TE: Herr Professor Ragnitz, als Ökonom kritisieren Sie die Grundrente. Warum? Nach Ansicht der Koalition in Berlin schafft sie mehr Gerechtigkeit im Alter.
Joachim Ragnitz: Wir sollten darauf schauen, was die Koalitionspartner mit der Grundrente bewirken wollen. Sie soll die drohende Altersarmut von Menschen vermeiden, die wegen unterbrochener Erwerbsbiografien auf wenige Beitragsjahre kommen. Aber gerade dieses Ziel wird nicht erreicht. Wer weniger als 35 Beitragsjahre hat, der kommt nicht in Genuss der Grundrente. Es kann paradoxerweise dazu kommen, dass jemand, der 35 Jahre in Teilzeit gearbeitet hat, durch die Grundrente mehr bekommt als einer, der 34 Beitragsjahre in Vollzeit hinter sich hat. Das halte ich für ungerecht und nahe an der Verfassungswidrigkeit. Außerdem: Wer in der Grundsicherung ist, kann durch die Grundrente sein Einkommen überhaupt nicht steigern. Es profitieren deswegen von der Grundrente nur Personen, die nicht am dringendsten bedürftig sind.
Im Koalitionsvertrag sind sowohl Grundsicherung als auch Grundrente vereinbart. Bei der Grundrente soll jetzt aber nicht das Vermögen des Antragstellers geprüft werden. Wie passt das zusammen?
Das passt nicht zusammen. Wer die Grundsicherung beantragt, bei dem wird alles geprüft – Einkommen und Vermögen. Das müsste eigentlich auch für die Grundrente gelten, wo allerdings nur das Einkommen geprüft werden soll. Jemand kann durchaus ein niedriges Einkommen haben, aber – zum Beispiel nach einer Erbschaft – ein hohes Vermögen. Allerdings ist das Vermögen nicht leicht zu erfassen. Entscheidend ist für mich aber etwas anderes.
Und zwar?
Mit der Grundrente würde der Zusammenhang zwischen Höhe der Beitragszahlungen und späteren Renteneinkünften – also das Grundprinzip der Rentenversicherung – noch weiter durchbrochen. Schon die Rente mit 63 ging in diese Richtung. Die Grundrente ist eine Sozialleistung, damit ist aber eine umfassende Bedürftigkeitsprüfung zwingend.
Welche Überlegung der Koalitionäre steht Ihrer Meinung nach dahinter?
Das Problem ist, dass Union und SPD grundsätzlich verschiedene Konzepte verfolgen. Die Union will mit der Grundrente offenbar tatsächlich Altersarmut bekämpfen. Die SPD möchte damit grundsätzlich Lebensleistung anerkennen und Respekt für die Arbeitsbiografie aussprechen, die möchte mit der Grundrente also eher Sozialpolitik betreiben. Das Ziel, Altersarmut zu bekämpfen, würde ich ja unterstützen; dafür gibt es aber andere Möglichkeiten.
Welche?
Die Grundsicherung ist genau hierfür gedacht; das Problem hier ist aber, dass bisher eigenes Einkommen vollständig mit der Grundsicherung verrechnet wird. Besser wäre es deshalb, wenn bei denjenigen, die Grundsicherung bekommen, ein geringerer Anteil ihrer Rentenansprüche angerechnet werden, das heißt, sie dürften mehr davon behalten. Damit wäre sichergestellt, dass jemand, der relativ wenig in seinem Leben gearbeitet hat, immer noch mehr bekommt als jemand, der nie gearbeitet hat, aber andererseits der Abstand zu denjenigen gewahrt bleibt, die mehr in die Rentenkasse eingezahlt haben.
Angesichts der Widersprüche und Ungerechtigkeiten, auf die Sie hinweisen – wird die Grundrente, wenn sie so zustande kommt wie geplant, vor dem Bundesverfassungsgericht bestand haben?
Ich bin kein Jurist. Aber nach Meinung des langjährigen Geschäftsführers des Verbandes der Rentenversicherer Franz Ruland bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen den vorliegenden Entwurf. Und ich halte seine Argumente für gut nachvollziehbar.
Trotzdem haben sich Kanzlerin, Unionsspitzen und SPD erst einmal auf diesen Entwurf geeinigt. Haben sie damit ein bestimmtes Wählerklientel im Auge?
Der Gedanke liegt nahe, denn die Mehrheit der Wahlberechtigten ist mittlerweile älter als 52 Jahre und hat damit die Rente im Blick. Mehrheiten kann man also nur noch gewinnen, wenn man genügend Wähler dieser rentennahen Jahrgänge anspricht. Bei dem aktuellen Koalitionskompromiss kommt wohl auch hinzu, , dass die Zustimmung der CDU wahrscheinlich auch als Unterstützung für Olaf Scholz im Wettbewerb um den SPD-Vorsitz gemeint war, da man befürchtet, dass die SPD die Koalition verlasst, wenn er sich nicht durchsetzt.
Was halten Sie von der Finanzierung der Grundrente durch eine Finanztransaktionssteuer, wie sie Olaf Scholz vorschlägt?
Wie soll das gehen? Erstens steht im Koalitionsvertrag, dass eine solche Steuer auf den Handel mit Wertpapieren und Aktien „im europäischen Kontext“ eingeführt werden soll; derzeit steht in den Sternen, ob es wirklich dazu kommt. Und zweitens ist überhaupt nicht gesichert, dass der Ertrag dieser Steuer tatsächlich den Mitgliedstaaten, also dem Bundeshaushalt zugute kommt; auch die EU erhebt Ansprüche hierauf.
Angenommen, die Grundrente käme so durch wie vereinbart und hielte auch vor dem Verfassungsgericht stand. Wie lange würde sie dann angesichts der demografischen Entwicklung tatsächlich gezahlt?
Schon heute ist die Rentenversicherung nicht nachhaltig finanziert und auf hohe Bundeszuschüsse angewiesen. Spätestens ab 2030 wird die Rente so wie bisher nicht mehr funktionieren, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Es gibt nur drei Schrauben, an denen die Politik drehen kann: Sie kann das Rentenniveau senken, den Rentenbeitrag beziehungsweise den Steuerzuschuss zur Rente noch weiter steigern oder das Renteneintrittsalter erhöhen. Wahrscheinlich wird sie alle drei Möglichkeiten nutzen müssen. Und dann wird sich der Blick auch auf die Erweiterungen des Rentensystems wie die Rente mit 63 und die Grundrente richten. Diese Leistungen wird man zwar nicht für diejenigen zurücknehmen können, die schon Empfänger sind – aber für die jüngeren Jahrgänge, die dann ins Rentenalter kommen.
Das heißt, diejenigen, die heute für die Grundrente zahlen, werden sie selbst nicht mehr erleben?
Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es genau so kommt.