Tichys Einblick
Im Zweifel gegen die Freiheit

Friedrich-Naumann-Stiftung: erst übers Canceln debattieren, dann selbst canceln

Die FDP-nahe Stiftung unterstellt dem Publizisten Gunnar Kaiser "rechtspopulistisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut". Der hatte kurz zuvor noch für ebenjene Stiftung eine Debatte über Cancel Culture moderiert. Was ihm konkret vorgeworfen wird, erfährt man dort auch auf Nachfrage nicht.

shutterstock/Zenza Flarini

In der Ära der „Cancel Culture“ kommt es zwar öfters vor, dass sich eine Organisation von einem meinungsstarken Medienakteur distanziert. Aber der jüngste Fall ragt heraus: Denn auf das Reden über die „Cancel Culture“ folgte unmittelbar die Praxis, einem missliebigen Protagonisten auf Druck zu einem Unberührbaren zu erklären. Ein FAZ-Redakteur fasst den Vorgang auf Twitter zusammen: »„Eine liberale, parteinahe Stiftung lädt einen Moderator für eine Diskussion über #CancelCulture ein. Kommt nachher Mini-Protest, sofort knickt die Stiftung ein, diffamiert Moderator öffentl. und „cancelt“ ihn für die Zukunft.“«

Um wen und was geht es? Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, die sich mit dem Untertitel „Für die Freiheit“ schmückt, hatte vor wenigen Tagen mit der Mannheimer Abendakademie eine Video-Diskussionsveranstaltung über „Intoleranz, offene Debattenkultur und Cancel Culture“ ausgerichtet mit dem Titel „Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland im Jahre 2020?“. Zu Gast war unter anderem Bundestagsvizepräsident und FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki. Als Moderator hatte man den YouTuber Gunnar Kaiser verpflichtet.

Im Hauptberuf ist Kaiser Lehrer. Aber seit einigen Jahren betreibt er den YouTube-Channel „Kaiser-TV“ mit ansehnlichen Zuschauerzahlen (rund 110 000 Abonnenten). Dort denkt er selbst über philosophische Fragen nach („Warum erkenne ich die Welt nicht so wie andere Leute?“), stellt kanonische Denker von Nietzsche über Arendt bis Rawls und Romane von Hermann Hesse vor. Und er spricht mit Buchautoren und anderen Personen des Zeitgeschehens über ihre jeweiligen Bücher. Über seinen You-Tube-Abonnentenkreis hinaus bekannt wurde der Publizist, als er zusammen mit dem Schweizer Publizisten Milosz Matuschek die Initiative Intellectual Deep Web Europe „IDW-Europe„, gründete, eine Plattform, die mit dem „Appell für freie Debattenräume“ startete. Den Appell gegen Cancel Culture unterschrieben rund 20000 Menschen, vor allem Autoren, Künstler und Journalisten in Deutschland, der Schweiz und Österreich; das Spektrum der Unterstützer reicht vom Historiker Götz Aly bis zum Journalisten Günter Wallraff. 

Irgendetwas muss Kaiser wohl im Rahmen seiner YouTube-Auftritte und -Interviews oder auf IDW Europe getan haben, was ihn offenbar erst für seine Moderatorenrolle bei der Naumann-Stiftung und dann zum Ausschluss in Abwesenheit aus der Debatte qualifizierte.

Was genau diese vermeintlichen Vergehen sind, bleibt bislang ebenso im Unklaren wie die Identität der Person, die die Anklage an die Naumann-Stiftung und die Twitter-Öffentlichkeit herantrug. Es genügt da ein denunziatorischer Twitter-Satz mit dreifach schiefem Wort-Bild als Pauschal-Vorwurf: „Kaiser ist quer abgebogen und nach rechts so weit offen, dass man einen Flugzeugträger darin parken könnte.“

Screenprint via Twitter

Die Stiftung antwortete prompt. “Danke für den Hinweis, wir nehmen das ernst und prüfen es!“ Das war am Freitag. Am Montag dann: „Wir haben die Person Gunnar Kaiser aus gegebenem Anlass sehr intensiv überprüft und müssen zur Kenntnis nehmen, dass Herr Kaiser mit rechtspopulistischem und verschwörungstheoretischem Gedankengut arbeitet.“

Screenprint via Twitter

„Wir haben die Person überprüft“ – schon die Formulierung klingt weniger nach einer liberalen Stiftung als nach Ostblock-Geheimdienstakten.

Diese Behauptung „arbeitet mit Gedankengut“ ist ebenso vage wie unwiderlegbar. Mit „Gedankengut“ zu „arbeiten“ ist nun einmal der Kern jeder intellektuellen Arbeit. Wie man dieses Gedankengut bewertet, ob man es sich zu eigen macht – das ist eine ganz andere Frage.

Was genau das „sehr intensive“ Prüfen der „Person Gunnar Kaiser“ durch die Friedrich-Naumann-Stiftung zutage förderte, dass sie nun seine Auswahl als Moderator bereut, erfahren  die Leser des Tweets nicht. Die Pressestelle der Stiftung hat auf die Bitte um Aufklärung über diese konkreten Ergebnisse bisher nicht geantwortet. Sollte sie es noch tun, wird die Antwort an dieser Stelle nachgereicht. Gunnar Kaiser selbst wurde von der nachträglichen Überprüfung und der Absage für künftige Kooperationen durch die Stiftung nach eigener Aussage gegenüber TE nicht informiert. Er erhielt auch keine Gelegenheit zur Stellungnahme in eigener Sache. Auf seinem Telegram-Kanal machte sich Kaiser über die Stiftung lustig, die sich von Twitter-Trollen „wie eine Kuh am Nasenring durch die Manege“ ziehen lasse.

Also kann man nur mutmaßen, was jener anonyme Twitter-Angriff mit „nach rechts so weit offen, daß man einen Flugzeugträger darin parken könnte“ meint, und welches „Gedankengut“ die Naumann-Stiftung aus welchem Grund für nicht zulässig hält. Vielleicht genügt es, dass Kaiser nach mehreren Beiträgen, in denen er die „Identitäre Bewegung“ analysierte und scharf kritisierte („Die Zerstörung der Identitären Bewegung“ heißt ein Beitrag, „Die idiotäre Bewegung“ ein anderer), auch ein Gespräch mit deren österreichischem Kopf Martin Sellner publizierte. 

Solange sich die Friedrich-Naumann-Stiftung in Schweigen hüllt, bleibt das Motiv der Absage im Dunkeln. Wie schnell man in deren Augen als „rechtsradikal“ gelten kann, und welches „Gedankengut“ dort als „populistisch“ gilt, offenbart ein „Kommunikationsratgeber: Der richtige Umgang mit rechtsradikalen Parolen“, den die Stiftung 2017 herausgegeben hat. Da stand zum Beispiel ein Satz wie dieser über: „Typische Informationsquellen: Der Staatshasser liest Bücher – libertäre Standardwerke von Hayek bis Mises, aber auch modernere Werke von rechtslastigen Libertären wie Hoppe und Janich. „Der Streik“von Ayn Rand gilt als Pflichtlektüre.“ Nach Protesten fand sich der Satz in einer späteren Auflage nicht mehr.

Ebenso wenig erfahren wir, warum man dort einen Gastbeitrag der Schriftstellerin Nora Bossong mit dem Titel „Querdenken: Es gibt Grenzen der Toleranz“ offenbar für unproblematisch hält, obwohl Bossong das Bündnis „Unteilbar“ unterstützt, an dessen Demonstrationen sich auch linksradikale und linksextremistische Personen und Organisationen beteiligen – und das in der Vergangenheit bereits mit antisemitischen Ausfällen einiger Akteure in die Schlagzeilen geraten war. Nach weit links offen zu sein: Das scheint bei der Naumann-Stiftung keinen zu stören.

Die Twitter-Reaktionen auf die Aussagen der Naumann-Stiftung zu Kaiser waren jedenfalls weitgehend von Entsetzen und Ablehnung geprägt.

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