Tichys Einblick
Der Mythos verblasst

Heinsohns Kriegsindex und die 68er

Die zwischen 1941 und 1948 Geborenen waren der letzte Geburtenüberschuss in Mittelwesteuropa. Ihr Gewaltpotential entlud sich in den 68ern, nicht lange, doch die Spätfolgen bei ihren Epigonen viel zu lange.

© Sean Gallup/Getty Images

„Heute können wir zwischen der Gewaltbereitschaft, die sich in Rebellionen und Revolten äussert, und dem Anteil junger Männer an der Gesamtbevölkerung einen Zusammenhang herstellen.“ Schrieb Gunnar Heinsohn am 18. März in der NZZ am Sonntag. Sein bekannter Kriegsindex „misst die Relation zwischen 55- und 59-jährigen Männern, die sich auf die Rente vorbereiten, und 15- bis 19-jährigen Jünglingen, die den Lebenskampf aufnehmen und für sich gesellschaftliche Positionen anstreben.“ Deutschlands Kriegsindex von heute: 0,66 ist somit ein Friedensindex. 1.000 alten folgen 666 junge Männer. Im Gazastreifen oder Afghanistan kommen auf 1.000 alte mehr als 6.000 junge Männer.

Heinsohn erinnert: Von 1800 bis 1914 springt Europa von 180 auf 480 Millionen Einwohner, der Kriegsindex liegt bei 3 bis 5. Vielen junge Männer ohne Perspektive suchen einen Ausweg „in Heroismus durch Heldentod oder Sieg“. Die Toten beim Siegen, Kolonisieren und durch Seuchen gleichen Geburten zwischen 4 und 8 Kindern pro Frau aus. Zwischen 1914 und 1945 sinken Europas Geburtszahlen bis auf heute durchschnittlich 1,5 Kinder pro Frau, „während das Durchschnittsalter seiner Bevölkerung von 20 auf 42 Jahre steigt, der Kriegsindex unter 1 sinkt …“.

„Nur einmal noch“, so Heinsohn, „reicht es zu einer – zwar nicht kriegerischen, aber doch gewaltsamen – Bewegung, deren Träger auch demografisch als 68er bezeichnet werden können … Die 1948 Geborenen werden zu den demonstrierenden Studenten von 1968. Nach 1985, als die letzten starken Jahrgänge erwachsen sind, klingt der Rausch der Revolte ab.“

Heinsohn: „Der Kriegsindex der Babyboomer wächst in Deutschland von 1,63 (1955) auf 2,43 im Jahr 1975, um bis heute auf 0,65 zu sinken. In Italien steigt er von 1,34 (1970) auf 1,93 (1975; heute 0,70).“

Die „Waffenlust der 68er (blieb) allerdings gebremst. Es muss ja auch niemand mit vier bis acht Gleichaltrigen um einen Posten kämpfen.“ Ich erinnere mich gut, nach dem Studium 1966 konnten wir uns die Jobs aussuchen für 1.000 DM Anfangsgehalt, eine für mich damals unfassbar große Summe. Der Wiederaufbau nach 1945 und das schnelle Wachstum konnte allen Lohn und Brot bieten. Wir blieben vom Schicksal der 1,7 Milliarden Menschen in den derzeit 81 Staaten mit Kriegsindex-Werten zwischen 2,5 und 8 verschont. Dem Kampf um viel zu wenig Chancen.

Die 68er halfen gleichzeitig, die Demografie dauerhaft zu ändern, richtet Heinsohn den Blick auf die sexuelle Revolution – in ihrem Gefolge die Geburtenkontrolle durch die Pille, aber auch die berufliche Karriere mit Kinderlosigkeit als Wettbewerbsvorteil. Heinsohn: „Beliebt wird 1968 der Slogan make love, not war. Heraus kommt make love, not babies. Im Ergebnis nützt auch das dem Frieden.“

Maßlose Selbstüberschätzung

Der bisher letzte Geburtenüberschuss in Westeuropa als Auslöser der 68er-Revolte, keine übliche Sicht, damit richtete Gunnar Heinsohn meine Erinnerung auf ein Buch von Götz Aly aus dem Jahr 2007: „Unser Kampf 1968 – ein irritierender Blick zurück“. Die damals zum Jubiläum von 1968 erschienene Streitschrift ist einen eigenen Beitrag wert. Vielleicht findet das Buch im Jahr 2018, 50 Jahre nach 1968, da sich nun der vergebliche Kampf der Epigonen der 68er um die Deutungsmacht immer sichtbarer seinem Ende zuneigt, eine breitere Aufmerksamkeit. Verdient hätte es das.

Götz Aly sagt nicht weniger in seiner kenntnisreichen Analyse als: Der Mythos ’68 löst sich bei genauer Betrachtung in sich selbst auf. Alles, was den sogenannten 68ern bei aller sonstigen Kritik als Modernisierungsbeitrag zuerkannt wird, hatten Reformer zu Beginn der 1960er in Gang gesetzt. Nicht einmal die sexuelle Revolution haben die zwischen 1941 und 1948 geborenen 68er gestartet, sondern der Filmemacher Oswald Kolle, Jahrgang 1928. Die vor allem von jungen Professoren von Dahrendorf bis Krockow Jahre vor 1967 propagierten Reformen, hat die SPD-FDP-Koalition teilweise verwirklicht. Götz Aly, selbst ein 68er, der im Hotspot Westberlin dabei war, konstatiert: „Die Revoltierenden wurden zu Nutznießern, nicht zu Schöpfern des reformerischen Zeitgeistes.“

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