Tichys Einblick
Bad Kleinen 1993 und das "Spiegel"-Desaster

Hans Leyendecker bleibt sein eigener Zeuge

Der "Spiegel" versuchte, eines der größten journalistischen Desaster aufzuklären: Seine Geschichte zum vermeintlichen Mord in Bad Kleinen 1993. Die Recherche führt zur Demontage der Reporterlegende Hans Leyendecker. Es bleiben Fragen: Vor allem nach der Rolle einer Linkspartei-Politikerin.

Hans Leyendecker

imago images / epd

Am 27. Juni 1993, einem Sonntag, fand auf dem Bahnhof von Bad Kleinen einer der größten Polizeiaktionen in der Geschichte der Bundesrepublik statt, die „Operation Weinlese“. Der Verfassungsschutz-V-Mann Klaus Steinmetz hatte die Fahnder an die Kommandoebene der RAF herangeführt. Jetzt wollten sie zugreifen. Die Aktion endete mit der Festnahme des RAF-Mitglieds Birgit Hogefeld und dem Tod zweier Männer: des RAF-Terroristen Wolfgang Grams und des GSG-9-Polizeibeamten Michael Newrzella.

Acht Tage später erschien der Spiegel mit einer Titelgeschichte des Redakteurs Hans Leyendecker, die unter der Überschrift „Tötung wie eine Exekution“ und gestützt auf einen angeblichen Augenzeugen behauptete, Grams sei mit einem „Todesschuß“ von einem GSG-Beamten gezielt hingerichtet worden. Die Wirkung von Leyendeckers Geschichte war ungeheuer: Die GSG 9 stand als verschworene Killertruppe da, Innenminister Rudolf Seiters trat zurück, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl verlor seinen Posten.

Dass die Geschichte in ihrem Kern nicht stimmte, dass der vermeintliche Zeuge nachweislich in vielen Punkten gelogen hatte – das sagte Leyendecker in den vergangenen Jahren sehr oft. Bei einem Vortrag auf dem Treffen des „Netzwerks Recherche“ in Köln nannte er seine „Todesschuss“-Titelgeschichte „den größten Fehler meines Lebens“. Im Jahr 2019 hatte eine Kommission aus Spiegel-Mitarbeitern begonnen, die Rolle des Nachrichtenmagazins in der Affäre um Bad Kleinen und die Folgen aufzuklären. Angeregt hatte die Spurensuche Alexander von Stahl; sie gehörte gewissermaßen zur großen Revision nach dem Relotius-Skandal.

Die Geschichte um Bad Kleinen und den Spiegel ist auch heute noch hochinteressant. Zum einen als tiefer Blick in die Funktionsweise von Medien. Und zweitens, weil das damalige Muster öfter wiederkehrte: Etwa in der angeblichen Serie von Bundeswehrskandalen, die Ursula von der Leyen ausmachte – und von denen sehr wenig übrig blieb. Oder der vermeintlichen Chatgruppe von Hitler-Verehrern in der Polizei von Nordrhein-Westfalen, die medial und politisch heftig befeuert wurde. Und schließlich implodierte.

Am 29. Oktober 2020 veröffentlichte der Spiegel ein umfangreiches Dossier über seine damalige Titelgeschichte und die Rolle Hans Leyendeckers, das die Ergebnisse eines langen und gründlichen Versuchs zusammenfasst, die hausinternen Ereignisse von 1993 aufzuklären, soweit das nach 27 Jahren und angesichts des sehr unterschiedlichen Aufklärungswillen der Beteiligten möglich war. 

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Als der Spiegel seine Untersuchung 2019 ankündigte, hatte ich länger mit Hans Leyendecker gesprochen. Ich gehörte auch zu den Teilnehmern der „Netzwerk Recherche“-Tagung 2014, in der er, damals eine der größten Autoritäten des investigativen Journalismus, ausführlich über seine Sicht der Bad-Kleinen-Geschichte und seine Fehler sprach. Außerdem hatte ich ein Gespräch mit einem hohen Polizeibeamten geführt, der zu der Arbeitsgruppe gehörte, die den Einsatz von Bad Kleinen im nachhinein untersuchte, und auch mit einem Beamten, der an der Operation teilgenommen hatte. Und schließlich fragte ich auch die frühere GAL-Politikerin und heutige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke nach ihrer Rolle während der Ereignisse von 1993. Um es vorwegzunehmen: Das Spiegel-Dossier erwähnt Jelpke einmal ganz kurz und beiläufig. Welchen Einfluss sie damals möglicherweise auf eine der größten Desinformationsgeschichten der deutschen Medienlandschaft genommen hatte, bleibt bis heute weitgehend unausgeleuchtet. Und merkwürdigerweise scheint es bis heute kaum ein Interesse an der Beteiligung der Politikerin an der auch heute bestenfalls halb aufgeklärten Affäre zu geben. 

In dem Gespräch, einem langen Telefonat, sagte Hans Leyendecker einen Satz, den er auch vorher schon oft gebraucht hatte: „In dieser Geschichte ist nur eins gelungen – nämlich, die Quelle zu schützen.“ 

Darauf wird der Text noch einmal zurückkommen, denn seine Aussage schließt zweierlei ein. Erstens, dass er es mit einer Quelle zu tun hatte. Und zweitens, dass er ihre Identität kannte. 

Ihm sei eine „fatale Fehleinschätzung einer Person“ unterlaufen, nämlich dieser Quelle, so Leyendecker. Es sei offensichtlich, dass zentrale Aussagen des Mannes zu den Vorgängen auf dem Bahnhof in Bad Kleinen nicht gestimmt hätten. 

„Haben Sie ihn später noch einmal gesprochen und damit konfrontiert?“

„Das“, sagt Leyendecker, „ist eine Quellenfrage.“ Also eine Frage, die er zum Schutz der Quelle nicht beantworten werde. Warum diese Frage beziehungsweise eine Antwort den Quellenschutz tangieren sollte, wird nicht ganz klar. Das gilt für vieles andere auch. Andere Fragen beantwortet er. Auf der Tagung des Netzwerks Recherche 2014 hatte er zwar fast 40 Minuten lang die Vorgänge in der Spiegel-Redaktion in jenen Junitagen des Jahres 1993 aus seiner Sicht geschildert, aber eines offen gelassen: ob er denjenigen, den er als seine Quelle bezeichnet, tatsächlich getroffen habe, oder ob es sich nur um ein Telefonkontakt handelte. In dem Gespräch sagt er: „Natürlich habe ich ihn getroffen.“ Und auch überprüft, ob er tatsächlich in Bad Kleinen dabei gewesen war? „Sicherlich habe ich das überprüft.“ Wie genau, will er nicht sagen. Die Frage, ob ihn damals ein Kollege des Spiegel zu dem Treffen mit dem Informanten begleitet habe, das am Dienstag, den 29. Juni 1993 stattgefunden haben soll, will er wiederum nicht beantworten: „Auch das ist eine Quellenfrage.“ 

Allerdings sei der Kontaktmann, der ihm das Treffen mit dem Zeugen vermittelt habe, dabeigewesen. 

Das ist umso bemerkenswerter, da Leyendecker in den Tagesthemen am Samstag, den 3. Juli1993, kurz vor dem Erscheinen der Spiegel-Ausgabe zu Bad Kleinen auf eine entsprechende Frage von Ulrich Wickert betonte, das Magazin habe ein „Team“ gebildet: „Wir sind möglichen Widersprüchen nachgegangen. Wir haben uns um Details gekümmert. Wir sind darauf gestoßen, dass er sehr früh Dinge sagte, die er eigentlich nur dann wissen konnte, wenn er unmittelbar mit dieser Geschichte zu tun hatte.“ 

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In seiner internen Untersuchung 26 beziehungsweise 27 Jahre später förderte der Spiegel jedenfalls niemand zutage, der das Treffen Leyendeckers mit der Quelle bezeugen könnte. Es existiert auch keine Tonbandaufzeichnung von der laut Leyendecker entscheidenden Begegnung, auf die sich eine ganze Titelgeschichte mit weitreichenden politischen Folgen stützen sollte. Leyendecker gab mehrmals an – auch in der internen Untersuchung – er habe das Gespräch mit dem angeblichen Zeugen von Bad Kleinen nach dem Treffen bei einem Gang auf die Toilette in Notizen festgehalten, und sich dabei auf sein Gedächtnis gestützt. Innerhalb der Redaktion habe er zunächst nur einen einzigen über dieses entscheidende Treffen informiert: Chefredakteur Hans Werner Kilz. 

Nach dem Vortrag Leyendeckers 2014 in Köln hatte ich einen damals schon pensionierten Spiegel-Redakteur gefragt, ob Leyendecker seine Quelle damals getroffen oder nur telefonisch kontaktiert hatte. Er antwortet: „Nur telefoniert.“ 

Der Zweifel an Leyendeckers Darstellung, er habe den Zeugen für den Todesschuss auf Grams getroffen, seinen Hintergrund abgeklopft, und es gebe sogar noch eine weitere Quelle – diesen Zweifel gab es bei etlichen Spiegel-Kollegen schon kurz nach der Titelgeschichte von 1993, auch bei dem damaligen Herausgeber Rudolf Augstein. Diese Zweifel führten bekanntlich zu Leyendeckers unfreiwilligem Abschied vom Nachrichtenmagazin und seinem Wechsel zur „Süddeutschen“ 1997. 

In einer Kernfrage legt Leyendecker sich in dem langen Telefonat fest: Die Titelgeschichte „Der Todesschuß“ sei ein Fehler gewesen, ihre wesentlichen Aussagen falsch. „Ich habe mich dafür bei Gott und der Welt entschuldigt.“ Aber: „Es war kein Betrug. Es war keine Fälschung.“

Die hausinterne Aufklärung des Spiegel

Das Dossier, in dem die Rechercheure die hausinterne Untersuchung der damaligen Spiegel-Titelgeschichte zusammenfassen, ist überaus gründlich und präzise. Der Wille, aufzuklären, was nach so langer Zeit aufgeklärt werden kann, zieht sich durch das gesamte Papier. Das Untersuchungsteam präpariert die wesentlichen Erkenntnisse beziehungsweise offenen Fragen heraus. Leyendecker zufolge hatte es also ein Treffen von ihm mit dem vorgeblichen Zeugen am 29. Juni gegeben, vermittelt von einem Hinweisgeber, den Leyendecker wiederum gut gekannt haben will. Für dieses Treffen existieren allerdings weder Zeugen noch Aufzeichnungen, die gesamte Darstellung stützt sich also auf Leyendeckers Aussage. Mit dem Zeugen will er sich nur einmal getroffen, aber später noch mehrmals telefoniert haben. Außerdem habe ihn am Abend des 1. Juli ein „Anonymus“ angerufen, der ebenfalls die Vorgänge in Bad Kleinen und vor allem die Exekution von Grams durch einen GSG 9-Mann geschildert habe. Dieser Anrufer, so beteuert Leyendecker bis heute, sei nicht identisch mit dem Zeugen gewesen, den er getroffen habe. Auf die Mitteilungen des anonymen Anrufers habe er auch seine Geschichte nicht gestützt, das Telefonat mit ihm sei nur ein zusätzlicher, aber eigentlich nicht wichtiger Aspekt in seiner Recherche gewesen. 

Es gibt nach den Recherchen des Spiegel-Teams nur ein einziges Dokument im Zusammenhang mit der Bad Kleinen-Geschichte: Das 63 Seiten umfassende Transkript dieses Telefonats, das Leyendecker mit dem anonymen Mann am 1. Juli 1993 gegen 19 Uhr in seinem Büro in Düsseldorf führte. 

„An der Echtheit dieses Transkripts und des Gesprächs hat die Kommission keine Zweifel“, schreibt das Spiegel-Rechercheteam, „sie ist auch von niemandem bestritten worden. Auch nicht von Leyendecker, dem die Kommission das Transkript auf dessen Bitte Mitte Februar 2020 zur Verfügung gestellt hat, da er kein eigenes Exemplar mehr besaß.“ 

An diesem Gespräch fallen drei Dinge auf. Erstens, dass Leyendecker während des gesamten Gesprächs weder nach dem Namen des Anrufers oder nach einer Kontaktmöglichkeit fragt – so, als hätte ihm jemand das Gespräch unter genau dieser Bedingung vermittelt, dass jemand reden, sich aber auf keinen Fall zu erkennen geben wollte. 

Zweitens stimmen wichtige Details in der Schilderung des Anrufers objektiv nicht. Er behauptet, gesehen zu haben, wie Birgit Hogefeld vor ihrer Festnahme schoss. Das stimmte nicht – die Terroristin ließ sich widerstandslos festnehmen. Interessanterweise lief die Falschmeldung, Hogefeld habe geschossen, damals einige Tage durch die Medien, ausgelöst durch eine fehlerhafte Behördenmitteilung. Der Anrufer baute also nicht nur eine falsche Information ein, sondern eine, die damals medial kursierte. Außerdem konnte niemand in den wenigen Sekunden der Polizeioperation – der Schusswechsel dauerte sechs Sekunden – gleichzeitig Hogefelds Festnahme in der Unterführung und den angeblichen Todesschuss auf  Grams auf Gleis 4 sehen. In seinem Gespräch verwendete der anonyme Anrufer viermal die Bezeichnung „Grenzschutzgruppe Bonn“ – eine Einheit, die es in Wirklichkeit nicht gab. Es ist kaum plausibel, dass jemand, der tatsächlich bei dem Einsatz dabei war und aus welchen Motiven auch immer einem Journalisten seine Erlebnisse schildert und sie möglicherweise mit einer falschen Beschuldigung – dem Mord an Grams – mischt, gleichzeitig falsche Angaben in wichtigen Einzelheiten macht. Die Fehler legen eher nahe: Der Anrufer war in Bad Kleinen nicht dabei. Schon am 29. Juni hatte die Bundesanwaltschaft mitgeteilt, Hogefeld habe nicht geschossen. 

Der merkwürdigste Umstand ist aber der dritte: Der Anonymus schildert zum einen  laut Leyendecker fast wortgleich den angeblichen Ablauf in Bad Kleinen, den ihm vorher der Zeuge bei dem Treffen erzählt haben soll. Außerdem stützen sich sämtliche Darstellungen der Polizeiaktion in der Spiegel-Titelgeschichte auf die Angaben des anonymen Anrufers, die durch das Transkript bis heute erhalten sind. Die gesamte Bad-Kleinen-Geschichte des Magazins ist in ihrem Kern ein Destillat dieses Telefongesprächs. 

„Vergleicht man das Transkript mit den Zitaten in der Spiegel-Titelgeschichte und der folgenden Berichterstattung, so fällt auf, dass fast alle Formulierungen übereinstimmen“, heißt es in dem Spiegel-Aufklärungsdossier. Und weiter: „Dass Leyendeckers Quelle und der Anonymus, laut Leyendecker zwei Personen, an so vielen Stellen ’fast wortwörtlich’ dasselbe gesagt hätten, ist schwer erklärbar. Eine zufällige Übereinstimmung ist nicht vorstellbar.“

Leyendecker erklärt das Phänomen damit, dass sein Zeuge und der Anonymus eben bei dem Einsatz beide dabeigewesen seien und auch miteinander gesprochen hätten. Dagegen spricht, dass Leyendecker in dem transkribierten Gespräch an keiner Stelle den Eindruck macht oder dem Anrufer gar andeutet, als kenne er die Geschichte schon. Im Gegenteil: als der namenlose Mann die angebliche Hinrichtung von Grams schildert, rief Leyendecker: „Das ist ja grauenvoll.“

Der Spiegel-Reporter müsste also ohne ersichtlichen Grund geschauspielert haben; die beiden – Zeugen und Anonymus – müssten sich nicht nur abgesprochen haben, ohne dass der Anrufer davon etwas andeutet. Und sie müssten in Bad Kleinen auch exakt an der gleichen Stelle gestanden haben, um die gleichen Szenen zu schildern – wobei zumindest der Anrufer von etwas  berichtete, das nie stattgefunden hatte, nämlich der schießenden Hogefeld. 

Es gibt nur eine einzige Person, die in den Befragungen durch die Spiegel-Rechercheure wenigstens vage die Version von Leyendecker bestätigt: der damalige Chefredakteur Hans Werner Kilz, der nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Cambrigde im Februar 1996 zur Süddeutschen Zeitung wechselte, reichlich ein Jahr, bevor auch Leyendecker 1997 vom Spiegel zur SZ ging. 

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„Hans Werner Kilz ist somit die einzige von der Kommission befragte Person, die Leyendeckers letzte Version bestätigte und die neben Leyendecker angeblich mit der Quelle gesprochen hat“, heißt es in dem Bericht der Spiegel-Kommission. „Die Frage, warum er die Titelgeschichte gedruckt habe, obwohl die Quelle eine von ihm erbetene eidesstattliche Erklärung nicht abgeben wollte, lässt der damalige Chefredakteur unbeantwortet; er schrieb der Kommission lediglich: ‚Der Zeuge, mit dem ich dann am Telefon gesprochen habe, wollte aus persönlichen Gründen dafür öffentlich nicht geradestehen. Dafür hatte ich wiederum Verständnis.’ Auch die Frage, warum Kilz 26 Jahrelang geschwiegen hat und sich erst jetzt, im Zuge der Ermittlungen der Kommission, entsprechend eingelassen hat, obwohl seine Erklärung, auch mit der Quelle gesprochen zu haben, Leyendecker stark entlastet hätte, lässt er offen.“

Die Spiegel-Kommission kommt nach Abwägung aller Argumente zu dem Schluss, „dass Leyendeckers Version mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die tatsächlichen Abläufe wiedergibt.“ Stimmt das, dann wäre Leyendeckers Beteuerung „weder Betrug noch Fälschung“ wieder eine Täuschung der Öffentlichkeit, dieses mal in der Gegenwart.

Es gibt neben anderen Details, in denen Leyendecker im Laufe der Zeit unterschiedliche Angaben zu der Affäre machte, eine, die sich wiederum mittelbar auf Kilz bezieht. Bei der Konferenz des Netzwerks Recherche 2014 sagte er zwar nicht in seinem Vortrag, aber in der anschließenden Diskussion auf die Frage, was denn seiner Meinung nach der richtige Umgang mit seinem Material zu Bad Kleinen gewesen wäre: „Wir hätten eine Geschichte dazu machen sollen, zwei, drei Seiten. Aber keine Titelgeschichte.“ Damit sah er einen guten Teil der Verantwortung bei der Chefredaktion. Denn schließlich war es 1993 nicht seine Entscheidung gewesen, das Thema – auch noch mit der Zuspitzung „Der Todesschuss“ – auf den Titel zu heben. 

In dem Gespräch mit mir sah Leyendecker das anders: „Wenn man alles summiert, dann ging das mit dem Titel. Dann kann man die Geschichte auch rechtfertigen.“

Die Rolle von Ulla Jelpke

Neben Leyendecker hatte 1993 noch jemand anderes einen Anruf unmittelbar nach der Polizeiaktion von Bad Kleinen bekommen: Die damals parteilose Bundestagsabgeordnete der PDS Ulla Jelpke. Nach ihren Angaben in einer Anfrage an die damalige Bundesregierung rief am 2. Juli 1993 ein anonymer Hinweisgeber an, der angab, an dem Einsatz beteiligt gewesen und Zeuge geworden zu sein, wie Grams auf dem Gleis liegend aus nächster Nähe erschossen worden sei, weil ein Beamter der GSG 9 „die Nerven verloren“ habe. Stimmt das Datum, dann wäre der Anruf einen Tag nach dem Telefonat zwischen dem Anonymus und Leyendecker bei der PDS-Bundestagsfraktion eingegangen. 

Einen Tag vorher hatte das ARD-Politmagazin Monitor vorab gemeldet, es habe die eidesstattliche Versicherung von Johanna Baron, der Kioskbetreiberin auf dem Bahnhof von Bad Kleinen, die darin erklärt, sie habe gesehen, wie ein GSG 9-Beamter den wehrlosen Wolfgang Grams mit einem Kopfschuss aus unmittelbarer Nähe liquidiert habe. Baron hatte schon vorher bei der Polizei ausgesagt: 

„Ich sah dann einen Mann auf das Gleis beim Bahnsteig 4 stürzen. Der Mann lag reglos auf dem Gleis. Später erfuhr ich dann, daß es der Wolfgang Grams war. Ich dachte schon, der Grams sei tot. Dann traten zwei Beamte an den daliegenden Grams heran. Der eine Beamte bückte sich und schoß aus unmittelbarer Nähe mehrmals auf den Grams. Dabei sah der schon wie tot aus. Der Mann zielte auf den Kopf und schoß, aus nächster Nähe, wenige Zentimeter vom Kopf des Grams entfernt.“ 

Wer die Aussagen von Baron, die des Anrufers bei Jelpke und die des Anonymus von Leyendecker nebeneinanderlegt, der sieht, dass sie sich weitgehend decken – in der Kernbehauptung, nämlich der Exekution, und in einem zweiten Punkt: Sie widersprechen der objektiven Ermittlungslage. Die Aussagen Barons und des Anonymus enthalten sogar völlig absurde Schilderungen von Vorgängen, die sich so nicht abgespielt haben konnten. 

Trotzdem schien es in diesen Julitagen 1993 so zu sein, dass es eine Zeugin und mindestens einen Zeugen für den finalen Todesschuss gab. Und noch jemand legte sich fest: die RAF in einer Erklärung. „Jetzt ist Wolfgang tot, ermordet“, hieß es dort. 

Welche Rolle spielte nun die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke? In dem Spiegel-Aufklärungsdossier kommt sie nur einmal vor, in einer kurzen Passage, die den damaligen Spiegel-TV-Chef Stefan Aust zitiert. 

Dort kommt Aust noch einmal mit seinem Urteil von 1993 über Leyendeckers Geschichte zu Wort: „Das glaube ich nicht.“ Weiter heißt es:  „Ihn habe vor allem irritiert, dass die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, damals parteiloses Mitglied der parlamentarischen Gruppe der PDS (heute: Die Linke), einen inhaltlich ähnlichen Anruf bekommen hatte“ (wie Leyendecker). „Aust habe damals vermutet, dieser Anrufer müsse ein Ostdeutscher gewesen sein, denn ein GSG-9-Mann wende sich nicht an die PDS. Dass aber derselbe Ostdeutsche auch den Spiegel kontaktiert, habe Aust für unwahrscheinlich gehalten.“

Aus der Überlegung spricht allerdings nicht der gewohnte Scharfsinn von Aust. Denn mit Ostdeutschland hatte Jelpke nur wenig zu tun. Sie saß von 1981 bis 1989 für die Grün-Alternative Liste (GAL) in der Hamburger Bürgerschaft. Bis 1993 machte sie eine Ausbildung  zur Diplomsoziologin und Volkswirtin in Hamburg. Jelpke unterhielt schon damals enge Kontakte zu dem Verein „Rote Hilfe“ mit Sitz in Göttingen, der auch einsitzende RAF-Mitglieder unterstützte. Sie schrieb beispielsweise das Vorwort zu dem 1993 von der Roten Hilfe herausgegebenen Buch: „Stammheim – Der Prozess gegen die Rote Armee Fraktion: Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung“. Zumindest in späteren Jahren fungierte die Politikerin auch als eine Art Verbindungsfrau zum Milieu früherer Stasi-Offiziere vor allem der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), der Auslandsspionageabteilung des MfS. Zu dem jährlichen Treffen der HVA-Veteranen in Strausberg 2010 schickte sie ein herzliches Grußwort.

Ich fragte Jelpke, ob und mit welchen Medienvertretern sie 1993 über den Anruf des vorgeblichen Zeugen gesprochen hatte, der sich damals bei ihr meldete und die Geschichte von der Grams-Exekution erzählte. 

Sie antwortete: 

„Sehr geehrter Herr Wendt,

nach sorgfältiger Überlegung habe ich mich entschieden, aus Gründen des Quellenschutzes grundsätzlich keine Angaben darüber zu machen, mit welchen Journalisten ich damals im Einzelnen in Kontakt stand oder wem ich Informationen gegeben habe. Ich hoffe um Ihr diesbezügliches Verständnis,

mit freundlichen Grüßen,
Ulla Jelpke“

Damit deutet sie zumindest an, dass sie in der Sache mit Journalisten in Kontakt stand. 

Auf meine Frage nach einem eventuellen Kontakt zu Jelpke sagte Leyendecker: „Ich habe auch gehört, dass sie damals einen solchen Anruf bekommen hatte.“ Aber er habe dazu nie Kontakt mit der Politikerin gehabt: „In meiner Welt spielte das keine Rolle.“ Allerdings müsste – sollte es doch eine Verbindung geben – sie nicht unbedingt von Jelpke persönlich geknüpft worden sein. 

Es gibt auch nach heutigem Kenntnisstand nur eine einzige namentlich bekannte Person, die Aussagen zu eine angeblichen Hinrichtung von Grams machte: Johanna Baron, die, siehe oben, damals auf dem Bahnhof von Bad Kleinen einen Kiosk zwischen Gleis 3 und 4 betrieb, und angab, die habe die Exekution am 27. Juni 1993 beobachtet. Berühmt wurde Baron durch den Bericht des Magazins Monitor, das damals eine angebliche „eidesstattliche Erklärung“ Barons präsentierte, sie hab den Mord an Grams beobachtet. Es handelte sich nicht um eine eidesstattliche Erklärung im juristischen Sinn, sondern um einen Text, den Monitor-Mitarbeiter Philip Siegel damals tippte und von Baron gegen eine Geldzahlung unterschreiben ließ. Der Anwalt und Journalist Butz Peters, der später über die Affäre Bad Kleinen das Buch  „Der letzte Mythos der RAF – das Desaster von Bad Kleinen“ schrieb, nennt den Betrag von 250 Mark. In der von Baron unterzeichneten Monitor-Erklärung war auch von einem „Kopfschuss“ auf Grams die Rede; Baron bestritt später, diese Formulierung gebraucht zu haben. 

Allerdings gibt es ein wichtiges Detail: Johanna Baron hatte das, was sie Monitor erklärt haben sollte und später noch bei einer Gerichtsverhandlung wiederholte, schon am Abend des 27. Juni 1993 gegenüber der Polizei ausgesagt, also am Tag der Operation „Weinlese“. Sie schilderte, dass zwei Männer über dem reglos auf dem Gleis 4 liegenden Grams gestanden hätten, einer habe ihm in den Oberkörper geschossen, einer in den Bereich der Beine. Ein Gutachten der Stadtpolizei Zürich widerlegte später diese Behauptung: alle Schüsse, so die Schweizer Kriminaltechniker, hatten Grams aus einer Entfernung von mehr als 1,5 Metern getroffen. Nur einer nicht: ein aufgesetzter Schuss aus seiner eigenen Waffe oberhalb seiner rechte Schläfe. 

Der Beamte, der an der behördlichen Untersuchung der Operation von Bad Kleinen beteiligt war, sagte im Gespräch mit mir, Baron habe den Rollladen ihres Kioskfensters heruntergelassen und sich im Inneren ihrer Verkaufsbude versteckt. Das sagte sie auch mehrmals aus – allerdings habe sie die Jalousie erst nach dem letzten Schuss heruntergelassen und sich dann verkrochen. Dem Beamten zufolge sei Baron nicht nüchtern gewesen: „Die hatte ziemlich einen im Tee.“ Aus einer anderen Quelle ergibt sich, dass sie bei der Vernehmung  nach der Schießerei so verwirrt war, dass sie ihre eigene Adresse nicht angeben konnte. 

In allen späteren Schriften aus dem linksradikalen Milieu, die die Mordthese aufrechterhalten, stützen alle vermeintlichen Zeugen einander. Immer heißt es, es gebe nicht nur die Zeugin Baron, sondern eben auch den Zeugen des Spiegel und den Anrufer bei Jelpke. 

Die vermeintlichen Zeugen stützen einander

In dem Telefon-Transkript des Anonymus, der Leyendecker anrief, und auf den die gesamte Geschichte dann aufbaute, gibt es bemerkenswerter gerade nichts, was „nur er wissen konnte“, wie Leyendecker es damals am 3. Juli in den Tagesthemen behauptet hatte, gerade kein exklusives Zeugenwissen. Sondern im Gegenteil die falsche und damals in etlichen Medien verbreitete Behauptung, Hogefeld habe geschossen. Nebeneinandergelegt existiert also erstens eine Aussage der Kioskbesitzerin Baron, die sie später mehrmals änderte, und die objektiv eine Unwahrheit enthielt (Nahschüsse in den Unterkörper von Grams). 

Zweitens eine Aussage eines Anonymus gegenüber Leyendecker, die wiederum nachweislich falsche Angaben enthielt. 

Und drittens einen Anruf eines anonymen Zeugen bei Ulla Jelpke, über dessen Details und die Folgen die Politikerin bis heute nichts sagen möchte. 

Alles spielt sich in einem engen Zeitrahmen ab: Die Nachricht von der Hinrichtungs-Zeugin Baron verbreitet Monitor am 1. Juli 1993. Fast zeitgleich geht in Düsseldorf bei Leyendecker der Anruf des anonymen Mannes ein. Ulla Jelpke gibt an, der Anruf bei ihr in der Fraktion sei am 2. Juli eingegangen, also danach. Allerdings existiert für dieses Datum bisher nur eine Quelle, nämlich Jelpke selbst. 

Die Spiegel-Untersuchung von 2019 und 2020 fügt einen wichtigen Baustein ins Bild durch die Schlussfolgerung, nichts spreche dafür, dass Leyendecker tatsächlich den Zeugen getroffen und seine Identität als Sicherheitsbeamter geprüft habe. 

Eine These würde widerspruchsfrei in diese Sachlage passen: Wenn jemand schon früh über die Aussage Bescheid wusste, die Baron am Abend des 27. Juni gegenüber der Polizei machte, egal auf welchem Weg, dann musste er nur anonym eine ähnliche und mit Zeitungsnachrichten angereicherte Geschichte an zwei einflussreiche Multiplikatoren weiterreichen und abwarten.  Es würde exakt in das Schema passen, das man im Sicherheits- und Geheimdienstjargon „Anknüpfungstatsache“ nennt: Die Verbindung von etwas Nachprüfbarem – das Aussageprotokoll  Barons existierte schließlich – mit einer erfundenen Geschichte. 

Die Spiegel-Geschichte und die Folgen

Wie konnte eine Story, die ja selbst aus Sicht anderer Spiegel-Redakteure auf so schwachen Beinen stand, politisch eine derartige Wucht entfalten? Um das zu verstehen, hilft eine Rückblende. „Die Operation „Weinlese“, sagt der später an der Auswertung beteiligte Beamte, „war eine der am besten vorbereiteten in der Geschichte des BKA. Und in kaum einer Operation ist so viel schiefgegangen.“ Ursprünglich sei nur vorgesehen gewesen, Hogefeld zu verhaften. Es habe sich erst sehr kurzfristig ergeben, dass neben Hogefeld und dem V-Mann Klaus Steinmetz eine dritte Person auf der Szene erschien: Wolfgang Grams. Die Überwältigung der bewaffneten Hogefeld stellte auch kein Problem dar. Aber die Festnahme von Grams.

„Die Polizisten“, so der Beamte, „waren von seinem massiven Feuer überrascht.“ Grams schaffte es innerhalb von wenigen Sekunden, zehn bis 11  Schüsse abzugeben. Seine Trefferquote lag höher als die der GSG-9-Leute. Außerdem kam ein wichtiger Funkspruch zum Zugriff nur verstümmelt an und verdarb die Koordination. Dazu kam der Fehler, dass Grams später die Hand gewaschen worden war, um ihn Anhand von Fingerabdrücken sicher zu identifizieren. Damit wurde die Schmauchspur an der Schusshand beseitigt. Der GSG-9-Beamte, der auf dem Stellwerksturm des Bahnhofs eigentlich die gesamte Szene im Blick hatte, schaute in dem Moment, als Grams auf dem Gleis lag, kurz in eine andere Richtung. „Ich weiß, das glaubt mir keiner“, gibt der Beamte aus der späteren Untersuchung den Mann auf dem Stellwerk wieder, „aber es war so.“ Das BKA musste also einen desaströsen Einsatz rechtfertigen.

Dann hieß es von Gerichtsmedizinern zunächst, die Waffe, mit der Grams den tödlichen Kopfschuss erhalten habe, sei weder seine eigene noch die offizielle Pistole eines GSG 9-Beamten gewesen, es liefen Gerüchte von einer geheimen Waffe durch die Medien – was perfekt zu der Mordtheorie passte. Die Annahme einer unbekannten Waffe erwies sich später als falsch – aber erzeugte in der laufenden Woche einen gewaltigen öffentlichen Druck, zusammen mit der Monitor/Baron-Aussage und der Vorabmeldung des Spiegel. Innenminister Rudolf Seiters fragte seine Experten, wie lange es bis zur Fertigstellung eines ballistischen Gutachtens dauern könnte, und bekam die Antwort: möglicherweise Wochen. „In dieser Situation war mir klar, dass nur der Rücktritt blieb, um auch nicht den Anschein zu erwecken, der Innenminister könnte die Untersuchung beeinflussen“, sagte Seiters später. 

Sein Rücktritt wiederum schien die Substanz der gesamten Geschichte selbst für Zweifler zu bestätigen, ebenso wie die Entlassung von Generalbundesanwalt von Stahl. 

Sollte es sich damals um eine gezielte Desinformationskampagne gehandelt haben, dann kostete sie jedenfalls einen minimalen Aufwand – zwei Anrufe von einer Person (oder mehreren) mit einem kleinen Wissensvorsprung. Wobei eigentlich noch nicht einmal der wirklich nötig war: Am 1. Juli meldete Monitor auch schon die vorgebliche eidesstattliche Erklärung Barons über die Grams-Exekution.

Offen bleibt also bis heute die Frage nach der Identität der Anrufer bei Leyendecker und Jelpke. Offen bleibt, wer Leyendecker den Anrufer vermittelt hatte, nach dessen Namen der Reporter kein einziges Mal fragte. 

Es spricht nichts dafür, dass ein GSG-9-Mann Grams hinrichtete. Vor allem kein Motiv. Der RAF-Terrorist war mit mehreren Schusswunden fluchtunfähig, ihn hätte allein wegen des Mordes an Newrzella lebenslange Haft erwartet. Ein Motiv für Suizid hatte Grams. Erstens, um einer lebenslänglichen Strafe zu entgehen. Und zweitens, weil sich die vermeintlichen Märtyrertode von Stammheim und der Hungertod von Wolfgang Meins als wichtiger für die Unterstützung der Szene erwiesen hatten als die Anschläge. Ein finaler Schuss passte also ins Konzept der RAF. 

In der Süddeutschen, seinem früheren Blatt, greift Leyendecker die Spiegel-Recherche zu der damaligen Titelgeschichte heftig an. Ein Artikel dort zitiert ihn mit dem Vorwurf, es sei ungeheuerlich, dass die Rechercheure ihn gefragt hatten, ob er Kontakt zu seiner damaligen Quelle herstellen könnte: „Dass der ‚Spiegel‘ den Quellenschutz im Grunde nicht respektiert, ist für jemanden, der fast zwanzig Jahre für dieses wichtige Blatt gearbeitet hat, nicht nachzuvollziehen. Die Frage der Kommission, ob ich einen Kontakt zu der damaligen Quelle herstellen könne, war eine Bankrotterklärung der heutigen ‚Spiegel‘-Macher.“  

Ein Kontakt müsste allerdings noch nicht einmal die Anonymität der Quelle zerstören – wenn sie denn existiert. Ein Geheimnisverrat (wenn es ihn denn gab) wäre auch längst verjährt. Die Spiegel-Rechercheure mussten Leyendecker diese Frage zwangläufig stellen, wenn sie aufklären wollten. Die Frage ist also weder ungeheuerlich noch eine Bankrotterklärung – sondern ein handwerklich notwendiges Nachfassen. Leyendecker als langjähriger Rechercheur müsste das eigentlich wissen. 

In dem Gespräch mit mir meinte Leyendecker am Schluss, er verstehe nicht, was der Aufklärungsversuch des Spiegel eigentlich solle: „Am Ende kann nur ich es beurteilen.“

Er bleibt Zeuge in eigener Sache. Der einzige. 

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