Die Zahl der medialen Ablenkungsmanöver wächst: Zuerst war es das inszenierte Tamtam um eine vermeintliche Migrations-Verschwörung in Potsdam. Nun werden besoffene Party-Deppen auf Sylt zu einer Staatsaffäre hochgejazzt und in drei Wochen beginnt die Europameisterschaft. Doch das Ablenkung zur staatlichen Darstellung gehört, ist nichts Neues. Schon die Römer kannten das Prinzip Brot und Spiele. Sie haben es vermutlich von den Griechen geklaut und die davor von den Ägyptern.
Spannend ist das Manöver, das nach dem Treffen von Potsdam inszeniert wurde: die Angriffe auf Politiker. Jahre lang haben der Regierung geneigte Medien an körperlichen Attacken auf AfD-Vertreter strikt vorbeigeschaut. Nun war es plötzlich das Thema der Saison. Allerdings einer recht kurzen Saison. Denn richtig gezündet hat dieser Rakete nicht.
Die Angriffe auf Politiker haben vielleicht als fadenscheiniger Vorwand für einen weiteren Angriff von Nancy Faeser (SPD) auf die Verfassung getaugt. Aber was solche Vorwände betrifft ist die Innenministerin nicht gerade anspruchsvoll. Kampagnen a la „Fass meinen Spitzenkandidaten nicht an!“ blieben aus; ebenso wie spontane Mahnwachen, zu denen sich Bürger vor Parteizentralen treffen, um mit einer Kerze in der Hand „We shall overcome“ zu singen – oder wenigstens ein obligatorisches „Warum?“-Schild zu hinterlassen. Die Angriffe auf Politiker regte niemand so richtig auf. Nicht mal das eigene Personal erschien vollzählig zu den rasch inszenierten Demos. Die Politik hat sich nicht einmal untereinander lieb. Nicht umsonst gilt Parteifreund als Steigerung von Feind.
Das ist nicht einmal eine Verrohung der Sitten. Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen lehnt dankenswerter Weise Gewalt immer noch deutlich ab. Außerhalb der Freunde des Kalifats oder der Sympathisanten des Hamas-Terrors hält auch niemand Gewalt für ein angemessenes Mittel der Politik. Es fand sich nur außerhalb der Blase niemand, der sich speziell für Politiker ins Zeug legen wollte. Manche Reaktionen erinnerten die Betreiber der Kampagne daran, dass die Unangreifbarkeit von Politikern auch für die Vertreter der AfD gelten müsse – spätestens an der Stelle brach die Kampagne ab.
Ein Gehalt von 10.000 Euro brutto im Monat. Eine „Unkostenpauschale“ von 5000 Euro netto im Monat. Gehaltserhöhungen, wann immer einem danach ist. Ein Fahrdienst, der einen nachts um 5 Uhr noch aus der Kneipe abholt. Vom Staat bezahlte persönliche Mitarbeiter. Abgeordneter in Berlin zu sein, hat schon seinen Spaßfaktor. Doch selbst wer sich wie Finanzminister Christian Lindner (FDP) durch öffentliche Gelder ein Vermögen vom Munde abgespart hat, ist als Politiker am Ende des Spaßes auch nur ein Mensch. Und der will geliebt werden. Nicht nur von Guildo Horn, der – piep, piep, piep – bekanntlich alle lieb hat.
Die Politik weiß darum. Sie reagiert. Das ist am Reichstag ganz offensichtlich zu verfolgen: Als Norman Foster Ende der 90er Jahre eine Kuppel für das Gebäude entwarf, stand eine Idee dahinter. Die Bürger und ihre Politiker sollten einen Platz erhalten, an dem sie sich zufällig treffen, freundschaftlich austauschen und so das Land gemeinsam nach vorne bringen. Das war der Zeitgeist vor 25 Jahren. Heute baut der Bundestag einen Graben um den Reichstag, um sich vor dem Bürger zu schützen.
Eigentlich wäre die fehlende Liebe zur Politik damit zu Ende erzählt – gäbe es nicht noch recht lustige Anekdoten zu erwähnen. Etwa die um Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der Bundespräsident hat all sein Wissen und seine Visionen in das Buch „Wir“ einfließen lassen, um so viel Gutes mit dem Volk zu teilen. Nur scheint das darauf nicht gerade gewartet zu haben. „Wir“ stand bei Amazon am Freitag-Mittag auf Bestellrang 26.545.
„Sind Sie hochsensibel?“ Der Ratgeber gleichen Namens steht weit vor Steinmeier auf Platz 89. Das Gleiche gilt für „Mami goes Millionär“ (67. Platz). Auch wollen deutlich weniger von Steinmeiers Ideen wissen, als von „Toni’s Meal Prep Küche“ (74.). Was auch immer eine Prep-Küche sein mag, so sollte sich Steinmeier ein Beispiel daran nehmen und nächstes Mal ein Kochbuch herausbringen. Wer weiß: Wenn er „Piep, piep, piep – wir haben uns alle lieb“ anstimmt, macht ja vielleicht sogar wer mit. Also jemand, der nicht dafür bezahlt wird.
75 Jahre Grundgesetz feiert die Politik in dieser Woche. Den Bürgern erzählen Politiker, dass unsichere öffentliche Plätze, Attacken in der S-Bahn oder Messerangriffe nur Fake News seien. Hass und Hetze. Wer daran glaube, nütze nur den Rechten. Die gleichen Politiker haben sich für die 75-Jahre-Feier in einem abgesperrten Areal um den Reichstag verschanzt und sich von einer Armee von Polizisten schützen lassen. Geht es um die eigene Haut, mögen sie es gerne sicher. Wird ein Bürger Opfer von Gewalt, interessiert sie als Erstes und einziges, dass bloß „Rechts“ nicht davon profitiert.
Es ist diese Entfernung von den Bürgern. Dieser Widerspruch zwischen Handeln und Reden. Die Doppelstandards, wenn es um die eigene Versorgung und um die Versorgung von Bürgern geht. Die Abstumpfung gegenüber Widersprüchen. Das völlige Unverständnis gegenüber der Logik, dass nicht geliebt wird, wer sich nicht liebenswert verhält. Die gescheiterte Kampagne zu den Angriffen auf Politiker sollte ein Anlass zum Nachdenken für eben diese Politiker sein – bisher ist ein Graben um den Reichstag die einzige Antwort, die ihnen eingefallen ist.