Die Inflation in Deutschland nimmt Fahrt auf: Bis Ende des Jahres dürfte sie die Marke von drei Prozent auf das Gesamtjahr erreichen oder überschreiten. Im September 2021 übersprang die Geldentwertungsrate für die Bundesrepublik zum ersten Mal vier Prozent. Mittlerweile räumt die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel ein, dass sich die Geldentwertung auch 2022 weiter fortsetzen wird. „Es wäre voreilig zu behaupten, dass die derzeitige Preisdynamik nächstes Jahr völlig abklingen wird“, meinte Schnabel kürzlich. Noch vor wenigen Monaten hatte sie die Ansicht vertreten, der Inflationsschub werde nur kurz andauern und spätestens 2022 wieder abflauen.
Ganz ähnlich schätzte die Bundesregierung noch in der Jahreshälfte 2021 die Inflation in Deutschland für 2022 nur noch auf 1,4 Prozent, und spielte damit den Geldwertverfall herunter. Damit begründet die EZB bis jetzt, dass sie nicht zur strafferen Geldpolitik zurückkehrt. Anders als die Fed in den USA plant sie keine Verringerung des Anleihenkaufprogramms. Eine Erhöhung des Leitzinses von derzeit Null und des Einlagezinses von minus 0,5 Prozent diskutiert sie überhaupt nicht.
Vor allem die Energiepreise treiben die Geldentwertung. In Deutschland verschärft der Staat diesen Effekt noch zusätzlich mit der CO2-Steuer, die in mehreren Stufen steigen soll.
Umso erstaunlicher wirkt es, dass einer der führenden Ökonomen Deutschlands jetzt sogar eine länger anhaltende Inflation von vier Prozent oder mehr für weitgehend problemlos erklärt. „Für die allermeisten Menschen“, erklärt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), per Twitter, sei eine Inflation von vier Prozent „kein Problem“.
Fratzscher gilt als regierungsnaher Ökonom, der vor allem die SPD mit seinen Analysen versorgt. Nur für Hartz-IV-Bezieher, so Fratzscher, stelle der Kaufkraftverlust ein Problem dar. Seine Argumentation ist bemerkenswert. Denn bei einer Inflation von vier Prozent muss ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger sein jährliches Einkommen bei den in Deutschland üblichen Steuersätzen brutto schon um sechs bis sieben Prozent steigern, um wenigstens keinen Realeinkommensverlust zu erleiden.
Noch härter trifft es die Sparer: Das Portal „Tagesgeldvergleich“ schätzt die Höhe der Strafzinsen, die die EZB in diesem Jahr den deutschen Banken und Sparkassen für die Geldeinlagen berechnet, auf insgesamt 4,3 Milliarden Euro. Mehr und mehr Banken geben diese Negativzinsen an ihre Kunden weiter. Dazu kommt der Kaufkraftverlust durch die Inflation selbst, den das Portal für die Kontoinhaber allein 2021 insgesamt auf gut 50 Milliarden Euro schätzt. Schon bei einer Inflation von durchschnittlich zwei Prozent über 11 Jahre löst sich ein Fünftel des Ersparten in Luft auf. Dazu kommt das Problem, dass die Ersparnisse der Deutschen im internationalen Vergleich ohnehin sehr bescheiden ausfallen.
Fratzschers These, Inflation sei trotzdem für die meisten gar kein Problem, dürfte als Argumentationsstütze für die künftige Bundesregierung dienen, die Geldentwertung nicht zu bremsen, sondern im Gegenteil noch weiter anzufeuern – zum einen durch die schon erwähnte CO2-Steuer, zum anderen durch die Anhebung des Mindestlohns.
Der Chef der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie Michael Vassiliadis machte gerade darauf aufmerksam, wie stark der Preisauftrieb nur im Stromsektor mittlerweile auf die Kaufkraft durchschlägt.
Das kann durchaus als Ankündigung harter Tarifverhandlungen für 2022 verstanden werden – die auch nötig wären, um Beschäftigte vor einem Reallohnverlust zu schützen. Allerdings: Genau dadurch droht Deutschland im kommenden Jahr sehr wahrscheinlich eine Lohn-Preis-Spirale. Denn die Unternehmen werden die höheren Lohnkosten an die Konsumenten weitergeben.