Es ist ein Fall, der die aktuelle Migrationsmisere in ein Bild und in Worte fassen könnte: Ukrainer sind nach Deutschland gekommen, weil ein Leben im Kriegszustand gefährlich, sicherlich auch unbequem ist. Aber was erwartet sie hier? Wird ihnen von Deutschland eine Zukunft eingeräumt? Ist das überhaupt in der aktuellen Überlastung der Aufnahmesysteme möglich?
Wie viele andere Kreise ist auch der Landkreis Görlitz derzeit überlastet von Flüchtlingen und anderen Migranten. Der Kreis liegt im Eck zwischen der polnischen und der tschechischen Grenze, hat also selbst unmittelbar zu tun mit den neuen illegalen Migrationsrouten. Daneben muss er aber sein Soll im großen Plan der Innenministerin erfüllen. Mehr als tausend Ukrainer haben Kreis und Stadt schon aufgenommen. Und jeden Monat kommen um die hundert illegale Migranten hinzu, das sind nach aktuellen Berichten meistenteils noch immer „junge Männer aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum“.
Die Zahlen von 2015 und 2016 könnte man hier nicht nochmal bewältigen, so Landrat Stephan Meyer im Radio Lausitz. Denn die Kapazitäten sind schlichtweg nicht mehr da. Verständlich auch: Man möchte nicht noch einmal Sportstätten und Kulturräume für eine Migrationslage opfern, die sich ins Unendliche zu verstetigen scheint. Es wäre kein Wunder, wenn der Kreis auch akut nach Abhilfe suchen würde und zumindest die Belastung durch Menschen, die in ihre Heimat zurückkehren können, vermeiden wollte.
Was Ukrainer in anderen Gemeinden haben, ist bekannt
Eine andere junge Frau, Polina D., schlägt in dieselbe Kerbe. Die Ausländerbehörde verweigere das besagte Papier, das eine kleine Plastikkarte ist, vergleichbar dem normalen Personalausweis, wie sie im Gespräch mit Tichys Einblick erzählt. Sie weiß von Landsleuten in anderen Kreisen, dass ukrainische Flüchtlinge, die in Deutschland ja automatisch Asyl erhalten, auch dieses ‚Kärtchen der Freiheit‘ leicht bekommen – „aber im Landkreis Görlitz kein einziger Mensch“. Sie weiß von 100 Ukrainern im Kreis Görlitz, die ohne Aufenthaltserlaubnis auskommen müssen.
Die zuständige Ausländerbehörde mauere außerdem, wenn sich die Ukrainer mit Nachfragen an sie wenden, lasse sie nicht ins Gebäude und beantworte keine Briefe oder Anrufe. Polina glaubt, dass eine russlandfreundliche, folglich ukrainer-kritische Haltung hinter dieser Weigerung stehen könnte. Dabei hat der Kreis Görlitz die „Hilfe für Kriegsflüchtlinge“ aus der Ukraine sogar auf seiner Homepage plakatiert. Die Kreisverwaltung Görlitz reagierte bisher nicht auf Anschreiben von TE.
Im Gespräch mit TE malt die 20-jährige Polina ihr Leben anfangs in grellen Farben aus. Später wird sie diese Probleme relativieren. In einem kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze sei sie mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder untergebracht. Die Grenze nach Tschechien, auch die nach Polen, ist wenige Kilometer entfernt, aber sie darf sie nicht überschreiten. Dabei seien viele ukrainische Familien heute über mehrere Staaten Europas verstreut, wollten sich naturgemäß wiedersehen.
In dem Ort gibt es nicht viel für sie zu tun, Arbeit findet sie keine, bekommt auch von der Arbeitsagentur keine Vorschläge. Das Geld sei folglich knapp. So gehe es den meisten Ukrainern im Kreis, deren Zahl sie auf einige Tausend schätzt, 2.000, vielleicht 3.000. Eine Telegram-Gruppe allein habe tausend Mitglieder. Sie weiß von einer einzigen Ukrainerin, die als Kellnerin arbeite.
Der Beginn des neuen Lebens dauert noch ein ganzes Jahr
Aus der Ukraine floh Polinas Familie schon im März 2020, am 19. des Monats waren sie in Polen, am nächsten Tag in Deutschland. In Kiew hatte Polina Buchhaltung und Jura studiert. Aber der Krieg vertrieb sie. Ihr zweijähriger Bruder habe aufgrund der Bomben und Sirenen seelische Probleme bekommen und aufgehört zu sprechen. Der Vater und der 18-jährige Bruder der Familie sind ordnungsgemäß in Kiew geblieben. Polina würde sie gerne besuchen, aber eine dauerhafte Rückkehr nach Kiew schließt sie zurzeit aus – nicht nur wegen ihres kleinen Bruders und weil sie bei ihrer Mutter bleiben will. Auch das Leben in Kiew sei weder sicher, noch gebe es für sie dort eine Zukunft. Hier vermischen sich Flucht- und ökonomische Gründe, wie sie selbst zugibt.
In Kiew könne nach wie vor „alles passieren“, auch Bombenbeschuss. Daneben gibt es bei der Elektrizitätsversorgung inzwischen Hauptlastzeiten zwischen acht und elf Uhr sowie zwischen 17 und 23 Uhr, zu denen energieintensive Geräte am besten eingeschaltet werden sollten. Die Elektrizitätswerke des Landes, die einst auch seine Nachbarn mit Strom versorgt haben, seien unter Beschuss. Es ist also kein im engeren Sinne „normales Leben“ möglich.
Nun ist Polina also zum Herumsitzen gezwungen, weil sie keine Arbeit bekommt. Sie will Deutsch lernen, um ihr Studium in Deutschland wieder aufzunehmen – das Gespräch fand in einem Gemisch aus Englisch und Deutsch statt. Doch das nötige Sprachniveau C2 erreicht sie wohl erst in einem Jahr. Am Ende des Gespräches ist sie etwas versöhnlicher gestimmt: Die nicht ganz komfortablen deutschen Sozialleistungen seien kein Problem. Aber sie würde einfach gerne etwas tun. Als angehende Juristin glaubt sie außerdem, dass sie als Mensch bestimmte „Rechte“ habe, die man ihr nicht entziehen kann. Sie pocht so auch auf die Einlösung des Asylversprechens der Bundesregierung, mit der sich die lokalen Behörden oft mehr als schwer tun.