Christen sich nicht von dem beeinflussen lassen werden, was ihre Kirchenoberen eventuell dazu meinen.


Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate ist Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten, Autor und politischer Analyst.
Sein neuestes Werk, das er mit Annette Friese als Herausgeber veröffentlicht hat, trägt den Titel „Toleranz − schaffen wir das?“ (Adeo Verlag)

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