Ein Erfolg ist den beiden Aufrufen gegen Cancel Culture nicht mehr zu nehmen: Die Reaktionen darauf demonstrieren, gewollt oder nicht, was weite Teile der modernen Linken von Diskursfreiheit halten. Gegen den Aufruf von 153 links- bis rechtsliberalen Intellektuellen in Harper’s und einen ähnlichen Appell im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile eine Reihe von Abwehrschriften.
Deren Autoren versuchen dreierlei: Zu beweisen, dass Cancel Culture erstens überhaupt nicht existiert, zweitens völlig zu recht existiert und drittens eigentlich von rechts kommt. Es weiß die eine linke Hand offenbar nicht so recht, was die andere tut. Kurzum: die Betreffenden stehen bis zum Hals in Narrativen. Es ist interessant, die Narrativschöpfer weniger als individuelle Erscheinungen zu nehmen, sondern als Symptome. Dabei entsteht eine Aufnahme, als würde man die westlichen Identitätslinken in einen Kernspintomographen schieben.
In Deutschland spricht es sich langsam herum, was Cancel Culture bedeutet. Nämlich eine kultische Handlung zum Ausschluss des Falschen, Bösen, Gemeinen und Schmutzigen, die, wenn sie nur konsequent durchgeführt wird, zu einer richtigen und reinen Welt führt. Die „abschließende Formel“ (Roland Barthes) dazu schrieb vor Jahr und Tag, als noch niemand Cancel Culture buchstabierte, niemand anderes als Erich Fried mit „Die Maßnahmen“, genauer, mit den brauchbaren letzten Versen darin:
„Die Feinde werden geschlachtet,
die Welt wird freundlich.
Die Bösen werden geschlachtet,
die Welt wird gut.“
Bekanntlich wurde seit 1789 öfter nach diesen Rezept verfahren, besonders häufig im zwanzigsten Jahrhundert. Bei dem, was heute unter Cancel Culture in den USA und Europa debattiert wird, handelt es sich um bemerkenswert starke Spätausläufer dieser Zeit. Diese Spätausläufer erzwingen es es beispielsweise, dass die Umfragefirma Civis in den USA ihren führende Datenanalysten David Shor feuerte, weil er die Studie eines (farbigen) Princeton-Wissenschaftlers weitergetwittert hatte, die zeigt, dass friedliche Proteste den Demokraten in den USA bei Wahlen eher genutzt, gewalttätige Ausschreitungen aber geschadet hatten (Herauswurfgrund: sehr, sehr indirekte Kritik an Black Lives Matter); die führen zu der Beurlaubung eines Professors an der University Of Southern California, der unter Verdacht steht, ein chinesisches Füllwort verwendet zu haben, das für die Ohren von englischsprachigen Studenten entfernt an das englische N-Wort erinnert (Suspendierungsgrund: in der Identitätspolitik ist nie etwas harmloses). Die Säuberungspraxis verlangt in Leipzig den Ausschluss des Malers Axel Krauses aus einer Ausstellung, zu der er schon eingeladen war (Ausschlussgrund: Krause hatte sich gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung geäußert). Für das Gutwerden der Welt musste bekanntlich auch der Chef der hessischen Filmförderung Hans Joachim Mendig gehen (Grund: ein Mittagessen mit dem AfD-Vorsitzenden, grundsätzliches Motiv: bestrafe einen, erziehe den ganzen Kulturbereich).
Den Appell im Magazin Harper’s unterstützen unter anderem die Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling, Autor des New Yorker Malcom Gladwell und die liberalkonservative Autorin Bari Weiss, die gerade aus der New York Times hinausgedrängt worden war. Der schweizerisch-deutsch-österreichischer Aufruf startete einige Wochen später medienlos aus der neuen Plattform „Intellectual Deep Web Europe“ (IDE).
Mehrere deutsche Qualitätsmedien berichteten über den Aufruf in Harper’s. Die ZEIT bemüht sich dabei um die Beweisführung, dass es sich bei der Cancel Culture, die im englischsprachigen Raum reihenweise Linksliberale wie Shor trifft, um eine reine Schimäre handelt. Dabei entgleisen dem Autor – Robin Detje sein Name – nicht nur ein paar Fakten, sondern auch hin und wieder die Folgerichtigkeit im Satz:
„Als in den Siebzigern linke Terroristen Politiker entführen und ermorden, fällt dem Staat die Verfolgung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst leicht. Heute muss die Linke die Behörden zum Jagen tragen, damit die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei, aus deren Umfeld Politiker ermordet werden, überhaupt diskutiert wird. Eine Todesliste nach der anderen taucht auf – ohne dass sich Brigaden von Personenschützern vor die Bedrohten werfen.“
Die Partei, deren Verfassungsfeindlichkeit leitartikelauf und heutejournalab und zusätzlich vom Verfassungsschutz und im Bundestag seit mindestens fünf Jahren debattiert wird, soll bei Detjen offenbar die AfD sein. Im Dunkeln bleibt nur, welche Politiker aus dem AfD-Umfeld bisher ermordet wurden, und warum das nach Ansicht des Autors ausgerechnet gegen diese Partei sprechen soll. Er meinte beim affektiven und später offenbar nicht redigierten Tippen: die Mörder irgendwelcher Politiker im ausdrücklichen Plural kämen aus dem Umfeld der nichtgenannten Partei. In jüngerer Zeit wurde in Deutschland nur ein Politiker ermordet, der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke. Dessen mutmaßlicher, noch nicht verurteilter Mörder hat wiederum organisatorisch weder etwas mit der AfD noch deren Umfeld zu schaffen, falls mit Umfeld nicht einfach die Bundesrepublik in toto gemeint ist, aber dann würden Detje und die ZEIT auch dazugehören. Was Todeslisten im Plural betrifft – die tauchen medial in der Tat auf und dann als sogar behördlich dementierte Enten wieder unter.
Was Detjes Vergleich mit der RAF-Bekämpfung in den Siebzigern angeht: Wie seinerzeit praktisch jeder links von Alfred Dregger als terroristische Hinterperson und Drahtzieher gebrandmarkt wurde, linke Organisationen nur unter äußersten Verrenkungen Veranstaltungsräume bekamen und eine große Zeitung fragte: „darf man Heinrich Böll verlegen?“ – daran erinnert sich hoffentlich noch jeder, der nicht dabei war. Der ZEIT-Autor argumentiert mit einer Notlage, die kein Innehalten und keinen Selbstzweifel erlaubt: In den USA herrscht Trump seiner Ansicht nach als Diktator, der „ein Gesetz nach dem anderen“ bricht, Deutschland ist das Land der politischen Morde, das Vierte Reich steht unmittelbar bevor. In die Einheitsfront gegen das Unheil hat sich folglich jeder einzureihen, statt Methodenkritik zu üben. Zumal, siehe oben, Cancel Culture ja eigentlich überhaupt nicht existiert, denn wenn eine Firma wie Civis David Shor feuert, dann tut sie das natürlich ohne Druck von außen:
„Das Problem der 153 Intellektuellen aber ist die ‚illiberale Linke’, die offenbar Unternehmen zur Entlassung verdienter Mitarbeiter zwingt, nur weil sie ihre Meinung äußern. Wie zwingt sie diese Unternehmen genau? Mit Gewalt? Mit Chemtrails? Haben diese Unternehmen keinen eigenen Willen, kein eigenes Herz?“
Im nächsten Absatz lässt Detje immerhin die Möglichkeit zu, dass es in diesem und vielen anderen Fällen doch ein bisschen Druck gab, was er aber ganz in Ordnung findet:
„Sind in den USA Menschen zu Unrecht entlassen worden, weil sie gegen ‚linke Sprachregelungen’ verstoßen haben? Vielleicht. Das muss man mit den einzelnen Unternehmen ausmachen. Es gibt keinen Kampf für Gerechtigkeit, der jeden Augenblick gerecht ausgefochten wird.“
Mit dieser Argumentationskette wurde von den Gulags und dem Holodomor in der Ukraine bis zu Bautzen und den Selbstschussanlagen an der Mauer der stets notwenige Teil jeder linken Weltumformung begründet: Wo gehobelt wird, fallen eben Späne, im Kampf um die bessere Welt geht es nicht immer friedlich zu, es müssen die Bösen geschlachtet werden, um die Welt zu retten. Das, was Erich Fried noch als Persiflage schrieb, nimmt Detje als Programm. Wie die Entlassung von Leuten, die sich einen aus Sicht der Guten nicht hundertprozentig korrekten Tweet erlaubt haben, zu mehr Gerechtigkeit beiträgt, wird gar nicht weiter erörtert. Die Frage, in welchem Maß die Mauer und Bautzen bei der Weltverschönerung halfen, stellte sich ja auch kein guter SED- beziehungsweise DKP-Genosse. Wer die nichtexistente Cancel Culture also kritisiert wie die 153 Intellektuellen in Harper’s, der stellt sich nach Detje automatisch auf die Seite der Ungerechtigkeit.
Verlassen wir nun die lange Argumentationskette, die von der Lubjanka bis in die ZEIT-Redaktion reicht, und wenden uns der idealtypischen Reaktion auf den deutschsprachigen Aufruf zu. In der „Süddeutschen“ fragt der damit beauftragte Redakteur:
„Unter deutschsprachigen Künstlern und Intellektuellen kursiert ein offener Brief und fordert zum Unterzeichnen auf. Was, und vor allem: wer verbirgt sich hinter dem obskuren ‚Appell für freie Debattenräume’?“
Erstens kursiert der Aufruf nicht, sondern steht ziemlich fest auf einer Internetseite, zweitens handelt es sich nicht um einen offenen Brief, er wendet sich also nicht fiktiv an einen Adressaten. Und drittens verbirgt sich niemand dahinter. Die Namen der Initiatoren und Erstunterzeichner stehen unter dem Text. Aber etwas, das kursiert, und hinter dem sich Leute verbergen, das passt lückenlos zu dem Urteil obskur, das der Autor schon ganz am Anfang seines Artikels fertiggebastelt hat. Obskur bedeutet bekanntlich dunkel und laut Duden „fragwürdig, anrüchig, zweifelhaft“. Nach diesem Framing, ohne das Qualitätsmedien über kein Ereignis außerhalb des Redakteursmilieus mehr berichten, wirft der Schreiber der „Süddeutschen“ den Appell-Autoren „alarmistische Theatralik“ vor.
Offenbar handelt es sich um eine Art kulturelle Aneignung, denn alarmistische Theatralik ist nach Ansicht des Redakteurs vermutlich nur erlaubt, wenn eine Stadt den Klimanotstand ausruft, demonstrierende Aktivisten sich Deutschland als rassistischen Polizeistaat zusammenreimen oder Medien einem Sturm auf den Reichstag erfinden. Für „Süddeutsche“ gibt es natürlich – wie in dem ZEIT-Artikel – keine Cancel Culture weit und breit. Wenn ein Hamburger Veranstalter die Kabarettistin Lisa Eckardt erst ein- und dann nach vagen Gewaltankündigungen wieder auslädt, wenn ein Dresdner Verein erst eine Lesung von Uwe Tellkamp in ihr Programm aufnimmt und dann mit Hinweis auf seine Satzung im letzten Moment wieder absagt, dann geschieht das auch laut Prantls Blatt für die bessermeinenden Stände zufolge ohne den geringsten Druck, „weil es natürlich zur Freiheit der Veranstalter gehört, ihre Programme so zu gestalten, wie es ihnen beliebt“.
Überhaupt, findet die „Süddeutsche“, handele es sich um „ganz unterschiedlichen Gemengelagen“ – im Gegensatz zu selten beobachteten homogenen Gemengelagen – „die sich nur schwer in eine kulturelle Gesamtentwicklung einordnen lassen“.
‚Kulturelle Gesamtentwicklung’ – wer diese und andere Wendungen zuletzt bei Kurt Hager gelesen zu haben glaubt, liegt ganz richtig.
Der Appell erwähnt am Rande auch noch die Manipulation der Bestseller-Liste des SPIEGEL vor drei Jahren, als das Magazin das Buch von Rolf Peter Sieferle „Finis Germania“ aus seiner Bestseller-Liste tilgte, obwohl es nach den Verkaufszahlen dort hineingehörte. Damals war der Vorgang – eine Bestsellerliste ist schließlich eine Dokumentation, kein Meinungsbeitrag – in der „Süddeutschen“ sogar mit leicht kritischem Unterton berichtet worden. Im Jahr 2020, in dem sich alle zum Weltgutmachungskampf einreihen müssen, geht das selbstredend nicht mehr. Heute schreibt die „Süddeutsche“: „Der Spiegel hatte sich 2017 geweigert, Rolf Peter Sieferles völkisch-rassistisches Buch ‚Finis Germania’, das im rechtsradikalen Antaios-Verlag erschienen war, in seine Bestsellerliste aufzunehmen. Möchten die Initiatoren des ‚Appells’ das Recht des Spiegel beschneiden, solchen Büchern nicht die eigene Plattform zur Verfügung zu stellen? Welche Behörde sollte das überwachen?“
Zur Signatur des links-rechtschaffenen Schreibens der Gegenwart gehört übrigens das Dummstellen, vorgeführt von Leuten, die schon unverstellt nicht zu den Hellsten gehören.
Der Appell gegen Cancel Culture wendet sich an keine Behörde. Sondern er stellt der gesamten Gesellschaft die Frage, ob sie tatsächlich in Zuständen leben möchte, in denen kleine Gruppen mit erpresserischen Methoden bestimmen, was öffentlich stattfinden kann, in der Angestellte im Zuge von reinen Machtdemonstrationen gefeuert werden können und das Buch eines bestimmten Autors auch dann nicht in eine Bestsellerliste kommt, wenn es sich gut verkauft. Der Aufruf stellt also die Frage, und er ermuntert diejenigen, die das nicht wollen, zu unterschreiben.
Vielleicht ist es einfach so, dass ein Kulturgesamtentwicklungswart der „Süddeutschen“ nur in Kategorien wie Behörde, kontrollieren und Recht beschneiden denken kann. Möglicherweise hält er die Initiatoren des Appells einfach für spiegelverkehrte Linke. Das würde eine Menge erklären. Natürlich ist es das gute Recht der SPIEGEL-Chefredaktion, seinen Lesern ein streng kuratiertes Bild von Deutschland und der Welt vorzusetzen, in der Donald Trump seit vier Jahren kurz vor dem Ende steht und die AfD in Deutschland knapp vor dem Endsieg. Auch die Erbauungsgeschichten von Claas Relotius verstießen gegen kein Gesetz. In Deutschland ist zwar der Vertrieb von Gammelfleisch strafbar, nicht aber diese Sorte Journalismus. In dieser Hinsicht müssen sich weder in Hamburg noch München Redakteure Sorgen machen.
Die tatsächliche Sorge der „Süddeutschen“ gilt dem einen oder anderen Appell-Unterzeichner. Zwar behauptet ihr Redakteur, die Urheber des Appells seien „bekannte Köpfe der rechtskonservativen Infosphäre“, staunt dann aber darüber, „wer sich unter den Erstunterzeichnern findet: Neben einigen der üblichen Empörten über den angeblichen linken Tugendterror – etwa der Schriftstellerin Monika Maron oder Boris Palmer, dem grünen Oberbürgermeister von Tübingen – stehen dort auch Autoren, denen hätte auffallen können, dass die Meinungsfreiheit hier nicht ganz interesselos verteidigt wird: der Schriftsteller Ilija Trojanow etwa. Oder der Soziologe Hartmut Esser, der am Telefon zurückfragt, worauf die Frage, warum er unterzeichnet hat, denn abziele.“
Esser weist darauf hin, dass sich der Aufruf ja gerade gegen die inquisitorische Frage wendet, ob man mit Person X und Y auf einer Unterschriftenliste stehen wolle, also gegen das Konzept der ‚Kontaktschuld’. Was bei dem Anrufer der „Süddeutschen“ zu dem Kommentar führt, Esser und andere würden diese Art Kritik an dem Aufruf als Bestätigung ihrer „rechten Positionen“ sehen.
Die Unterzeichner des Harper’s- wie des deutschsprachigen Aufrufs verteidigen die Meinungsfreiheit tatsächlich nicht interesselos. Sie sind im Gegenteil sehr und sogar eigennützig an Meinungsfreiheit interessiert. Der Autor des „Süddeutsche“-Artikels deutet kurz an, dass er versucht hatte, mit seelsorgerischen Gesprächen und Mails Unterzeichner zum Rückzug ihrer Unterschrift anzuregen, gibt aber zu Protokoll: „Die meisten Anfragen der SZ blieben indes unbeantwortet.“
Münchner, die regelmäßig Werbepost aus ihrem Briefkasten fischen, wissen: Auch die meisten Anfragen beziehungsweise offenen Briefe der SüZ des Inhalts, ihre Ausgaben zu einem sensationellen Preis knapp über den Selbstkosten zu abonnieren, bleiben unerwidert, aber das nur nebenbei. Die Forderung nach offenen Debattenräumen für alle, die ja auch Kritik an Gesinnungsanklagen gegen Linke wie David Shor und Vertreter der Mitte wie Dieter Nuhr ausdrücklich einschließt, ist also – und diese Textstelle in der „Süddeutschen“ sollte sich jeder einrahmen – eine „rechte Position“. Das sagt mehr über linke Positionen dieser Sorte, als es der „Süddeutsche“-Redakteur möglicherweise überblickt.
Nach dem Artikel in dem Münchner Blatt stieg die Zahl der Unterschriften unter dem Appell deutlich an, sie liegt jetzt bei gut 15.000, darunter viele Angehörige des Kulturbetriebs. Und die unterzeichnen tatsächlich individuell, anders als bei dem wohlmeinenden „Erklärung der Vielen“, die 2018 nur die Leiter etlicher staatlicher Kulturinstitutionen ungefragt im Namen der Ensemblemitarbeiter unterschrieben, etwa der Geschäftsführer der Semperoper für das Orchester, dessen Mitglieder noch nicht einmal darüber informiert worden waren.
Die leicht schlingernden Argumentationslinien lauten also: Cancel Culture existiert nicht; dort, wo Leute wegen eines falschen Tweets gefeuert oder Künstler wegen vager Gewaltgerüchte wieder ausgeladen werden, geschieht das ohne Druck. Und wenn doch ein bisschen Druck dabei war, dann war das Hobeln und Zerspanen eben nötig im Kampf des Guten gegen das Weltböse.
Wer sich dagegen ausspricht, vertritt „rechte Positionen“, auch wenn er ein Linksliberaler ist, der noch einen finalen Rettungsanruf von der „Süddeutschen“ erhält. Eigentlich wären das schon Narrative genug. Aber wer wirklich Haltung zeigen will, braucht noch eins: Nämlich die Beweisführung, dass es Cancel Culture doch gibt – nämlich von rechts. Um diese Engführung bemühte sich kürzlich bento, das letzte Kinderaufgebot des SPIEGEL.
Der Autor Marc Röhling ist kein ganz Unbekannter; 2018 verbreitete er bei bento die Gruselgeschichte, Israels Regierung rekrutiere „Kopfgeldjäger“ für die Verfolgung von Migranten. An der Geschichte stimmte nichts; Röhling redete sich anschließend damit heraus, jemand hätte ihm ein israelisches Regierungsdokument falsch übersetzt. Diese Vorgeschichte ist deshalb apart, weil Röhling in seinem Text über Cancel Culture der Kabarettistin Lisa Eckardt, ja, was wohl: Antisemitismus vorwirft und meint, ihre Buchlesung in Hamburg sei ganz zu Recht abgesagt worden: „’Cancel Culture’ ist das neueste Modewort aus der ‚Das wird man ja noch sagen dürfen’-Ecke. Es behauptet, in der – vornehmlich linksliberalen – Öffentlichkeit gäbe es eine Verbotskultur kritischen Denkens“, behauptet der Autor aus der „das wird man ja noch erfinden dürfen“-Ecke. Es gebe aber auch, so der Bentoschaffende, echte Cancel Culture: nämlich gegen ein so genanntes Satirevideo des öffentlich-rechtlichen Bentogegenstücks „funk“ , in dem zwei deutsche Polizisten einen Farbigen erschießen, weil sie ihn des Fahrraddiebstahls verdächtigen. Das öffentliche-rechtliche Höhö-Stück ist ungefähr so witzig wie eine taz-Kolumne über die Polizei.
Es gab auch die eine oder andere Kritik an dem gebührenfinanzierten Agitprop über schießwütige Rassisten in Uniform, unter anderem von NRW-Innenminister Herbert Reul. Genau das, so Röhling, sei die „wahre Cancel Culture“: „Der cancelte das Satirevideo als ‚unlustig’ und ‚menschenverachtend’ ab – und warnte ARD und ZDF, ihr Niveau zu überdenken.“ Ein!Minister!Findet!Ein ÖR-Video unlustig! Selbstredend blieb diese wahre Cancel Culture aus Reuls Mund praktisch völlig folgenlos, das Video wurde nicht gelöscht, niemand irgendwo ausgeladen oder gar gefeuert. Jeder weiß ja ungefähr, welche Sorgen sich öffentlich-rechtliche Mitarbeiter machen, wenn ein Landesminister ein Video schlecht findet.
Also auf zur finalen Synthese: Cancel Culture gibt es eigentlich nicht, wenn doch, dann muss sie dem Guten zuliebe sein – aber überall dort, wo einem Linken ein leichter Hauch von Kritik ins Gesicht fächelt, erhebt die CC dann doch ihr Schreckensgesicht, auch wenn keinem irgendetwas passiert. Gerhard Henschel meinte schon in den Neunzigern in seinem leider nur noch antiquarisch lieferbaren Buch „Die Linke und der Kitsch“, Linke seien zwar stets munter im Austeilen inklusive Bestrafungs- und Auslöschungswünschen, reagierten aber auf das leiseste Widerwort, „als säße ihnen nicht der Schalk im Nacken, sondern die Waffen-SS“.
Das bestätigt auch mehr oder weniger der bewährte Scharfdenker Sascha Lobo im Gespräch mit dem NDR. „Der Begriff „Cancel Culture“ ist auf dem Weg, ein rechter Kampfbegriff zu werden“, raunt Lobo. Mittlerweile übrigens auch Political Correctness als ‚rechter Kampfbegriff“ – wie praktisch jede ursprünglich von Linken geprägte Formel, die außerhalb des eigene Milieus nicht mit gebührender Begeisterung aufgenommen wird. Und auch für Lobo existiert neben dieser eigentlich nicht existierenden Cancel Culture, die nur als rechter Kampfbegriff kursiert, noch die echte rechte CC: „Tatsächlich gibt es von der liberalen, von der konservativen und von allen möglichen bürgerlichen Seiten schon lange Bestrebungen, bestimmte Dinge gesellschaftlich nicht zuzulassen.“ Was genau von allen möglichen bürgerlichen Seiten nicht zugelassen wird, bleibt in Lobos Dunkel. Die Rote Flora und ähnliche linksextremistische Zentren in Berlin, die Finanzierung von Linksextremisten über Universitäten und die Wahl einer verfassungsfeindlichen Verfassungsrichterin können es schon einmal nicht sein, denn die funktionieren bekanntermaßen reibungslos.
Dann folgt noch eine Einlassung, die in eine interessante psychologische Region führt. „Es gibt eine ganze Reihe von Leuten“, so Lobo, „mit denen würde ich mich niemals auf eine Bühne stellen, und das ist nicht der Untergang der Welt und auch nicht die große Bedrohung durch ‚Cancel Culture’.“ Was freilich auch niemand behauptet. Klagen über das Nichtdazustellen Sascha Lobos sind in Deutschland bisher nicht besonders laut geworden. Aber in irgendwelchen Tiefenschichten scheinen er und andere tatsächlich zu glauben, es ginge bei der Bewegung für offene Debatten und gegen Cancel Culture doch um Zwang, Kontrolle und Behörde.
Deshalb übernimmt der Autor dieses Textes jetzt die Rollen von Genscher und Schabowski gleichzeitig und erklärt:
Ich bin heute zu Ihnen zu kommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre freie Auswahl … (Jubel, unverständlich). Das gilt meines Wissens sofort, unverzüglich. Niemand muss einem Programm von Lisa Eckardt oder Dieter Nuhr zusehen oder den nächsten Roman von Uwe Tellkamp lesen, so, wie niemand auf einer Bühne mit Sascha Lobo stehen, Jan Böhmermann lustig finden und den Spiegel kaufen muss. Aber jeder kann das tun, und er hat vor allem das verdammte Recht, dabei nicht belästigt zu werden.
Um den großen amerikanischen Juristen Louis Brandeis zu zitieren: Privacy ist the right to let be alone. Privatheit (und das bedeutet, im weitesten Sinn Freiheit) ist das Recht, von Gouvernanten aller Art in Ruhe gelassen zu werden. Das nähere, ferne und überhaupt alles dazu regelt das Gesetz und sonst nichts und niemand. Diesen Gesellschaftsvertrag kann die Linke sofort unterschreiben. Einen günstigeren kriegt sie nie. Er enthält sogar folgende benevolente Zusatzklausel: Um den asymmetrischen Schock bei Gouvernanten zu mildern, erhalten sie das Recht, Leuten innerhalb ihres Milieus auf den Wecker zu gehen, aber ausschließlich dort und am besten nur im innersten Kreis. „Es ist die eine Sache, die eigene Sprache zu kontrollieren, und eine völlig unterschiedliche, die Sprache anderer zu beaufsichtigen“, schrieb Gerard Alexander in seinem Essay in der New York Times, „Linke, ihr seid nicht nicht so klug, wie ihr denkt“.
Alexander kommt zu dem Schluss, dass Linke ein wesentlich größeres Talent dafür besitzen, andere abzustoßen, als sie zu überzeugen – und hält deshalb einen Wahlsieg Trumps 2020 für nicht unwahrscheinlich. Zurzeit sieht es so aus, als würde die stark vereinheitlichte Linke zwischen Seattle und Berlin darauf brennen, diesen Beweis für seine These immer und immer wieder zu liefern. Nicht nur, aber auch mit ihrer Tartuffiade, die eigene Druckausübung und Denunziation gleichzeitig zu leugnen, sie zu begründen und sie obendrein anderen anzudichten.
Louis Brandeis, Anwalt und später erster jüdischer Richter am Obersten Gericht, zählte seinerzeit übrigens zu den eher Linken. Er gehörte zu den Vorkämpfern der Antitrust-Gesetze, ihm ging es darum, wirtschaftliche Macht einzuhegen; gleichzeitig prägte er mit dem right to let be alone eine Machtbegrenzungsformel, auf die identitätspolitische Linke heute mit Tobsuchtanfällen reagieren. Als Juraprofessor an einer amerikanischen Universität wäre Brandeis heute ein Rauswurfkandidat oder schon entfernt, in der ZEIT und anderswo würde wahrscheinlich begründet, warum das dem Kampf für die gerechtere Gesellschaft dient.
Es ist Zeit, Brandeis wieder zu lesen.