Als ich ihn 1968 in seinem Bundeshausbüro zum ersten Mal traf, gab mir ein hochgewachsener Mann die Tür in die Hand, den ich nicht kannte. Das ist der Helmut Kohl, sagte Genscher, damals Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, der wird Bundeskanzler. Die, die etwas werden, riechen es einander an. Dabei hatte Genscher lange nicht die Aura des Zukünftigen, sondern des Windigen an sich.
Die zweifache Wende der FDP erst hin zur SPD und dann weg davon ist mit seinem Namen verbunden. Die Logik von Koalitionen ist nicht beliebt in Deutschland, das geprägt ist von Luthers kompromisslosem „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Genscher konnte bei Bedarf immer anders, aber Politik ist oft genug die Not, etwas einsehen zu müssen in der Notwendigkeit einer „Lage, die ist, wie sie ist. Eine andere haben wir nicht“. Dieses Zitat stammt vom großen Zyniker der Nachkriegsgeschichte Konrad Adenauer, in dessen letzten Jahren als Bundeskanzler Genscher Bundesgeschäftsführer nach Karl-Hermann Flach wurde, der aus Protest gegen den Umfall der FDP (Erich Mende: mit der CDU, aber ohne Adenauer) zurücktrat.
1969 wurde erstmal Willy Brandt Kanzler in der ersten sozial-liberalen Koalition, die nicht Genschers Favorit war. Als Innenminister ließ er die Umweltpolitik erfinden. Seine Rechnung, damit neue Wählerschichten für die FDP zu erschließen, ging nicht auf. Außenminister wurde er, als Walter Scheel einsam beschloß, Bundespräsident zu werden. Seitdem „muss“ der FDP-Vorsitzende in der Regierung Außenminister sein.
Von 1974 bis 1985 saßen wir jeden Montag früh im Präsidium der FDP zusammen. Seine Palette reichte von liebenswürdig über verschmitzt humorig bis wütend. Ungeduldig war er immer, warum waren andere nicht so schnell wie er? Das sah er gar nicht ein. Alle, die für ihn arbeiteten, haben es erlebt. Den einzigen Fehler auf 30 Seiten schlug er mit magischem Finger auf, wenn er das Papier in die Hand nahm.
Er hatte den Laden FDP immer fest im Griff. Nur beim Koalitionswechsel zur Union mit Kanzler Kohl 1982/1983 ging ihm das damit an persönlichen Erlebnissen verbundene sehr an die Nieren. Danach war er schnell wieder der Alte. Mit Brandt war das eine Verstandessache, bei Kohl stimmte das mit der Freundschaft.
Genscher hat nur richtig gekannt, wer ihn mit seiner Mutter erlebte. „Omi“ war sein Mikrozensus. Konnte man Omi etwas Neues, Gewagtes „verkaufen“, nahm es „Dieter“ auch. Selbst als vielreisender Außenminister: So oft es ging, hat er seine Mutter im Rollstuhl durch die Stadt gefahren, so viel Zeit war immer nach den Reisen zu den Mächtigen der Welt. Mit der Ostpolitik freundete er sich erst im Außenamt 1974 an. Dass Kohl ihn 1989 vor seiner Rede an der Wende zur deutschen Wiedervereinigung nicht beteiligte, wurmte ihn lange. Beim gemeinsamen Besuch bei Gorbatschow legte sich das langsam wieder.
Es war die Zeit des folgenden Witzes: „Genschers Maschine stieß in der Luft mit derjenigen zusammen, in der er bereits auf dem Rückweg war“. Pendeldiplomatie war das Gebot einer Zeit, in der der große Ost-West-Gegensatz aufbrach und Außenpolitik an „working funerals“ stattfand, den Arbeitsbegräbnissen der großen Nachkriegsheroen, wo eine neue Ära Gestalt annahm: Mao 1976, Tito 1980, Breschnew 1982.
Auf dem Balkon der Botschaft in Prag wurde er zum Volkshelden, als er 17.000 Landsleuten ihre Ausreise nach West-Deutschland mitteilen durfte. Deren Fahrt im geschlossenen Zug quer durch die DDR wurde wahr genommen als das, was es war: Das Unvermeidliche der deutsch-deutschen Einigung. Daran hat er Anteil. Noch vor drei Jahren, wenn er, schon gehbehindert, im Golfcart zum Abflug-Gate im Frankfurter Flughafen gefahren wurde, standen die Menschen spontan Spalier und applaudierten. Er hat es genossen wie eine späte Genugtuung für die Verletzungen der innenpolitischen Auseinandersetzungen für seine Wende-Politiken.
Warum er nach 18 Jahren Außenminister (1974 bis 1992) wirklich aufhörte, bleibt wohl späteren Historikern vorbehalten. Material findet sich in den Archiven zweier großer Hamburger Magazine, wenn die ihr Archiv mit Vermutungen über die Dateien der Stasi nicht schon zu Gunsten von Google verbrannt haben. An Genschers politischen Leistungen ändert keine Antwort etwas. Der FDP hätte es gut getan, er hätte tatsächlich aufgehört, auch hinter den Kulissen. Aber wir sind alle Menschen. Ich denke gern an meine lange Zeit mit Hans-Dietrich Genscher.
Fritz Goergen war von 1974 bis 1983 beim FDP-Bundesvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher tätig, zuerst als stellvertretender und dann Bundesgeschäftsführer.