Was für ein Vorwurf, welch ein Skandal, wenn sich über zwei Jahre nach dem islamistischen Mordanschlag an der Berliner Gedächtniskirche im Rahmen zweier Untersuchungsausschüsse der ungeheure Verdacht erhärten könnte, dass ein Helfershelfer Anis Amris unter aktiver Mithilfe deutscher Behörden außer Landes geschafft wurde, wenn in einem Land, dass sich als unfähig erwiesen hat, hunderttausende rechtskräftige Abschiebungen zu voll ziehen, ausgerechnet jene gelingt, die einen zwölffachen Mord vertuschen helfen könnte. Der Staat in äußerster Not. Das Rechtssystem am Boden?
Nein, für die Angehörigen der zwölf Todesopfer und über fünfzig Verletzen des Attentats vom Breitscheidplatz spielt es keine herausragende Rolle mehr, ob der Täter Helfershelfer hatte oder welcher islamistischen Terrorzelle er letztlich angehört haben mag, als am 19. Dezember 2016 der aus Tunesien stammende Terrorist Anis Amri einen gestohlenen Lastkraftwagen in die Besucher des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche steuerte mit der Absicht, möglichst viele Menschen zu ermorden. Wenige Tage später wurde Amri in Italien bei einer Personenkontrolle erschossen.
Bis dahin soll Amri mit mehr als einem dutzend Identitäten von Oberhausen bis Dortmund, von Neuss bis Berlin Sozialleistungen beantragt und immer wieder auch Leistungen erhalten haben. Schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland, soviel weiß man heute, hatte Anis Amri Kontakt aufgenommen zum salafistisch, dschihadistischen Netzwerk rund um den in Hildesheim tätigen Hassprediger Abu Walaa. Der aus dem Irak stammende Walaa wurde kurz vor dem Attentat Amris von der Polizei festgenommen und unter Anklage gestellt. Ihm wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen, vier weitere Angeklagte stehen als Unterstützer vor Gericht.
Nun ist das Attentat vom Breitscheidplatz ziemlich schnell von den Ermittlungsbehörden und den Medien als Tat eines einzelnen Verrückten erzählt worden. Erst 24 Monate später titelte beispielsweise der Tagesspiegel: „Die Erzählung vom Einzeltäter Anis Amri bröckelt.“ und die Welt schrieb ebenfalls Ende 2018: „Anis Amri gilt als Einzeltäter. Beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz soll es keine Helfer oder Mitwisser gegeben haben.“ Aber dann fragt das Blatt weiter: „Doch warum hat eine Gruppe Berliner Islamisten kurz zuvor Deutschland verlassen?“
Bis dahin war die unfassbare Tat auch laut Darstellung der Bundesanwaltschaft die eines Einzeltäters. Anis Amri sei jemand gewesen, „der seine Tat konspirativ plante, niemanden einweihte und keine direkten Helfer hatte.“
Mittlerweile werden die Indizien für weitere Helfer und gruppenmäßige Strukturen allerdings immer erdrückender, ebenso wie die Arbeit der Regierung und der Ermittlungsbehörden immer mehr ins Zwielicht gerät, wie der Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Berliner Anschlag am Weihnachtsmarkt (ja, den gibt es noch) gerade unter größtmöglichen Irritationsbekundungen einiger Ausschussmitglieder feststellen musste, wenn die Innenexpertin der Grünen, Irene Mihalic, im ARD-Morgenmagazin von neuesten Erkenntnissen erzählt, die „in höchstem Maße irritierend“ seien.
Genauer geht es um die Abschiebung eines Tunesiers wenige Wochen nach dem Attentat, obwohl man wusste, dass der Mann ein Helfershelfer Anis Amris gewesen sein soll. Jedenfalls befindet Mihalic als Obfrau im Untersuchungsausschuss, das Bilal B.A., so der Name des Tunesiers, ein „enger Vertrauter“ Amris gewesen sein soll, eine “Schlüsselfigur“, die abgeschoben wurde, „bevor er richtig zu dem Fall befragt werden konnte“.
Der Bekannte bzw. mutmaßliche Mittäter Amris soll nun vernommem werden, bestenfalls im Ausland, damit er nicht wieder nach Deutschland einreisen kann, nachdem er laut Auskunft der Welt eine Widereinreisesperre für den gesamten Schengenraum erhalten hatte. „Wie aus dem Ausschuss verlautete, ist eine Mehrheit der Mitglieder für einen entsprechenden Beweisbeschluss. Offen ist aber noch, ob Bilal B.A. in Berlin oder im Ausland vernommen werden soll.“
Der Bundesinnenminister ließ bereits verkünden, er wolle die umstrittene Abschiebung des Bekannten des Attentäters untersuchen lassen. Das mag ihm auch deshalb leichter fallen, weil diese Abschiebung noch unter seinem Vorgänger Thomas de Maizière vollzogen wurde, also in dessen Verantwortung lag. Und nicht vergessen dürfen wir hier, dass Seehofer noch eine Rechnung offen hat mit de Maizière, der Seehofer gerade erst bescheinigte, der Bayer hätte ihm gegenüber verbal „die politisch zulässige Grenze“ überschritten.
Welche Grenze wie weit nun allerdings das Innenministerium unter de Maizière überschritten hat und was das für Auswirkungen hätte, wenn sich bestätigen würde, dass der Staat das Attentat vom Breitscheidplatz wider besseres Wissen aus politischen Gründen als Einzeltat deklarieren wollte, dann wäre das ein echter Skandal, der notwendigerweise politische Folgen haben muss.
Eine Sprecherin des Innenministeriums befeuerte diese Lesart dann noch, als sie laut Welt bekannt gab: „Fest steht (.), dass die Strafverfolgungsbehörden der Abschiebung damals auch vorab zugestimmt haben.“ Der Focus ging sogar noch weiter und behauptete, die Abschiebung sei sogar deshalb erfolgt, „um den Mann vor Strafverfolgung zu schützen.“
Zwei von einander unabhängige Untersuchungsausschüsse beschäftigen sich aktuell mit dem Fall: einer im Bundestag und einer im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Bundestagsausschuss wurde nach Angaben des Parlaments gerade ein Zeuge befragt, der angeben haben soll, schon 2015 die Polizei und das Sozialamt darüber informiert zu haben, das Amri ein gefährlicher Islamist sei.
Der Spiegel hingegen verbreitete noch im April 2017 die aus neuerer Sicht offenbar von der Politik gewünschte und jetzt mutmaßlich falsche Einzeltäterthese: „Er tötete zwölf Menschen und verletzte Dutzende – jetzt ist klar: Anis Amri handelte bei seinem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz offenbar allein.“ Weiter berichtete der Spiegel damals: »Verantwortlich für all das war offenbar Amri allein. Das teilte die Bundesanwaltschaft jetzt mit. Nach derzeitigen Erkenntnissen stelle sich der Anschlag als Akt eines „Einzeltäters“ dar. Es gebe keine weiteren Anhaltspunkte, dass „weitere in Deutschland ansässige Personen in die Tatvorbereitung oder die Tatausführung eingebunden waren.«