Tichys Einblick
PostPolitiker und PostJournalisten

Ich aber beschloss, Influencerin im Bundestag zu werden

Mit ihrer Rede zur Impfpflicht wurde die Grünen-Abgeordnete Emilia Fester bundesweit bekannt. Es gibt gute Gründe, den Typus ernst zu nehmen: Postpolitische Mandatsträger und postjournalistische Journalisten haben die Macht, die gesellschaftliche Kommunikation zu zerstören. Das können selbst klassische Linke nicht wollen.

IMAGO/photothek

Interessant an der 23-jährigen Bundestagsabgeordneten Emilia Fester ist nicht sie selbst, sondern ihre Funktion innerhalb des politisch-medialen Gefüges. Mit ihrer Bundestagsrede zur Impfpflicht wurde die Grünen-Politikerin schlagartig bekannt. Wer diese Rede und vor allem ihre Vortragsweise ablehnt, neigt möglicherweise auch dazu, die Bedeutung dieses neuen Politikertypus für die Gesellschaft zu unterschätzen. Fester steht für den Aufstieg eines auf den ersten Blick paradoxen Phänomens im Berliner Regierungsviertel und generell in der westlichen Welt. Sie verkörpert fast lupenrein die Figur des postpolitischen Mandatsträgers. Und den wiederum gäbe es nicht ohne den postjournalistischen Journalismus. Wie beide einander an der Hand fassen, zu neuen Zielen vorstoßen und gerade die Reste der ohnehin schon labilen öffentlichen Kommunikation zerstören, davon soll dieser Text handeln.

Nach Festers Impfpflicht-Rede machten Videoausschnitte in den sozialen Medien die Runde, in denen sich das Muster der Postpolitik allerdings unzureichend zeigt. Es tritt deutlicher im reinen Redetext hervor.

„Als die Pandemie begonnen hatte, war ich 21 Jahre alt“, beginnt ihre Ansprache, mit der sie vorgeblich für eine Impfpflicht argumentieren will. „Wissen Sie noch, was Sie gemacht haben, als Sie 21 waren?“

Dann folgt eine bemerkenswerte Aufzählung, in der sie jeden ihrer Sätze mit ‚ich‘ einleitet:

„Ich habe innerhalb der vergangenen zwei Jahre aus Vorsicht und aus Rücksicht das Folgende nicht gemacht: Ich war nicht in der Uni. Ich war nicht im Ausland. Ich habe kein Museum und auch kein Festival besucht. Ich habe nicht mal eine Person, die ich noch nicht kannte, geküsst oder meinen Geburtstag gefeiert. Ich war verdammt noch mal nicht einmal im Klub, kein Tanzen, Feiern und all das, was ich so vermisse.“

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Dass sie trotz Vorsicht und Rücksicht – Rücksicht auf wen und was, bleibt bei ihr offen – innerhalb der vergangenen zwei Corona-Jahre sehr wohl ins Ausland reiste, darauf machten schon mehrere Leute unmittelbar nach ihrer Rede aufmerksam, die ihren Instagram-Post mit frohen Grüßen aus Dänemark gefunden hatten. Noch merkwürdiger erscheint ihre Mitteilung, sie sei nicht in der Uni gewesen. Denn weder in Festers offizieller Biografie noch irgendwo sonst findet sich irgendein Hinweis auf ein Studium. Ihrem Bundestagslebenslauf zufolge, der auf Eigenangaben beruht, heißt es, dass sie 2017 ihr Abitur ablegte, von 2018 bis 2019 als angestellte Regieassistentin beim Jungen Theater Hamburg arbeitete, 2019 als Mitglied des Grünen-Vorstandes Hamburg in die Berufspolitik einstieg und 2020 zu der grünen Verhandlungsgruppe zur Ausarbeitung des Koalitionsvertrags mit der Hamburger SPD gehörte. Im Jahr 2021 zog sie als Abgeordnete in den Bundestag ein.

In diesen Zeitablauf passt beim besten Willen kein Studium, selbst dann nicht, wenn sie sich formal irgendwo eingeschrieben hätte. Auf ihrer eigenen Webseite erklärt sie ihren Werdegang noch etwas ausführlicher. „Im April 2019“, heißt es dort, „wurde ich von der Landesmitgliederversammlung der GRÜNEN Hamburg in den Landesvorstand und zur frauenpolitischen Sprecherin des Landesverbandes gewählt. Mitglied in der Partei war ich schon seit 2016 und ich hatte auch schon verschiedene Ämter und Aufgaben im Verband. Aber seit der Wahl in den GRÜNEN Landesvorstand bezeichne ich mich selbst als Politikerin, und arbeite auch (mehr als Vollzeit) für meine politischen Ideen.“

‚Mehr als Vollzeit‘ bedeutet vermutlich ganz einfach Vollzeit. Hier liegt vermutlich auch die Erklärung für ihre ausgefallenen oder zumindest reduzierten Lebensfreuden der vergangenen beiden Jahre: Sie beschloss mit zwanzig und noch vor dem Ausbruch von Covid-19, Berufspolitikerin zu werden. Gerade bei den Grünen gibt es keinen Aufstieg, ohne fast die gesamte verfügbare Zeit in das parteiinterne Netzwerken und den Aufbau einer Medienpräsenz zu stecken. Der Autor dieses Textes fragt bei Festers Bundestagsbüro nach, was die Wendung ‚ich war nicht in der Uni‘ bei ihr als Nichtstudentin bedeuten soll. Eine Antwort oder auch nur irgendeine Reaktion gab es nicht. Auf einer Plattform für Fragen an Politiker findet sich eine ganz ähnliche Bitte um Erläuterung – ebenfalls bis jetzt unbeantwortet.

Auch ihre restliche Verzichtsaufzählung wirkt bestenfalls rätselhaft. Museen waren in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich für einige Monate geschlossen, Festivals fielen aus, Clubs mussten in der Vergangenheit zwangsweise schließen. Aber selbst die Corona-Maßnahmen in Deutschland, zu denen zeitweise Ausgangssperren und Reisebeschränkungen zwischen den Bundesländern gehörten, untersagten zu irgendeinem Zeitpunkt das Küssen, auch nicht Geburtstagsfeiern. Sie begrenzten nur die Gästezahl. Vor allem aber stehen die Museen längst wieder offen, die Gastronomie auch, Partys sind wieder erlaubt.

In diesem Abschnitt ihrer Rede behauptet Fester noch, sie hätte aus Vor- und Rücksicht auf vielerlei Vergnügen verzichtet, und suggeriert, sie würde immer noch verzichten, also aus freien Stücken dieses und jenes nicht tun. Um dann plötzlich zu einer ganz anderen Argumentationslinie zu springen. „Das mag Ihnen jetzt vielleicht lächerlich vorkommen“, vermutet Fester, und erklärt: „Aber wissen Sie, was wirklich lächerlich ist? Wenn Sie und Ihre Freundinnen und Freunde der Freiheit sich einfach hätten impfen lassen, als die meisten von uns so vernünftig waren und diesen einfachen Schritt gegangen sind, dann wäre ich jetzt wieder frei.“

Sie erzählt also nicht nur vom Bundestagsrednerpult herab eine Schwindelgeschichte über ihre Auslands- und Uniabstinenz, sie behauptet auch noch, immer noch nicht frei zu sein, also aus von ihr nicht näher ausgeführten Gründen immer noch nicht ins Museum zu dürfen, nicht tanzen und nicht küssen zu können, und zwar, weil ein Teil der Bevölkerung die Impfung gegen SARS-Cov-2 verweigert.

Im Oktober 2021 belehrte übrigens die bayerische Grünen-Vorsitzende Katharina Schulze per Interview in der „Passauer Neuen Presse“ die Öffentlichkeit, der Begriff „Freiheitstag“ für die Aufhebung der Corona-Einschränkungen sei falsch und irreführend, denn: „Der lässt den Eindruck entstehen, wir wären in den vergangenen anderthalb Jahren nicht frei gewesen. Das ist doch Quatsch.“ Für ihre Ansicht, auch die Ausgangssperre in Bayern und das vorübergehende Verbot, lesend auf einer Parkbank zu sitzen, hätten die Freiheit überhaupt nicht angetastet, erntete Schulze damals im gutgrünen Milieu und vor allem auf Twitter frenetischen Applaus. Jetzt behauptet Emilia Fester im Bundestag das genaue Gegenteil; sie erklärt, auch jetzt nach dem Ende der allermeisten Maßnahmen sei sie immer noch nicht frei. Dafür erhält sie ebenfalls begeisterten Beifall aus genau dem gleichen Milieu, hauptsächlich bei Twitter.

Fassen wir also vorläufig zusammen: Bei Fester reichte es in den vergangenen zwei Jahren nur zu einem Auslandsaufenthalt in Dänemark, zur Uni ging sie nicht, wie allgemein in Nichtstudentenkreisen üblich, außerdem küsste sie keinen Fremden und tanzte in keinem Klub, sondern nur auf dem Korridor vor ihrem Abgeordnetenbüro

und verzichtete auch sonst auf vieles, um sich dann ein Bundestagsmandat mit einer Grundentschädigung von 10.012 Euro monatlich plus 4.583 Euro Kostenpauschale zu erarbeiten. Schuld daran – auf den Verzicht, nicht an ihrer Wahl – haben die Ungeimpften (bei einer Impfquote in Deutschland von etwa 76 Prozent). Nun muss sich derjenige, der es tatsächlich auf sich nimmt, diesen verworrenen und verknoteten Gedankengängen inklusiver zweier Münchhausiaden zu folgen, immer wieder vergegenwärtigen, dass es in der Bundestagsdebatte um eine gesetzliche Impfpflicht geht, also um eine Zwangsmaßnahme, die in der Zukunft greifen soll. Warum sie glaubt, ihre eigene Verzichtsleistung in der Vergangenheit wäre ein Argument für ein solches Gesetz, bleibt völlig im Dunkeln, wo sich auch der Sinn ihrer restlichen Rede befindet.

Sollte es dem Staat also in Zukunft möglich sein, Personen, die der Impfnachweispflicht nicht genügen, mit Geldbußen zu belegen, wäre sie, Emilia Fester, wieder frei. Sie könnte endlich wieder küssen, Geburtstag feiern und ins Museum gehen. Genau so sagt sie es tatsächlich:

„Dann wären wir alle wieder frei oder zumindest freier, um das zu machen, was wir lieben und worauf wir jetzt seit zwei Jahren warten, was manche von uns depressiv macht, Menschen in die Einsamkeit stürzt und Familien in den Wahnsinn treibt. Wir sind bereit, unsere Freiheit für das Leben anderer Menschen zu geben, vulnerable Gruppen zu schützen.“

Sie ist also nicht ins Museum gegangen und nur ganz kurz einmal nach Dänemark ausgewichen, um in Deutschland vulnerable Gruppen zu schützen, also vor allem chronisch Kranke und generell Menschen in Altersheimen. Dafür fordert sie jetzt eine Belohnung, oder wie sie sagt, „den Payback“. Denn: „Wir haben nämlich was gefunden, das uns schützen kann. Deshalb will ich meine Freiheit zurück. Ich will sie zurück, und ich will sie nicht nur kurzzeitig zurück, weil jetzt einige Leute besonders laut ‚Freedom Day‘ rufen und offensichtlich alle Erfahrungen mit diesem Virus, die wir alle gemeinsam gemacht haben, ignorieren, liebe FDP-Fraktion. Nur weil man die Pandemie für beendet erklärt, ist sie noch nicht vorbei.“

Bei dem, was uns ihrer Ansicht nach schützen kann, handelt es sich um die verschiedenen Impfstoffe gegen Covid-19. Dafür, warum dieser Schutz denjenigen, die ihn nicht wünschen, per Gesetz verordnet werden soll, nennt sie kein einziges Argument. Es gibt ja tatsächlich keine stichhaltige Begründung für den gesetzlichen Zwang, sich ein Mittel verabreichen zu lassen, das nachweislich die Verbreitung der Corona-Infektionen nicht unterbindet. Die weltweit höchste Corona-Inzidenz herrscht derzeit in Südkorea, einem Land mit einer Impfquote von 87 Prozent.

Die Argumente gegen eine Impfpflicht sind schon oft genannt worden, auch hier auf TE, sie sollen deshalb nur noch einmal kurz zusammengefasst werden: In vielen Fällen schützt die Impfung auch nicht generell vor schweren Verläufen. Ihre Wirkung hält nur kurz an, andererseits liegt die sogenannte fallbezogene Todesrate von Corona jetzt schon unter der von Grippe. Nach einer neuen Auswertung aus Großbritannien waren 92 Prozent der dortigen Corona-Todesopfer und 80 Prozent aller Erkrankten geimpft.

Wer sich impfen lassen möchte, konnte und kann das tun. Aber für eine gesetzliche Anordnung, die nichts weniger beseitigen würde als die körperliche Selbstbestimmung, gibt es nicht den geringsten Anlass. Und aus genau diesen Gründen, das geben viele Abgeordnete in Berlin hinter nur halb vorgehaltener Hand zu, wird sie auch nicht kommen. Trotzdem bemühen sich die meisten Impfpflichtbefürworter immerhin, Rechtfertigungsketten aufzubauen, zumindest Argumentationssurrogate. Das Besondere an ihrer Rede und überhaupt der Figur Emilia Fester liegt darin, dass sie gar nicht erst den Versuch unternimmt, so etwas wie eine halbwegs konsistente Position herzuleiten. Sie fragt sich auch an keiner einzigen Stelle, warum die Länder rings um Deutschland an ihren Einschränkungen wegen Corona schon längst nicht mehr festhalten, vom links regierten Spanien bis zum eher rechten Polen und dem Großbritannien Johnsons dazwischen, obwohl keines der Länder versucht, eine Impfpflicht einzuführen, und Österreich sie faktisch schon wieder abschaffte.

Nach ihren Ich-Sätzen über ausgefallene Auslandsreisen, den verhinderten Unibesuch und überhaupt ihre Unfreiheit, an der nicht gegen Covid Geimpfte die Schuld tragen, kommt bei ihr noch eine Passage der astreinen Illiberalität, die weit über die Virenfrage hinausreicht: „Ihre individuelle Freiheit endet dort, wo meine beginnt, wo die kollektive Freiheit beginnt.“ Einigermaßen sortiert müsste ihr Satz so lauten: Individuelle Freiheit endet dort, wo das kollektive Fühlen und Behaupten beginnt. Diese Formel stand in der Geschichte zuverlässig immer am Beginn jeder freiheitsfeindlichen Bewegung. Mit ihrer Behauptung „Impfen darf keine Individualentscheidung mehr sein. Es ist keine“ endet die Jungfernrede der Politikerin vor dem Bundestag, in deren Partei und Anhängerschaft gleichzeitig „my body, my choice“ als unverrückbare Doktrin gilt, genauso wie das Recht, das eigene Geschlecht per Sprechakt festzulegen.

Der postpolitische Phänotyp Emilia Fester unterscheidet sich noch einmal deutlich von einer Annalena Baerbock, auch von einer Katharina Schulze. So verdichtet und pur gab es die Mischung aus zusammengeschwindelten Sätzen, Ich-ich-ich-Stakkato, Alogik und Geifer bei gleichzeitigem Verzicht auf jede inhaltliche Konsistenz bisher bei anderen Vertretern ihres Milieus noch nicht, vorgetragen mit den begrenzten schauspielerischen Mitteln des Schrei- und Fuchtel-Overactings. Aus opaken Gründen gilt vor allem in den etablierten Redaktionen der Republik die Praxis, schreiend und fuchtelnd alogische Beschuldigungen vorzutragen, als engagiert und deshalb besonders wertvoll. Aus diesen Gründen räumte bekanntlich auch ein blaugefärbter Youtuber namens Yannick Frickenschmidt aka Rezo den Grimme-Preis ab.

Postpolitisch ist dieser Stil vor allem deshalb, weil es auf den Fester-Vortrag eigentlich keine Möglichkeit einer Gegenrede oder überhaupt der Erwiderung gibt. Denn die bräuchte zumindest etwas wie einen inneren Zusammenhang, um argumentativ irgendwo ansetzen zu können. Damit endet das Phänomen noch lange nicht. Nicht eine Abgeordnete Fester selbst zerstört die öffentliche Kommunikation. Zur Postpolitik gehört vor allem die politisch-mediale Reaktion auf ihre Rede. Für viele Journalisten und Haltungstwitterer spielt es offenbar überhaupt keine Rolle, dass sie der Öffentlichkeit einen Verzicht auf Auslandsreisen vorlügt und sich wahrheitswidrig als Studentin ausgibt. Sie selbst erklärte, als es immerhin ein paar Nachfragen gab: „Sie versuchen mich durch Detailfragen zur Lügnerin zu machen und meine Rede durch schlimmste Ad-Hominem-Argumente als Einzelmeinung zu labeln.“

In ihrer Formulierung „durch Detailfragen zur Lügnerin machen“ schimmert Festers Ansicht ziemlich deutlich durch, dass sie im Lügen überhaupt kein Problem sieht. Sondern in denjenigen, die nach Details zu ihren Behauptungen fragen. Für sie stellt ihre Rede auch ganz selbstverständlich keine Einzelmeinung dar. In einem anderen Posting erklärt sie sich völlig unironisch zur Stimme der Jugend.

Mittlerweile gehört es zur Routine bei den Grünen, Kritik an ihren Vertretern grundsätzlich als „Hass“ zu bezeichnen, auf konkrete Vorwürfe gar nicht erst einzugehen und sofort einen Opferstatus zu reklamieren. Das funktionierte auch nach der Fester-Rede wie am Schnürchen.

Exakt so konstruieren verbündete Medienschaffende die öffentliche Figur Fester, und zwar nicht erst nach ihrer Impfpflicht-Rede: als Stimme der jungen Generation, als großartige junge Frau, wobei sie als einzige Großartigkeit immer ihr Alter hervorheben, kurzum, als Reality-Show-Figur. Die ARD packte Festers gesammelte Ich-Sätze auf eine sogenannte Social-Media-Kachel, ohne die Richtigkeit ihrer Aussagen nachzuprüfen.

Auch später, als ihnen klar sein musste, dass Fester doch im Ausland war und dass sie nicht studierte, korrigierten die Tagesschau-Redaktionsmitglieder nichts. Denn zumindest für viele jüngere Journalisten stammt die Frage, ob eine Behauptung faktisch stimmt, aus einer verschütteten und zu Recht längst erledigten Epoche. Für sie zählt vielmehr, ob irgendetwas ein Narrativ stützt. In einem Gesellschaftssegment, in dem man sich nicht mehr mit, sondern als etwas identifiziert, kann sich jemand ruhig per Sprechakt zur Studentin erklären und behaupten, in einer bestimmten Zeit nicht ins Ausland gereist zu sein.

Über die bis zur Bundestagswahl 2021 bestenfalls lokal bekannte Grünen-Politikerin Fester gibt es in der öffentlich-rechtlichen Mediathek schon mehr Beiträge als über andere weniger mediengängigere Politiker, die schon seit zehn Jahren im Bundestag sitzen. Der NDR widmete ihr ein Porträt, das wie ein etwas lang geratener Wahlwerbeclip wirkt.

Die Tagesschau brachte gleich nach der Wahl die Behauptung „für die Jugend in den Bundestag“ unter ihr Publikum, auch wiederum als reine Personality-Show, und auch mit der unvermeidlichen Arabeske, dass junge tolle Frauen wie sie natürlich auch viele Angriffe im Netz ertragen müssen.

Der Begleittext zu dem ARD-Porträt liest sich wie aus einer Parteibroschüre herüberkopiert:

Dass ihr „mangelnde Berufserfahrung“ vorgeworfen wird, trägt die Redaktion in einem Tonfall vor, als wäre irgendetwas an diesem Vorwurf falsch.

Einen besonderen Platz unter den Fester-Filmen nimmt der Beitrag des ZDF-Kinderkanals logo ein. Nach eigenem Bekunden berichtet logo „über aktuelle politische Themen, erklärt Zusammenhänge und Hintergründe“. Mag sein, dass die Macher der Sendung das ab und an versuchen, wenn auch mit seltsamen Ergebnissen.

Der ZDF-logo-Film über Festers ersten Arbeitstag im Parlament kommt allerdings vollständig ohne Zusammenhänge, Hintergründe und überhaupt ohne Spurenelemente von Politik aus. Der Beitrag wirkt wie ein Tiktok-Video der Grünen für Erstwähler; die ZDF-Reporterin namens Simone bemüht sich noch nicht einmal um den Anschein einer journalistischen Distanz, beplaudert die dauerlächelnde Fester wie eine beste Freundin und stellt tatsächlich nicht eine einzige, noch nicht einmal eine ganz weiche Frage zu politischen Zielen und Ansichten der frischgewählten Abgeordneten, sondern füllt die zwei Minuten mit Verbalmasse wie: „Warum hast du jetzt so große Lust, bei dieser großen Politiksache mitzumischen?“ Die mitmischende Jungabgeordnete wiederum hütet sich natürlich, irgendein politisches Thema anzuschneiden. Dafür erzählt sie gleich zweimal in die Kamera, dass sie ihren Parlamentseinstand so ähnlich empfindet „wie den ersten Schultag“.

Tendenzen zu dieser neuen Kommunikationsform gibt es inzwischen massenhaft. Aber so rein und lehrbuchmäßig wie hier traf Postpolitik wahrscheinlich noch nie auf Postjournalismus. Angela Merkels Séancen bei Anne Will wirken dagegen im Rückblick wie Hochämter der politischen Hermeneutik.

Eine ganz ähnliche Formatierung wie in dem logo-Beitrag findet sich übrigens auch auf der Webseite von Fester. Dort antwortet sie auf Fragen wie: „Was würdest du mit einer Million Euro tun?“, und nach ihrer Vorstellung von der Welt in 1000 Jahren. Selbstredend sieht sie dann so aus: „Friedlich, feministisch, antifaschistisch, fortschrittlich, klimagerecht, antikapitalistisch und natürlich – gerecht!“ Da wird die Klingelwortliste nun wirklich mit größter gründeutscher Sorgfalt abgearbeitet.

Auf ihrer Webseite findet sich auch ein dezidiertes Bekenntnis zur Antiintellektualität: „Viele Betrachtungen von gesellschaftlichen Zusammenhängen werden in der Politik stark intellektuell und akademisch verfasst: ‚Jurist*innen-Deutsch‘ wird das dann genannt, oder die Fachsimpelei wird auf die wissenschaftliche Herleitung geschoben.“

Ohne ein Mindestmaß an Grundwissen und intellektueller Anstrengung lässt sich tatsächlich nicht über Rentenpolitik, Energieversorgung und ähnliche Komplexe sprechen. Sie kommen auf Festers ins Netz gestellten Themenliste deshalb auch nirgends vor, noch nicht einmal andeutungsweise.

Dort, wo Kommunikation zur Verkündigung wird, also in großen Teilen von Politik und Medien, braucht der Verkünder Archetypen. Ein solcher Grundtyp ist der Migrant, bei dem es auf individuelle Züge gar nicht ankommt, der alte weiße Mann, und noch mehr als alle anderen sein Gegenbild, die junge engagierte Frau. Für Verkündungsparteien und Verkündungsmedien stellt die junge Engagierte gleichzeitig auch eine wertvolle Trophäe dar. Die Gier nach dieser Trophäe ist derartig groß, dass Parteien und Medien dabei auch Personenschäden in Kauf nehmen. Nicht jede junge Frau kommt damit zurecht, plötzlich vom Steuerzahler ein Spitzengehalt zu beziehen und von Journalisten selbst noch für die dünnste Wortmeldung beklatscht zu werden.

Die allererste Jungefrau-Trophäe ergatterte die sächsische Linkspartei, die damals noch PDS hielt, im Jahr 2004. Damals engagierte sie die 18-jährige Julia Bonk von der Schulbank weg für die Landesliste, die dann unter dem Titel ‚jüngste Abgeordnete Deutschlands‘ sich selbst und der Partei Aufmerksamkeit verschaffte. Allerdings merkten die älteren Genossen schnell, was und wen sie sich eingehandelt hatten. Bonk erzählte Journalisten, Heroin in seiner reiner Form mache nicht abhängig. Deutschlandwimpel während der Fußball-WM brachte sie rhetorisch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung. In diesen Jahren jedenfalls galt das auch der PDS-Parteiführung noch als problematisch. Irgendwann stellte ihr die Fraktion einen Sprecher an die Seite, der ihre öffentlichen Äußerungen filtern sollte. Im Jahr 2013 erlitt Bonk einen psychischen Zusammenbruch, blieb den Landtagssitzungen ein Jahr lang fern und schied danach ganz aus der Politik aus.

Der Fall der früheren Juso-Funktionärin Hanna Reichhardt wiederum verlief etwas anders; sie schaffte es zwar nicht in ein Parlament, stand aber bis 2021 immerhin als Stellvertreterin an der Spitze des Jugendverbandes einer Regierungspartei. Sie erlangte eine größere Medienbekanntheit, als sie sich die Haare abrasierte und anschließend mit SPIEGEL Online darüber sprach.

Später nahm sie eine kosmetische Änderung an ihren Zähnen vor und twitterte darüber. Ihre politischen Äußerungen, die es neben vielen Ich-Sätzen es auch noch gab, ähnelten denen anderer Jungtrophäen: mehr oder weniger beliebige Textbausteine, bei denen nur zu zählen schien, dass bestimmte Klingelwörter vorkommen. Eine gewisse Vorliebe für das Fotografiertwerden und Auftritte vor Videokameras war bei ihr unverkennbar.

Dem 2021 neu gewählten Juso-Bundesvorstand gehört sie nicht mehr an, sie verschwand ohne Erklärung sehr plötzlich und fast vollständig von der politischen Bühne. Ihrem Twitteraccount zufolge gehört sie den Berliner Jusos heute als Basismitglied an.

Zwar gibt es gute Gründe dafür, politische Phänomene nicht zu pathologisieren. Andererseits: Wenn ein bestimmter Persönlichkeitstyp unter großzügigster Förderung immer stärker in Politik (und Medien) drängt, dann fällt es schwer, das ganz zu ignorieren.

Vor allem dann, wenn sich eine bestimmte Persönlichkeitsbeschreibung aus der Fachliteratur so liest wie ein Porträt der idealtypischen von Parteistrategen gecasteten Jungpolitikerin, nämlich die des Histrionikers. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen histrio her, einem etruskischen Lehnwort für Schauspieler, aber auch im weiteren Sinn für eine affektgeleitete Person. Histrioniker (und Histrionikerinnen, sie scheinen etwas häufiger vorzukommen), heißt es in dem Wikipedia-Eintrag, „zeichnet sich durch egozentrisches, dramatisch-theatralisches, manipulatives und extravertiertes Verhalten aus. Typisch sind extremes Streben nach Beachtung, übertriebene Emotionalität und eine Inszenierung der sozialen Interaktion.“ Auf Kritik reagieren Histrioniker oft durch „Schuldabwehr, Selbstmitleid oder aggressives Verhalten“. In dem „MSD Manual für medizinische Fachkreise“ heißt es zu diesem Persönlichkeitstypus: „Die Expression von Emotionen kann flach (zu schnell ein- und ausgeschaltet) und übertrieben sein. Sie sprechen dramatisch, drücken ihre Meinung vehement aus, aber mit wenigen Fakten oder Details, um ihre Meinungen zu unterstützen.“

Ohne eine gewisse Extrovertiertheit und eine Neigung zu schauspielerischem Verhalten gelingt wahrscheinlich keine politische Karriere. Das histrionische Verhalten geht allerdings weit darüber hinaus. Falls jetzt, sollte jemand aus dem Kreis der Wohlmeinenden diesen Text lesen, der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit aufkommt: Selbstverständlich sind diese Feststellungen über einen sich immer stärker in Politik und Medien ausbreitenden Persönlichkeitstyp nicht frauenfeindlich. Sie sind auch nicht histrionikerfeindlich. Diesen Typus gab es vermutlich schon immer. Neu ist sein Vordringen in Parlamente, Redaktionen und an die Spitze von NGOs. Erst hier entfalten die ansonsten ziemlich harmlosen Histrioniker und verwandte Borderline-Erscheinungen eine toxische Wirkung.

Jede Gesellschaft ist auf ein Minimum von allgemeinverbildlichen Kommunikationsregeln angewiesen, um zu funktionieren. Wenn es im Öffentlichkeitsbetrieb nur noch auf Narrative, Identifikation und die Organisation einer sektenartigen Anhängerschaft ankommt, verschwindet das Politische irgendwann völlig, nämlich die Organisation von übergreifenden Interessen, die Bewältigung objektiv bestehender Probleme und die nötige Mindestverständigung unter verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. Wer eins und eins zusammenzählt, den kann der Aufstieg des histrionischen Postpolitikers nicht wundern. Twitter, Instagram, Youtube und tiktok wirken auf diesen Phänotyp wie Crystal Meth auf Menschen mit ohnehin starker Suchtneigung.

Wenn dazu noch das Gieren von Spindoktoren und Medien nach dem nächsten jungen weiblichen Abgeordnetenstar kommt, wenn Scouts systematisch die medialen Kanälen nach neuen aussichtsreichen Kandidatinnen absuchen, dann läuft der Prozess praktisch von selbst. Aus der Perspektive der Parteioberen sollen die jungen gecasteten Politikerinnen eine ähnliche Funktion übernehmen wie Influencerinnen für Unternehmen. Und ähnlich wie auf diesem Gebiet müssten sie allmählich merken, dass dieses Verhältnis auch schnell kippen kann. Plötzlich hängt das Produkt an der Influencerin. Mit ihr kann es auch schnell untergehen.

Eine Emilia Fester soll der Partei Aufmerksamkeit verschaffen. Aber eigentlich handelt es sich bei Fester nicht mehr um ein klassisches Grünen-Mitglied, sondern um die Gründerin und Vorsitzende einer Mikropartei namens „Emilia Fester“, die aus rein praktischen Gründen bei den Grünen andockt, aber aufmerksamkeitsökonomisch vor allem auf eigene Rechnung wirtschaftet.

Den kurzzeitigen Aufmerksamkeitsgewinn bezahlen die Parteichefs mit einer mittelfristigen Totalzerstörung der öffentlichen Kommunikation. Auch ein Robert Habeck ist darauf angewiesen, dass es auf der politischen Bühne noch um politische Begriffe geht, und dass noch ein Mindestmaß an öffentlicher Kommunikation übrigbleibt. Zumal in einer Zeit, in der die Probleme gerade zunehmen, die sich nicht durch Sprechakte und Narrative bewältigen lassen.

In einem völlig postpolitischen Raum kann auch kein Habeck mehr existieren. Das ist kein ironischer, kein hämischer und kein vergifteter, sondern ein ganz ernst gemeinter guter Rat.

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