Tichys Einblick
Nachruf

Einer der letzten Gelehrten: zum Tod von Gunnar Heinsohn

Der Wissenschaftler zeigte keine Scheu vor großen Fragen – und unterwarf seine Antworten nie einer Agenda. Im Ausland erfuhr der Soziologe, Wirtschaftswissenschaftler und Historiker deutlich mehr Wertschätzung als daheim – wo ihm das Etikett „umstritten“ angeheftet wurde.

IMAGO/Star Media

Auf Gunnar Heinsohn traf ein heute veralteter Begriff ganz und gar zu, der des Gelehrten. Heinsohn, geboren 1943 in Gdingen, gestorben am 16. Februar 2023 in Danzig, gehörte zu den scharfsinnigsten deutschen Soziologen, beschränkte sich aber nie auf dieses ohnehin schon sehr weite Feld. Wie kaum ein anderer Zeitgenosse verknüpfte er Gesellschaftsforschung, Wirtschaftswissenschaften, Demografie und historische Studien. Als Wissenschaftler kombinierte er zwei Eigenschaften, die zusammen so ausgeprägt nur selten vorkommen: Neugier und Nüchternheit. Das Eifernde war ihm völlig fremd. Wer mit ihm sprach und Nachrichten austauschte, erlebte ihn als luziden, geduldig argumentierenden Bürger einer virtuellen und heute schon altmodischen Gelehrtenrepublik, der sich auf einen beneidenswerten Fundus an Wissen und Welterfahrung stützte.

Tichys Einblick trauert
Gunnar Heinsohn (1943–2023) verabschiedet sich in einem Brief von seinen Freunden
Mit seiner typischen Gelassenheit und dem vertrauten Gruß ‚Ihr Heinsohn‘ teilte er im Dezember 2022 Freunden, Bekannten und Kollegen mit, dass er an einer inoperablen Krankheit litt. Trotzdem arbeitete er noch an einem Vortrag zu einem Thema, das ihn in den letzten Jahren immer stärker beschäftigte: die auf Illusionen gebaute deutsche Migrationspolitik und der demografische Abstieg Westeuropas.

Als er nach seiner Emeritierung nach Danzig zog, kehrte er ganz in die Nähe seiner Geburtsstadt zurück, an die er keine Kindheitserinnerungen haben konnte: Seine Mutter floh 1944 mit ihm vor der vorrückenden sowjetischen Armee über Pommern und Schleswig-Holstein in die Nähe von Bonn. An der Freien Universität Berlin studierte Heinsohn Soziologie und promovierte 1974 summa cum laude über ein erziehungswissenschaftliches Thema. 1982 kam seine zweite Promotion in Wirtschaftswissenschaften dazu, auch mit dem höchsten Prädikat. Zwei Jahre später übernahm er den Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der Universität Bremen.

Die Daten seiner akademischen Laufbahn sagen noch nicht viel über den Wissenschaftler, seine Ideen und Bücher dafür umso mehr. Auf dem historisch-ökonomischen Gebiet entwarf er zusammen mit Otto Steiger eine Theorie zur Entstehung des Geldes, die das Zahlungsmittel anders als viele Historiker eng mit der Entstehung des Grundbesitzes verknüpfte, mit dem Eigentum als Sachwert, der verpfändet werden konnte (Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft. Eine sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike).

It's Cognitive Ability, Stupid
Die ungeschminkte Wahrheit von Gunnar Heinsohn: Die Guten bekommen die Besten
Heinsohn scheute in seiner Laufbahn nie vor grundsätzlichen Fragen zurück. Im Gegenteil, er suchte sie. Mit seinem 1995 erschienenen Buch „Warum Auschwitz?“ unternahm er den Versuch, die Motive des Völkermords an den Juden zu deuten. Nach seiner These – für die viele faktische Anhaltspunkte existieren – sah Hitler in den Juden ein Kollektiv, das ein ethisches Denken hervorgebracht und an das Christentum weitergegeben hatte. Die Shoa war demnach sein Versuch, ethische Kategorien buchstäblich auszurotten.

Als drittes großes Feld, auf dem er Fragen stellte, wählte er die Demografie, und das in zwei Richtungen: den Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Krieg, und die Verbindung von Demografie, Migration und Wohlstand. Mit einer Fülle von Belegen zeigte er, wie die Kriegs- und vor allem Bürgerkriegsneigung durch einen Überhang von jungen Männern in einer Gesellschaft wächst. Dafür prägte er die Begriffe „youth bulge“ und „Kriegsindex“; die Pazifierung der westlichen Gesellschaften deutet er vor allem demographiegetrieben, genauso wie die blutigen Konflikte vor allem in der islamischen und afrikanischen Welt. Die alternden westlichen Länder, so Heinsohns Mahnung in unzähligen Vorträgen und Texten, brauchen Einwanderung – allerdings durch qualifizierte und anpassungsfähige Migranten mit dem Willen und der Fähigkeit, zum allgemeinen Wohlstand beizutragen. Er kritisierte, dass die Länder vor allem Westeuropas sich mehr und mehr der Armutszuwanderung aus arabischen und afrikanischen Ländern öffneten und sich gleichzeitig immer weniger dafür interssierten, ihren eigenen hochqualifizierten Nachwuchs im Land zu halten.

Eine andere Einwanderungspolitik vonnöten
Wettkampf um die Klugen – wo steht Deutschland?
Vor allem die illusionsgelenkte deutsche Politik beschäftigte ihn. Als Grund für deren systematische Problemverdrängung sah er vor allem die Neigung, sich zum Weltretter zu stilisieren – als letztes Substrat eines Überlegenheitsdünkels. In einem seiner späten Interviews meinte Heinsohn mit seiner charakteristischen Nüchternheit: „Wenn man ohnehin absinkt, dann will man wenigstens unter ähnlich Betroffenen unter dem Banner von Weltenrettung und Spitzenhumanismus Sieger bleiben.“

Seine Beschäftigung mit Demografie und Gewalt führte ihn auch zur systematischen Erforschung von Genoziden; er gründete das Raphael-Lemkin-Institut für Xenophobie- und Genozidforschung und veröffentlichte 1998 das „Lexikon der Völkermorde“.

Eine Besonderheit schälte sich in seinem Leben als Forscher und Autor immer deutlicher heraus: Die Wertschätzung außerhalb Deutschlands übertraf die im eigenen Land bei weitem. Schon sein Beitrag zur Geldtheorie fand in der angelsächsischen Wissenschaftswelt ein größeres Echo als in der deutschen. Das Gleiche galt für seine Arbeiten zur Geschichte der Genozide und zur Mittelaltergeschichte. Der amerikanische Historiker John M. Riddle schrieb über den Kollegen: „Gunnar Heinsohn ist einer der seltenen Kollegen, die die Umarmung als ‚universeller und internationaler Gelehrter‘ verdienen, da sein Intellekt durch die Disziplinen schneidet, Thesen rekonzeptalisiert und wahrhaft originelle und herausfordernde Theorien vorschlägt.“

Der von Margaret Thatcher gegründete „New Directions“-Thinktank zeichnete Heinsohn 2016 mit dem „Liberty Award“ aus, auch in seiner zweiten Heimat Polen fand er eine große Wertschätzung. In Deutschland erhielt er spätestens durch seine Publikationen zur Migration den Stempel „umstritten“ – und nicht nur den. Ein Journalist nannte seine Thesen „menschenverachtend und biologistisch“; die Politologin Naika Forutan entdeckte in seiner Aussage, Migration sollte auch dem aufnehmenden Land nutzen, einen „entwürdigenden Utilitarismus“. Wer Heinsohn kannte, der wusste, dass er sich durch Stigmatisierungsversuche nicht beeindrucken ließ, sondern nur durch Argumente. Auf diesem Feld boten ihm seine moralisierungseifrigen Kritiker nichts.

Heinsohn ließ sich nicht ins traditionelle Rechts-Links-Schema einsortieren. Aber an seinem Beispiel zeigte sich vor allem in den letzten Jahren die Verschiebung der Medienöffentlichkeit. Seine Aufsätze und Interviews fanden sich anders als früher kaum noch in der ZEIT oder der FAZ – sondern vor allem in der Achse des Guten, Tichys Einblick und der NZZ.

Es sind vor allem die Fragen, die den Wissenschaftler machen. Seine Antworten ordnete er nie einer Agenda unter. Für ihn galt der Satz, der sich in der „Odyssee“ oft wiederholt: „Lügen wird er nicht, denn dafür ist er zu weise.“

Sein Werk „Söhne und Weltmacht“ bleibt. Es beschreibt den Zusammenhang von demographischer Entwicklung, Terror und Krieg und zeigt auf die derzeitigen und künftigen Konfliktherde. Eine Besprechung von Roland Tichy finden Sie hier. 


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